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Der rote Sonnenball hing tief am Horizonte. In den Schluchten des Gebirges dämmerten bereits blaue Schatten, während die waldbekrönten Hänge im warmen Abendschein erglühten. Das Laubholz prangte in dem bunten Schmuck des Herbstes; aber es kam seltener vor in diesem Teil der Berge, wo Schluchten ab, Schluchten auf, über die wellenförmigen Rücken der Hügel weg tiefdunkle Tannenwaldungen sich breiteten.
Auf der Landstraße, die rechts und links mit zwerghaften Obstbäumen besetzt, in vielfachen Windungen dem Kamm des Höhenzuges zustrebte, fuhr langsam einer jener altmodischen, breitsitzigen, mit Hemmschuh wohlversehenen und mit zwei starkknochigen, steifbeinigen Gäulen bespannten Wagen, wie man sie hier in den Städten mietet, wenn man eine mehrtägige Tour in das Gebirge machen will. Die Pferde lagen mit vornübergebeugten Köpfen fest im Geschirr und arbeiteten sich mühsam Schritt vor Schritt hinauf, denn der Weg war steil und der Wagen schwer, obgleich der Kutscher mit einem gelegentlichen: Hot, Brauner! Hü, Fuchs! den sinkenden Mut der Tiere anfeuernd, nebenher ging und die beiden Herren, die das Fuhrwerk seit einigen Tagen in Gebrauch gehabt hatten, schon am Fuß des Berges ausgestiegen waren und gemächlich ein paar hundert Schritt hinterdreinschlenderten.
Es waren ein Paar junge Männer, die nach ihrer Haltung und ihren Mienen offenbar der besten Klasse der Gesellschaft angehörten. Sie waren beide hochgewachsen und, wie es diesem Alter ziemt, schlank und elastisch; der eine, etwas kleinere, um dessen Mund und Wangen sich ein dichter, glänzend schwarzer Bart zog, wäre mit seinem feinen, geistreichen Gesicht dem ruhig prüfenden Auge von Männern wohl als der Bedeutendere erschienen, obgleich er nicht ganz so groß und bei weitem nicht so schön war wie sein Gefährte, der in den Städtchen und Dörfern, durch die sie kamen, die Blicke der schmucken Weiber und Mädchen ausschließlich auf sich zog.
Die beiden jungen Männer waren eine Zeitlang, durch die Breite des Weges, der hier, zur Verzweiflung der Pferde und Fußgänger mit kleinen Steinchen beschüttet war, getrennt, schweigend nebeneinander hergegangen; jetzt, nachdem sie die böse Stelle passiert, näherten sie sich wieder, und der mit dem dunklen Bart, die Hand zutraulich auf seines Begleiters Schulter legend, sagte in freundschaftlichem Ton: »Eh bien, Oswald! Weshalb so still?«
»Ich gebe die Frage zurück«, antwortete der andere, die schönen ernsten Augen auf den Gefährten wendend.
»Ich genieße mit vollen Zügen die Herrlichkeit dieser abendlichen Landschaft«, sagte Doktor Braun, »und der Genuß, wissen Sie, ist wortkarg, weil er vor lauter Genießen keine Zeit zum Sprechen hat. Aber sagen Sie selbst, ist es nicht wundervoll, dieses Thüringen? Ist es nicht wert, das Herz Deutschlands, also das Herz des Herzens dieses unseres Weltteils und somit der bewohnten Erde zu sein? Bleiben Sie einen Augenblick stehen; wir haben gerade hier einen Blick, der einzig sein würde, wenn er in diesen lieblichen Bergen nicht tausend und aber tausend seinesgleichen hätte. Da ist das Tal, aus dem wir heraufgestiegen sind; Sie können jetzt deutlich den mäandrischen Lauf des weidenbesetzten Baches durch die Wiesen unterscheiden. Da liegt das Dorf, ein schmutziges Nest in der Nähe und jetzt, – wie schön! – eingehüllt in seinen bunten Blättermantel und mit den blauen Rauchsäulen, die so gerade aus den Schornsteinen steigen und allmählich an der Wand des Berges zu einem blauen durchsichtigen Gewölk auseinanderwehen! Und nun diese prachtvollen, mit Tannen bestandenen Hügel! Wie sie sich in tiefen satten Farben hintereinander abheben! Und nun dieser Durchblick links auf die blauen Berge, über die wir heute morgen gekommen sind! Und über dem allen dieser einzig schöne Himmel, klar und tief und unergründlich wie eines geliebten Weibes Auge! Oh, es ist etwas Göttliches in diesen Linien und Lichtern! Sie sind wahrlich mehr als eine bloße Augenweide, als eine Studie für den Maler; sie enthalten einen Trost für uns und eine Mahnung. Ein Blick in das zauberische Antlitz der Mutter Natur lullt unser wildes Herz zur Ruhe, läßt uns die abenteuerlichen Fratzen unserer sogenannten Kultur vergessen, stimmt uns zurück auf den tiefen Grundton unseres Wesens und erweckt oder wiederbelebt in uns den Glauben, daß alles Wahre, Hohe und Schöne unendlich einfach ist und daß der Quell der Befriedigung für jeden fließt, der nur mit reinen Sinnen danach sucht.«
Oswald hatte, während Doktor Braun diese Worte lebhaft und eindringlich sprach, wie es seine Weise war, die Arme übereinandergeschlagen, mit trüben Blicken in die Ferne gesehen. Jetzt, als sein Begleiter aufgehört hatte zu sprechen, sagte er und es schwebte ein ironisches Lächeln um seinen Mund:
