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Vom deutschen Volkscharakter

(1927)

Der Charakter eines Volkes ist das Ergebnis seiner Schicksale. Nicht das Land, das Klima, Himmel und Meer, auch nicht die Rasse, das Blut bringen ihn letzten Endes hervor. Das ist nur der Stoff, aus dem die Schläge der geschichtlichen Wirklichkeit eine Form schmieden. Am wenigsten vermag es das, was man ihm durch Reden, Schreiben und Lesen beigebracht hat: seine Bildung. Das ist nicht einmal ein Kostüm.

Von der Geschichte sind es mehr die Leiden als die Erfolge, welche den Charakter bilden. Der römische ist nicht eine Folge der Siege in der großen Zeit seit der Schlacht von Sentinum, welche ihn vielmehr voraussetzen, sondern die Not verschollener Jahrhunderte vorher, als das Volk stets am Rande der Vernichtung lebte.

Die weißen Völker der Gegenwart, auch die ältesten, sind nicht älter als ein Jahrtausend. Sie entstanden seit Karl dem Großen, als germanische Stämme aus sich und Volkstrümmern der Vergangenheit eine Handvoll neuer Völker schufen. Was seitdem mit ihnen geschah, liest man heute in ihrem Charakter mit seinen starken und schwachen, großartigen oder lächerlichen, tiefen oder flachen Zügen, ob sie sich nun in der Welt zu Hause oder fremd fühlen, in ihr nach dem Glück jagen oder an ihr leiden. Aber selbst die tiefe Heiterkeit mancher Landstriche und selbst das Gelächter der Volksfeste und Schenken redet noch von Strömen von Blut und Tränen, unzähligen Schlachten, herzbrechenden Enttäuschungen, ganzen geopferten Geschlechtern und dem immer wiederholten Umsonst und Trotzdem. Die »Weltgeschichte«, welche diesen Völkern ihren Charakter gab, als Helden, Duldern oder Narren, ist eine einzige große Tragödie, und sie wird es bleiben, solange sie dauert. Die meisten von uns sind nur zu gebildet, um daran zu glauben.

Es gibt Völker, deren Charakter einfach ist wie ein Flintenlauf; und andere, die nicht einmal sich selbst begreifen, geschweige denn daß jemand anders sie verstünde. Ein Engländer gibt niemandem Rätsel auf. Die englische Geschichte geht ihren geraden Weg, sehr blutig, aber ohne Knick, ohne Schwanken, ohne Überraschungen. Der Engländer hat keine Probleme in sich. Sie liegen alle auf der Landkarte. Um so rätselhafter sind die Deutschen. Sie haben von jeher ihre Zeit verbracht, um darüber nachzudenken, jeder über sich und viele über die andern. Haben sie etwas gefunden? Man hat behauptet, daß das deutsche Volk überhaupt keinen Charakter habe. Das ist vielleicht richtig. Es hat nicht einen, sondern viele, so viele als es Köpfe hat, vielleicht mehr. Alle andern spiegeln sich darin. Es gibt antike, indische, englische, spanische, altnordische Naturen unter uns – und immer wieder die Sehnsucht nach einer wahren Heimat in irgendeiner Ferne. Warum, zeigt ein Blick auf die Geschichte. Alle anderen Völker haben eine, als Weg von einem Anfang zu einem Ende. Unsere Geschichte ist dem Sinne nach etwas anderes: der immer wiederholte Versuch, einen Anfang zu finden. Das englische Schicksal beginnt klar und folgenschwer mit den Normannen, das französische mit den Franken, das spanische mit den Westgoten; das deutsche beginnt unsicher mit der Vereinigung von Sachsen, Schwaben, Bayern, Franken, Thüringern unter einer mystischen Krone. Und wie die Landkarte von 1400 oder 1700, so ist das deutsche »Gesicht«.

