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Dem Gedächtnis Willi Schmids
(1935)
Es ist nicht richtig, von »Lyrik« zu reden, wie man vom Drama oder Epos spricht. Das sind, heute wenigstens, Formen des Vortrags. Es hätte sich innerlich nichts geändert, wenn Ibsen seinen »Brand« in der ursprünglichen epischen Gestalt fortgesetzt hätte, statt ihn als Drama auszuarbeiten. Aber es gibt sehr viele Arten des lyrischen Ausdrucks, darunter solche in Prosa, die man selten oder nie als Lyrik zu begreifen pflegt, wie zahlreiche Aphorismen von Nietzsche. Es gibt Arten, die Sprache bewußt als Kunstmittel und das Kurzgedicht als Kunstwerk zu behandeln. Das früheste Beispiel in der abendländischen Dichtung ist Petrarka, und das Sonett ist eine der wichtigsten Formen bis auf Platen und die englischen Prärafaeliten herab geblieben. In deutscher Sprache ist der überhaupt erreichbare Gipfel Stefan George, der ganze Gedichtbücher als artistische Einheiten komponierte, unter sorgfältiger Auswahl der Versmaße, und das Einzelgedicht daraufhin mit bewußter Strenge entwarf.
Hier ist nichts dem Zufall des schöpferischen Augenblicks überlassen. Wie in einem florentiner Freskenzyklus ist jeder kleine Zug von Bedeutung für den Plan des Ganzen. Ob das geschieht, um die innere Fülle zu bändigen wie oft bei Goethe, oder um die sparsame Glut vor dem Andrang der Welt zu schützen, ist bei jedem dieser Dichter eine Frage für sich.
Aber daneben gab es von jeher eine unbekümmerte Lyrik des seelischen Ausdrucks, Urlaute des Augenblicks, Sprachnaivität statt Sprachkunst. Hier ist nicht der künstlerische Ehrgeiz des l'art pour l'art am Werke. Die Absicht fehlt. Der Mensch redet vor sich hin, ohne Sorge darum, ob ihn jemand hört und was er hört. So sind viele Volks- und Vagantenlieder entstanden, von Einzeldichtern, denen das Bewußtsein einer schöpferischen Leistung und des persönlichen Stils fehlte. Was an ihnen »künstlerisch« ist, ist ungewollte, unbewußte Bildung der Zeit und des Standes, nicht eine wählerische Kennerschaft der Ausdrucksmittel.
Seit dem 18. Jahrhundert ist diese Art, in Versen vor sich hin zu reden, literarisch geworden, vor allem in Deutschland und England. In Spanien, Italien und auch in Frankreich fehlt sie so gut wie ganz. Leopardi setzt sich in Szene. Verlaine war kein Franzose. Goethe ist auch hier das größte Beispiel.
Es ist der Unterschied einer rein nordischen Seele, die einsam ist und bleibt, und einer von südlichem Licht umgebenen, die stets ein fremdes, nahes Du – Götter oder Menschen – in der klaren Umwelt sieht und fühlt und nicht überall sich selbst wiederfindet. Dies nordische Alleinsein in der Welt wird ebenso oft mit Stolz erlebt wie als Qual empfunden, aber es führt hier für tiefe Menschen keine Brücke vom Ich zu einem Wir. Es ist Schicksal, und die eigene Stimme verhallt als Trotz oder Klage in einem unendlichen Raum. Das ist der wirkliche Gegensatz zwischen Protestantismus und Katholizismus als geschichtlichen Tatsachen, der sich nicht wegdenken läßt, der vor dem Christentum da war, insofern diese beiden Weltanschauungen – von allem Dogmatischen abgesehen – die Sehnsucht der einsamen und die Erfülltheit der geselligen Seele in sich schließen. Es ist der Gegensatz zweier Landschaften und des zugehörigen Menschen. Der wirkliche Protestant, ob er nun seinem theoretischen Bekenntnis nach Christ, Pantheist, Atheist oder sonst etwas ist oder zu sein glaubt – Luthers geglaubtes Bekenntnis war nicht dasselbe wie sein tiefstes Weltgefühl –, redet mit seinem Gott, den Sternen, der Ferne, der ganzen Welt wie mit sich selbst. Er »hat Gott im eignen Herzen«. Es ist nur ein Unterschied, ob er sein Ich – das Fünklein Meister Eckarts – als ruhende Mitte oder als schwachen und vergänglichen Ausdruck des Alls erlebt. Der katholische Mensch besitzt eine in sich selbständige Umgebung, ein fremdes Du oder Ihr, mit dem zusammen sein Ich erst die Welt bildet. Seine Dichtung ist in der tiefsten Tiefe dialogisch, nicht monologisch. Deutsche dieser »südlichen« Art sind selten. Eichendorff, obwohl dem Glauben nach Katholik, gehörte nicht dazu. Der Deutsche an Rhein und Donau steht in der Mitte zwischen Norden und Süden. Er hat wie die Landschaft von Bozen und Bingen beides in sich, zuweilen in schönem Ausgleich, öfter als nagendes Problem.
Es ist gar nicht notwendig, daß man das Bedürfnis des Alleinseins hat. Der eine ist einsam auch in Gesellschaft, die er sucht und findet, und gerade in ihr, »unter Larven die einzig fühlende Brust«. Der andre ist gern allein, in Wald und Gebirge, in seinem Zimmer, aber er erlebt auch dort den Kreis der Zugehörigen um sich; er weiß sich als Element eines Wir. Seine Monologe sind in Wahrheit Dialoge; bei jenem ist es umgekehrt.