»Sind Sie dessen so gewiß? Und gesetzt, es wäre so, wie Sie sagen: Was kann der Unglückliche dafür, daß seine Sinne nicht rein sind, daß er mit Blindheit geschlagen ist und den Quell der Befriedigung nimmer findet? Noch heute abend werden wir einem solchen Unglücklichen gegenüberstehen. Öffnen Sie ihm die blinden Augen, reinigen Sie seine verstörten Sinne, und ich will Sie wie einen Gott verehren!«
Doktor Braun schien über diese Worte, die zuletzt in einem leidenschaftlichen und bittern Ton gesprochen wurden, betroffen. Er schwieg einige Augenblicke, während sie den Berg weiter hinaufschritten, dann sagte er:
»Ich glaubte, unsere lange Reise würde Sie ruhiger und heiterer gestimmt haben, Oswald. Ich beginne an meiner ärztlichen Kunst zu verzweifeln, jetzt, da ich sehe, daß die alten bösen Träume noch so mächtig in Ihnen sind wie zuvor. Sie schienen fast geheilt von der verderblichen Sucht, sich wie der Heinesche Jüngling an den Strand des Meeres zu setzen und die rauschenden Wogen nach den uralten qualvollen Rätseln des Lebens zu fragen, und nun?«
»Nun langweile ich Sie wieder mit den alten Jeremiaden? Nein, Franz, ich will Ihrer Seelenheilkunst keine Schande machen und mir Mühe geben, die Welt so schön und vernünftig zu finden wie Sie. Es war das nur eine Reminiszenz aus der Vergangenheit. Daß sie mir gerade jetzt kommt, jetzt, wo wir dem Ziele unserer Wallfahrt uns nähern, wo ich dem edlen unglücklichen Manne, den ich so unendlich verehre und liebe, dem ich so viel verdanke, nach einer so langen Zeit, wo sich für ihn und mich so viel, so viel verändert hat, wieder unter die Augen treten soll – ist das nicht so natürlich, so begreiflich! Ich bin treulich Ihrem Rat gefolgt, soweit ich es vermochte. Ich habe das Vergangene vergangen sein lassen; ich habe die Kunst des Vergessens fleißig geübt, ich habe der Lebenden nicht gedacht und selbst die Schemen geliebter Toten, wenn sie sich an mich drängten, in den Hades zurückgewiesen; aber hier erscheint die Gestalt eines Lebendigen, der gestorben ist, eines Gestorbenen, der noch lebt, und ich finde in meinem Hirn und Herzen keinen Zauberspruch, diese ehrfurchtgebietende, tränenwerte Gestalt zu meistern wie die anderen.«
»So lassen Sie uns umkehren«, sagte Dr. Braun mit großer Lebhaftigkeit. »Wenn Sie in sich nicht die Kraft fühlen, den Standpunkt, den Sie eingenommen haben, zu behaupten gegen jeden Einwurf, gegen jede Autorität, so wäre es Wahnsinn, sich in diese Gefahr zu stürzen. Lassen Sie uns umkehren; noch ist es Zeit.«
»Nein«, sagte Oswald, »das wäre feig und töricht zugleich. Wir besiegen die Gefahr nicht, vor der wir fliehen. Ich muß Berger sehen und sprechen. Diese Zusammenkunft wird die Probe zu dem Exempel sein, an dem wir jetzt nun schon vier Wochen rechnen. Entweder ich erhole mich an dem Anblick des Wahnsinnigen vollends von meinem eigenen Wahnsinn, oder –«
»Hier gibt es kein Oder!« rief Franz. »Wahrlich, Oswald, wenn ich Sie so reden höre, ich könnte Sie hungern lassen, dursten lassen, bis Sie wieder zur Vernunft kommen oder der Vernunft die Ehre geben. Sie sind ein rätselhafter Mensch, eine durch und durch problematische Natur. Es sind in Ihrem Charakter Widersprüche, zu denen ich selbst nach unserem intimen Verkehr noch immer nicht die Erklärung gefunden habe. Die Faktoren, aus deren Multiplikation der fertige Mensch als Produkt hervorgeht: Naturanlage und Erziehung müssen bei Ihnen in einer ganz sonderbaren, seltenen Weise gemischt gewesen sein. Ich habe es bisher immer vermieden, von Ihrer Jugendzeit zu sprechen, aus einer durch die Zurückhaltung, der Sie sich im intimen Umgange befleißigen, sehr erklärlichen Scheu. Aber meine Freundschaft zu Ihnen ist größer als diese Bedenken, die ja doch im Grunde sehr kleinlich sind. Wie wäre es, Oswald, wenn Sie mir, während die Sonne dort glorreich hinter den Bergen untergeht und unsere armen Pferde sich mühsam den Berg hinaufquälen, etwas aus Ihrem früheren Leben erzählten – so wenig oder so viel, wie es Ihnen passend erscheint. Wollen Sie?«
»Gern!« sagte Oswald. »Ich selbst habe in diesen Tagen oft an meine Jugend denken müssen. Wenn man, wie ich es jetzt tue, versucht, sich auf irgendeinem gegebenen Punkte seines Lebens zurechtzufinden, ist man genötigt, die Bahn bis zum Anfang zurückzumessen. Freilich sind Sie der erste und vielleicht der einzige Mensch, dem ich einen Blick in diese dunkeln Regionen meines Daseins gewähre und gewähren möchte.«
»Um desto aufmerksamer werde ich sein«, antwortete Doktor Braun.