Also zuviel Charakter? Ja – auch das. Wir sind charakteristisch bis zur Tollheit, in den höheren Geistesschichten eine Sammlung von Originalen. Was für Denksysteme, was für Weltanschauungen, was für politische Ideen! Jeder schreibt sein eigenes Deutsch, jeder trägt sich anders, jeder glaubt anders, jeder will anders. Aber ist das unser Wesen oder eine Rolle, die wir in Erwartung der wahren vor uns selbst spielen? Das deutsche Volk hat eine Seele voll von überraschenden und bestürzenden Möglichkeiten des Übertreffens oder Versagens. Niemand, der sie gut zu kennen glaubte, hat je richtig gerechnet. Daher das Mißtrauen gegen uns von außen und das stärkere unter uns gegeneinander. Wir sind unbequem in einer Welt, wo einer des anderen sicher sein möchte. Uralte Charakterzüge aus dunkler Vorzeit, welche die anderen im Laufe ihrer Geschichte abgeschliffen und verbraucht haben, sind in uns aus Mangel an Geschichte noch lebendig. Da sind Reste altnordischer Instinkte wie aus den isländischen Sagas: das ungesellige Leben, Verschlossenheit, Alleinseinwollen, Eigensinn, Trotz; mehr Querköpfe als Langköpfe. Hätten wir, als Volk, bei größerem Glück in politischen Dingen, wirklich die vornehme Gesellschaft des 18. Jahrhunderts aus uns heraus schaffen können? Die Form als Aufgabe, als hohe Pflicht, als Reiz widerspricht unserem Wesen. Wir sind formlos mit Betonung. Wir lassen uns gehen: lyrisch, geistig, sozial, vor uns und vor andern. Am wenigsten noch in der Musik; aber wir haben uns in den Versformen aller Völker und Zeiten versucht und die ungebundenste Fantasie ist unser eigentliches Reich. Kein Volk hätte der Erziehung großen Stils durch eine vornehme Gesellschaft mehr bedurft. Aber dann der Ernst, die Zähigkeit, das stille, geduldige Haften an der einmal übernommenen Pflicht, in allem, was wir unserem Mangel an Selbstvertrauen abgerungen haben. Niemand macht uns unsere Arbeit nach, vor allem die der wirtschaftlichen und technischen Führer. Künftige Geschlechter werden den Wiederaufbau binnen vier Jahren nach einer solchen Katastrophe ungläubig bestaunen.

Und dann das Entscheidende: unser unbegrenztes Bedürfnis, zu dienen, zu folgen, irgend jemand oder irgend etwas zu verehren, treu wie ein Hund, blind daran zu glauben, allen Einwänden zum Trotz. Auch das ist ein aufgesparter Zug von Urzeiten her, der heutigen Dingen gegenüber groß oder zum Verzweifeln komisch sein kann, aber er beherrscht die Geschichte unserer Fürsten, Kirchen und Parteien. Keine »Sache«, kein Führer, auch nicht die Karikatur davon, ist in einem anderen Lande der unbedingten Gefolgschaft so sicher: ein geheimer Schatz von ungeheurer Macht für den, der ihn zu benützen weiß. Wir haben geschichtlich zu wenig erlebt, um hier Skeptiker zu sein. Jeder Bauer vom Balkan, jeder Träger in einem amerikanischen Hafen kommt schneller hinter die Geheimnisse der Politik. Kinder, mag sein. Von großen Kindern dieses Schlages ist mehr als einmal die Geschichte aus ihrer Bahn gebracht worden.

Aber doch auch wieder das andere, die Trägheit des Blutes, das Gemüt, der Mangel an eigenem Entschluß. »Ein Deutscher ist großer Dinge fähig, aber es ist unwahrscheinlich, daß er sie tut«, hat Nietzsche gesagt. Schwer in Bewegung zu setzen, wenig auf uns selbst vertrauend, allem eigenen Pathos abgeneigt, sind wir sicherlich am weitesten von der politischen Theatralik Südeuropas entfernt, die sich auch mit einem Mißerfolg noch in Szene zu setzen versteht. Alles in allem: Es gibt heute kein zweites Volk, das des Führers so bedürftig ist, um etwas zu sein, um auch nur an sich glauben zu können, aber auch keines, das einem großen Führer so viel sein kann. In der richtigen Hand werden fast alle seine Fehler zu Vorzügen. Was dann in Bewegung kommen könnte, tritt aus dem Rahmen gewohnter politischer Berechnung weit heraus.

In Zeiten von strenger Tradition der Regierungsgewohnheiten wie der diplomatischen Sitten, wie das 18. Jahrhundert eine war, ist ein solcher Charakter zu langem Schlaf verurteilt. Man hatte die Deutschen als politische Möglichkeit vergessen, und Napoleon war sehr erstaunt, als er sie plötzlich auf seinem Wege traf. Heute gibt es von ehrwürdigen Formen politischen Daseins, deren Alter eine fast unangreifbare Macht ist, nichts mehr in der Welt. Die Gewalt erscheint, wie sie ist, die Gelegenheit nicht minder. Die Geschichte kehrt zur Freiheit ihrer urzeitlichen Instinkte zurück, als deren Beute die Länder und Meere daliegen.

Sind wir also ein zeitgemäßes Volk?


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