Der Einsame wider Willen hat Hemmungen des Ausdrucks, Widerstände der Scham, der Abneigung gegen Hörer und Leser bis zum Haß, Hemmungen, die seit der Romantik beständig wachsen und bis zum Versagen der Sprachbeherrschung und zum Erlöschen der Fähigkeit des Sichmitteilens gehen. Das war das innerliche Verhängnis Kleists. Deshalb konnte er kein echtes Gedicht schreiben, sich in keinem Brief erschließen, nie wirklich lieben. Die Scham der Seele wächst in solchen Naturen bis zu einer Größe, die alle Beziehungen von Mensch zu Mensch vernichtet. Weshalb gibt es von Shakespeare trotz der Sonette – die künstlerisch »gemacht« sind – kein wirkliches Gedicht, keinen Brief, kein Wort aus einem Gespräch, nur hier und da in den Dramen Augenblicke des verzweifelten Aufschreiens, die heute noch kaum jemand kennt? Einem Cervantes oder Molière wäre das unverständlich gewesen. In der Musik des 19. Jahrhunderts ist das der Unterschied von Verdi und Wagner, von dem in den folgenden Aufsätzen zuweilen die Rede ist, in der Malerei der von Corot, dessen Landschaften nie Einsamkeit ausstrahlen, und Boecklin oder – zuweilen – van Gogh.
In der deutschen Dichtung umfaßt die Lebenszeit Goethes die Blüte dieser Art von geschriebener Lyrik. Mit Günther beginnt sie; Eichendorff steht schon am Ende einer stolzen dichten Reihe. Dann werden mit zunehmender Entseelung der Generationen die Menschen selten, welchen das Glück zuteil wird, Augenblicke einer vollkommenen Tiefe des Erlebens zu haben und sprachlich ausdrücken zu können – wie zuweilen Nietzsche, Wagner im Tristan, in anderer Art etwa C. F. Meyer. Das meiste ist von nun an gemacht ohne Not und Notwendigkeit, noch einmal gesagt, weil es von Früheren gesagt worden war, oder in falschen Tönen herausgeschrien, damit es wie ein neuer Klang wirke, flach und leer. Im 20. Jahrhundert ist der unterirdische Strom längst versiegt, dessen Welle einzelne Seelen zur Höhe reinen unwillkürlichen Gestaltens hob. Nur noch ganz selten hört man hier und da die leise Stimme eines Spätgeborenen, ohne Zusammenhang, ohne Wirkung, nur für wenige Ohren vernehmbar. So war etwa Peter Hille und ein paar andere, von denen die Öffentlichkeit nicht einmal den Namen kennt.
Ein bedeutendes Beispiel dieser letzten, verhallenden Art sind die folgenden Gedichte, schlicht und echt, deutsch und südlich-katholisch zugleich. Diese Seele ruht in ihrer Landschaft, in sich abgerundet, mit gleicher innerer Verwandtschaft Italien und die norddeutsche Ebene umfassend, nördliche und südliche Musik, Malerei und Architektur. Die großen unlösbaren Probleme drängen nicht herein, ängstigend und schwer auf dem Herzen lastend, sondern sie sind da, mit Selbstverständlichkeit in einer ausgeglichenen Welt, zu der sie gehören wie die lichten Wolken am Sommerhimmel, als Gefährten, deren Gegenwart das Leben im Vorübergehen verehrend fühlt.
Und das gilt auch von den Briefen. Mindestens seit dem 18. Jahrhundert sind Brief und Gedicht verwandte Arten des seelischen Ausdrucks. Es gibt eine Brieflyrik, wie es eine Lyrik in Versen gibt. Und derselbe Unterschied von Nord und Süd herrscht in der Art des lyrischen und brieflichen Sprechens: ob man mit sich selbst redet oder mit einem Gegenüber, lautlos oder laut. Wenn eines Tages Briefe Georges gedruckt werden sollten, würde man ohne Zweifel sehen, daß sie »Werke« sind, entworfen, stilisiert wie die Briefe Petrarkas. Auch der nordische Briefschreiber will – wie Nietzsche – ein Echo seiner selbst hören, aber es gelingt ihm selten oder eigentlich nie. Nietzsche hat immer vergebens den »andern«, das alter ego, dazu gesucht. Der tiefe Wagner, der des Tristan, war nur der Wesendonk gegenüber nahe daran, echte Briefe zu schreiben. Selbst Goethe wird die Lyrik des Briefes nicht leicht. Er – diktiert. Die Frau von Stein der Briefe ist nicht der wirkliche Mensch, sondern eine Seite seines Ich noch einmal, eine Ergänzung seiner Person, und sie wird als Empfängerin unmöglich, als der südliche Zug seines Wesens in Rom von der Sehnsucht zur Wirklichkeit gelangte.
Was dem »katholischen« Menschen der Brief, das ist dem protestantischen viel eher das Tagebuch, das Selbstgespräch der Gestalten in den Werken, das heimliche Geständnis durch Musik und Malerei – Hebbel, Boecklin, Beethoven.
Die Reihe der großen deutschen Briefschreiber ist mit Nietzsche zu Ende, unwiderruflich. Es ist wie mit den Gedichten: wenige und seltene Nachzügler sind möglich, aber diese Art der Innerlichkeit, die Gesellschaft sehnsüchtig sucht oder in tiefer Selbstverständlichkeit besitzt, ist schon so gut wie erloschen.
Die Gedichte und Briefe Willi Schmids gehören zu den letzten, echten Stücken.