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Fünfzigstes Kapitel

Albert Timm war nach dem heftigen Wortwechsel mit Oswald stehengeblieben und hatte dem Enteilenden mit einem so grellen Lachen, daß die Vorübergehenden ihn verwundert anschauten, nachgeblickt; dann war er in einer anderen Richtung davongeeilt, heftige Worte vor sich hinmurmelnd, mit den Zähnen knirschend und die Fäuste ballend. Albert Timm war wütend, und er hatte Ursache dazu. Seine Lage war eine verzweifelte. Die Schulden, die er in Sundin und anderswo hinterlassen hatte, drückten ihn nicht besonders; aber auch mit der geringen Barschaft, die er mit nach Berlin genommen, war er schon seit mehreren Tagen zu Ende, und wenn selbst das nicht so viel sagen wollte, so waren doch all die herrlichen Aussichten auf eine glänzende Zukunft, wie sie ihm seine lebhafte Phantasie vorgegaukelt hatte, zerstoben wie bunte Seifenblasen.

So hatte er, sich und die ganze Welt verfluchend, schon mehrere Straßen zurückgelegt und kam jetzt in Quartiere, wo die Revolution schon ihre Fahne erhoben hatte. Er freute sich dessen, nicht weil er irgendwelche Sympathien für die Sache des Volkes und der Freiheit gehabt hätte, sondern aus dem instinktiven Bewußtsein, daß er, der Abenteurer, der Heimatlose, in einer Zeit der Verwirrung und des Umsturzes zwar nichts verlieren, möglicherweise aber viel gewinnen könnte. Das gab ihm seine ganze Elastizität wieder; er schrie lustig Hurra mit der Menge, stimmte aus voller Kehle in den Ruf: »Zu den Waffen! Auf die Barrikaden!« ein und hatte ordentlich seine Freude daran, als der Lärm und Tumult, je weiter er nach dem »Dustern Keller« – dem Ziel seines Weges – kam, in rascher Steigerung wuchs. So gelangte er in diese Straße, gerade in dem Augenblicke, als auch Oswald und Berger von einer andern Seite dort eintrafen. Er bemerkte die beiden wohl, auch Herrn Schmenckel, der, halb Berger suchend, halb sich von dem Strome der Revolution treiben lassend, ebenfalls bis hierher gekommen war. Durchaus nicht gewillt, sich vor seinen beiden Feinden sehen zu lassen, drückte er sich auf die Seite und wollte eben in die Nebengasse hineinbiegen, als er sich von jemand am Rockschoß festgehalten fühlte. Als er sich umsah, erblickte er seinen Freund und Gönner, Ehren-Jeremias Gutherz.

»Nun, wie ist's abgelaufen?« fragte der geheime Polizist, der mittlerweile Timms Freundschaft sich erworben und in seine Intrigen vollkommen eingeweiht war.

»Alles vergebens!« erwiderte Timm ärgerlich, »Mühe und Arbeit umsonst, ganz umsonst! Ich könnte die beiden Schufte« – er deutete auf Oswald und Schmenckel – »in der Hölle braten lassen.«

»So, so!« sagte der Mann. »Das müßt Ihr mir in Ruhe erzählen. Kommt mit zu Rosalien; aber erst wollen wir doch noch hören, was der verrückte Professor dort zu sagen hat.«

»Kennt Ihr den?« fragte Timm.

»Still! Wir kennen ihn! – Belogenes Volk – Sehr gut! Zu den Waffen – Ausgezeichnet! Warte! Dich wollen wir kriegen! Und da kommt ja auch noch der lange pommersche Baron, der in den Volksversammlungen so aufrührerische Reden führt – Da haben wir ja das ganze Nest zusammen! Barrikaden bauen – Bravo! Hurra! Alle Mann an die Barrikaden. Hurra!« sagte der Polizist und schwenkte seinen Hut in vortrefflich gespielter Begeisterung. Dann griff er Timm beim Arm und sagte: »Nun wollen wir machen, daß wir wegkommen, sonst bauen uns die Kerle noch mit in die Barrikade hinein.«

Die beiden Spießgesellen drückten sich in die Nebengasse und verschwanden im«Dustern Keller«. Frau Rosalie Pape empfing sie mit ungewöhnlicher Herzlichkeit:

»Nun, ihr Schäfchen, kommt ihr mit vollem Beutel? Hat's gefleckt, he?«

»Ein andermal!« sagte der Geheime. »Jetzt schaff uns Bier, wir müssen bald weiter.«

»Ohne mir gesagt zu haben, wie's steht mit –«, sagte die Frau entrüstet und machte mit Daumen und Zeigefinger die Bewegung des Geldzählens.

Herr Timm zuckte statt der Antwort mit den Achseln und zog die beiden leeren Taschen seines Beinkleides heraus.

Frau Pape war eine cholerische Natur, und das Fehlschlagen so großer Hoffnungen erfüllte sie mit einer Entrüstung, die sich in einer Flut von Schimpfwörtern Luft machte.

In diesem Augenblick ertönten die Salven von dem Sturm auf die Barrikade. Und fast unmittelbar darauf erschallte großer Lärm vor den Kellerfenstern. Man begann die Barrikade zu bauen, die die Straße sperren sollte. Der geheime Polizist und Timm, die durch eines der Fenster verstohlen herausschauten, sahen Oswald, Berger, Schmenckel und andere Männer bei der Arbeit. Sie retirierten, gefolgt von der Wirtin, tiefer in den Keller hinein,

»Das sieht reizend aus!« sagte der Polizist. »Wir sind von allen Seiten eingeschlossen, und wenn sie uns hier finden, schlagen uns die Schufte womöglich tot.«

»So schlimm steht es noch nicht«, sagte das Weib, »ich will euch glücklich hinausbringen. Kommt mit mir!«

Sie führte die beiden aus dem letzten Zimmer durch eine Tür ein paar Stufen hinab in einen noch tieferen Keller, der als Vorratsraum diente. An der Mauer brannte ein Gasflämmchen. Das Weib drehte die Gasflamme höher.

»So«, sagte sie, »nun geht durch die Tür!« – sie deutete auf eine eiserne Tür der Wand gegenüber. »Ihr kommt dann auf einen langen schmalen Hof; auf dem haltet euch links; so kommt ihr durch das Haus von meinem Brauer auf die Straße. Adieu!«

»Ist sie immer offen?« fragte Timm, als er fand, daß die eiserne Tür nicht verschlossen war.

»Nur heute«, erwiderte Röschen, »wir müssen noch mehr Bier herein haben. Die Kerle sind ja wie die Schwämme.«

Als die beiden durch die eiserne Tür auf den Hof des Nachbarhauses, von diesem in das Haus und so schließlich oberhalb der Barrikade auf die Straße, die an diesem Teil schon von Militär besetzt war, gelangt waren, blieben sie stehen und blickten sich an. Ein und derselbe Gedanke schoß beiden durch den Kopf.

»Das wäre eine famose Mausefalle«, sagte Albert.

»Wenn Ihr dabei helfen wollt«, erwiderte der Geheime, »so habt Ihr bei dem Präsidenten gewonnenes Spiel. Wir brauchen solche Leute wie Ihr. Ich habe schon auf alle Fälle über Euch mit dem Alten gesprochen.«

»Und Rache an den verdammten Schuften hätten wir obendrein.«

»Die Sache ist freilich nicht ohne Gefahr«, meinte der andere,.

»Wer nicht wagt, nicht gewinnt«, sagte Timm, »der Gedanke, meine Freunde auf eine so angenehme Weise zu überraschen, ist zu spaßhaft. Wenn Ihr nicht von der Partie sein wollt, tu ich es allein.«

»Nun, denn, kommt«, sagte der Polizist, »wollen sehen, ob die Herren vom Militär darauf eingehen.«

Und die beiden schritten geradewegs auf den Oberst zu, der wütend über den hartnäckigen Widerstand der Barrikade in der Straße, die er zu nehmen kommandiert war, umgeben von seinen Offizieren, in einiger Entfernung hielt.

Als Frau Rosalie, nachdem sie ihren Freunden fortgeholfen, in das Schenklokal zurückgelangte, fand sie Herrn Schmenckel mit zehn oder zwölf andern Barrikadenmännern, die sich hier nach den Strapazen gütlich tun wollten. Es waren meistens alte Kunden des »Dustern Kellers«, dieselben haarbuschigen Gesellen, die schon so manche Nacht vorher hier die Köpfe zusammengesteckt und auf die »verrotteten Zustände, die schändliche Polizeiwirtschaft, die vertierte Soldateska« geschimpft hatten. Herr Schmenckel hatte immer in hohem Ansehen bei diesen Leuten gestanden; jetzt, wo man gesehen, daß er nicht bloß freimütig reden, sondern auch mutig handeln konnte, war er der gefeierte Held des Tages.

Unter diesen Umständen hielt Rosalie es für geratener, die Ausführung ihrer Rache lieber noch etwas aufzuschieben und die Bedienung der Barrikadenmänner dem hübschen Elischen zu überlassen, während sie selbst sich an das Kontor setzte.

Das hübsche Elischen wollte Herrn Schmenckel ganz besonders wohl. Sie hatte vorhin einen Teil des Gesprächs zwischen der Wirtin, Timm und Gutherz mit angehört, und es war ihr sehr verdächtig vorgekommen, daß sich die beiden durch die Hintertür entfernt. Elischen glaubte ihrem Liebling von dem Geschehenen Mitteilung machen zu müssen, und wäre es auch nur gewesen, um Herrn Schmenckel zu beweisen – was sie schon hundertmal behauptet –, daß Frau Rosalie eine falsche Katze sei. Schmenckel verkannte keinen Augenblick die Wichtigkeit von Elischens Mitteilungen. Wenn es im Keller eine Hintertür gab, durch die man in die Straße gelangen konnte, und Timm und Gutherz, dem Schmenckel gar nicht traute, diese Tür kannten, so war es jedenfalls sehr rätlich, nachzusehen – ob diese Tür auch wohl verschlossen sei.

Schmenckel ließ Elischen von seinem Schoß auf den Boden gleiten und erzählte den Männern am Tisch, was er soeben gehört. Alle waren seiner Meinung, daß unverzüglich eine Rekognoszierung nach dieser Seite vorgenommen werden müßte. In dem Augenblick, als die Männer ihre Waffen ergriffen und sich nach der Tür wandten, die in den von dem Mädchen bezeichneten Lagerkeller führte, wurde sie von der andern Seite aufgestoßen und ein Haufe Soldaten stürzte herein, zwischen ihnen Albert Timm und der Geheime.

Das so plötzliche Erscheinen der blanken Helme und Gewehre und die Schüsse, die die Soldaten, glücklicherweise ohne zu treffen, abfeuerten, erfüllten einige der Barrikadenmänner mit einem so panischen Schrecken, daß sie Hals über Kopf die Kellertreppe hinauf auf die Straße stürzten. Hier begegneten ihnen Berger und Oswald, die durch die Schüsse herbeigerufen waren, und nun Schmenckel zu Hilfe eilten, der bis jetzt ganz allein gegen die Übermacht kämpfte.

Schmenckel hatte einem der Soldaten das Gewehr, das jener soeben erfolglos auf ihn abgefeuert hatte, entrissen, und mit dem Kolben, und, als dieser abgesprungen war, mit dem eisernen Lauf so mächtig auf die Eingedrungenen losgeschlagen, daß bereits zwei oder drei kampfunfähig am Boden lagen und die andern in vollem Entsetzen zur Tür wieder hinausretirierten. Dort aber trafen sie auf ihre nachfolgenden Kameraden, und so entstand eine fürchterliche Verwirrung, die grauenhaft wurde, als Oswald, Berger, Schmenckel und die andern Männer, die sich von ihrer Überraschung erholt hatten, in den Lagerkeller drangen, der nun der Schauplatz eines überaus grimmigen Kampfes wurde.

Die Angreifer waren in diesem Augenblick vielleicht um die Hälfte stärker als ihre Gegner, und dazu waren sie viel besser bewaffnet, aber diese Vorteile wurden durch die ungestüme Tapferkeit Bergers und Oswalds und vor allem durch Schmenckels Riesenkraft reichlich aufgewogen. Der gewaltige Mann schwang unermüdlich seine fürchterliche Waffe, und kein Streich fiel vergeblich auf die Köpfe der unglücklichen Soldaten. So mähte er sich bis zu der Tür durch, die auf den Hof führte, und zu der jetzt einige der im Keller befindlichen, von Entsetzen erfaßten Soldaten hinauswollten, während immer neue von jener Seite nachdrangen. Und nun hatte er dies Ziel erreicht. Mit den unwiderstehlichen Händen ein paar der zwischen Tür und Angel Eingekeilten am Genick packend und sie in den Keller hinreißend, schlug er die schwere eiserne Tür zu, schob den gewaltigen Riegel davor, lehnte sich mit seinem breiten Rücken dagegen und rief, während er seinen Flintenlauf im Wirbel schwang:

»Nun haben wir sie beisammen, Professor! Hinaus und herein kommt keiner mehr. Dafür lassen S' nur den Kaspar sorgen.«

Das Grausige dieser entsetzlichen Szene, wo in einem engen, dumpfigen, kaum erhellten, unterirdischen Raume Menschen wie wilde Tiere gegeneinander wüteten, hatte jetzt seinen höchsten Grad erreicht. Die Angreifer wehrten sich wie Verzweifelte; aber da ihnen die donnernden Kolbenstöße ihrer Kameraden gegen die eiserne Tür keine Hilfe gewährten, so war der endliche Ausgang des Kampfes nicht zweifelhaft. Doch hätte das Gemetzel noch lange dauern können, wenn jetzt nicht Oldenburg mit einem Teil seiner Mannschaft von der Barrikade in dem Keller erschienen wäre und gedroht hätte, jeden Soldaten, der nicht sofort die Waffen strecken würde, augenblicklich über die Klinge sprangen zu lassen. Die Soldaten, die keine Aussicht auf Rettung mehr hatten, ergaben sich und stiegen einer nach dem andern aus dem tieferen Keller in das Lokal, wo sie sofort entwaffnet wurden. Die armen Menschen gewährten einen jämmerlichen Anblick. Es war kaum einer unter ihnen, der nicht mehrere Wunden davongetragen hätte. Ihre schmucken Uniformen zerfetzt, atemlos, bleich vor Schrecken und Ermattung, mit Staub und Schmutz und Blut besudelt – so standen sie da –, umringt von den Barrikadenmännern, unter denen ebenfalls keiner war, der nicht ähnliche Spuren des Kampfes an sich getragen hätte. Aber noch barg der Keller Fürchterlicheres. Als man mehr Licht herbeigeschafft hatte, entdeckte man, daß zwei Körper regungslos in dem Blute lagen, ein Soldat und ein Zivilist. Der Soldat hatte sich auf seiner wilden Flucht das Bajonett seines eigenen Gewehrs durch die Brust gerannt und war wohl augenblicklich tot gewesen; dem Zivilisten hatte ein fürchterlicher Hieb den Schädel zerschmettert; er röchelte noch, als man ihn die Treppe hinauftrug, verschied aber nach wenigen Augenblicken. Man glaubte anfangs, es sei einer der Barrikadenmänner, aber es kannte ihn niemand. Auch Oswald trat an den Tisch, auf dem der Tote lag, und als er einen Augenblick prüfend in das entstellte Antlitz geschaut hatte, sah er zu seinem Entsetzen, daß die starre blutende Masse niemand anders war als der König aller lustigen Gesellen, der unerschöpfliche Spaßvogel und Lustigmacher – sein buon compagno so mancher durchschwärmten Nacht, derselbe Mann, von dem er sich vor wenigen Stunden in Hader und Streit getrennt hatte – Albert Timm.


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