Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Eine Studie über den energetischen Grundgedanken seiner Philosophie
(1904)
In dem Jonier Heraklit erreicht die griechische Philosophie des 6. und 5. Jahrhunderts – keine Schule, sondern eine Reihe selbständiger, mächtiger, ihrer Zeit an Reife weit überlegener und erstaunlich schöpferischer Denker, wie sie später, als die Philosophie ihren Sitz in Athen genommen hatte, nicht wieder aufgetreten sind – ihren Gipfel. Griechenland hat niemals gewaltigere Menschen hervorgebracht als diese, von denen einer dem andern folgend mit Meisterstrichen ein Bild des Kosmos schuf, nichts weniger als kritisch und mit dem Vorsatz, den Anforderungen strenger Wissenschaft zu genügen, sondern in hoher Intuition und mit einem gewaltigen Blick den Sinn der Welt, ihre Vergangenheit und Zukunft umfassend. In diesem Sinne hat man ihre Leistungen zu beurteilen. An Stelle der kühlen Strenge des Unterscheidens und Zerlegens, wie sie Aristoteles besitzt, findet man hier, um ein Wort Goethes zu gebrauchen, die »exakte sinnliche Fantasie«, eine Richtung auf Gestalten und Gedanken, nicht deren abstrakte Folgerungen, Begriffe und Gesetze. Heraklit ist nicht nur der tiefste, sondern auch der vielseitigste und umfassendste Geist unter ihnen. Die Systeme des Anaximander, Xenophanes, Pythagoras finden in dem seinigen verwandte Seiten. Die großen Probleme des griechischen Denkens – das Verhältnis von Form und Ding an sich, der Begriff des Gesetzes, der Begriff der inneren Einheit alles Seins oder Geschehens, der Ursprung des Seins, der Ursprung des Andersseins – die man in dieser Zeit entdeckte und zu naiven und kühnen Formeln verdichtete, vereinigte er in den Grundgedanken seiner Lehre, die andern repräsentieren sie einzeln. Es wäre unrichtig, aus diesem Grunde in Heraklit einen Nachfolger oder Nachahmer dieser Lehren sehen zu wollen. Ob zwischen Anaximander oder Xenophanes und ihm das Verhältnis des Meisters zum Jünger oder eine andere engere Beziehung bestand – eine Unwahrscheinlichkeit, wenn man die geistige und politische Unabhängigkeit der hellenischen Städte und die selbstbewußte, von der üblichen weit entfernte Lebensführung dieser Philosophen in Betracht zieht – ist eine Frage von geringer Bedeutung. Die Möglichkeit einer mittelbaren Einwirkung ist ja vorhanden. Aber von den zahlreichen möglichen, aus Beobachtung, Erlebnissen, Eindrücken, Meinungen der anderen stammenden Anregungen werden nur diejenigen gewirkt haben, die auf verwandte, im Grunde schon vorhandene Elemente trafen. Daß Heraklits Unabhängigkeit niemals in Frage gestellt worden ist, darf man aus seinem Charakter mit großer Gewißheit schließen. Wenn sich eine ähnliche Richtung im Denken jener Philosophen beobachten läßt (wie die Gleichheit des Ausgangspunktes und die parallele Behandlung gleicher Fragen), so folgt dies aus der organischen Einheit des geistigen Lebens innerhalb einer umgrenzten Kulturepoche, wie es die Geschichte häufiger zeigt. (Die ἀταραξία als Basis aller ethischen Lehren im 3. Jahrhundert, das Problem der Methode bei Bacon, Descartes, Galilei.)
Der Gedanke, in dem Heraklit eine neue Auffassung des kosmischen Daseins gab, ist ein energetischer: der eines reinen (stofflosen), gesetzmäßigen Geschehens. Die Entfernung dieser Idee von der Anschauung anderer, und zwar gleichmäßig der Jonier, Eleaten und Atomisten, ist eine außerordentliche. Heraklit ist mit ihr unter den Griechen völlig einsam geblieben; es gibt keine zweite Konzeption dieser Art. Alle andern Systeme enthalten den Begriff der substanziellen Grundlage (ἀρχή, ἄπειρον, τὸ πλέον, ὕλη, τὸ πλῆρες und auch Platos Erscheinungswelt, γένεσις, im Gegensatz zur Ideenwelt, αἰτία τῆς γενέσεως), und die Stoa, die sich später Heraklits Worte und Formeln aneignete, mußte sie erst mit demokritischem Geist erfüllen, um sie dem Zeitalter annehmbar zu machen. Daraus vor allem erklären sich die häufigen Mißverständnisse in der Auffassung dieser Lehre, nicht weil sie uns ungenügend bekannt ist, Die Meinung von Th. Gomperz (Wien. Sitzungsber. 113 [1886] S. 947). Die übrigen, hier benutzten Schriften sind: Schleiermacher, Herakleitos der Dunkle (Werke III. Abt. II. Bd.); Zeller, Philosophie der Griechen Bd. I; F. Lassalle, Die Philosophie Herakleitos des Dunklen von Ephesos; P. Schuster, Heraklit von Ephesus; E. Pfleiderer, Die Philosophie des Heraklit von Ephesus; G. Teichmüller, Neue Studien zur Geschichte der Begriffe Bd. I, II; G. Schäfer, Die Philosophie des Heraklit von Ephesus und die moderne Heraklitforschung; G. Tannery, Rév. philos. 1883, XVI, Héraclite et le concept de Logos. sondern weil sie im Gegensatz zu der uns geläufigen Denkweise steht. Die Geschichte der Heraklitforschung zeigt, wie man, um sich einen schwierigen, fremdartigen Gedanken zu assimilieren, mangels einer angemessenen modernen Ausführung der Idee auf alle möglichen andern zurückgreift, um sich an bekannte Begriffe und Anschauungen halten zu können. Man darf zweifeln, ob irgendeine der möglichen Erklärungen noch nicht versucht worden ist. Heraklit erscheint als Schüler des Anaximander (Lassalle, Gomperz), des Xenophanes (Teichmüller), der Perser (Lassalle, Gladisch), der Ägypter (Tannery, Teichmüller), der Mysterien (Pfleiderer), als Hylozoist (Zeller), Empirist und Sensualist (Schuster), »Theologe« (Tannery), als Vorläufer Hegels (Lassalle). Sein großer Gedanke gleicht der Seele Hamlets: jeder versteht ihn, aber jeder anders. –
Der Versuch, die Ideen eines Philosophen, dem die scharfe, durch lange Übung geschulte Ausdrucksweise einer hochentwickelten Wissenschaft unbekannt war, ohne diese Genauigkeit zu beurteilen, führt nicht zum Ziele. Teichmüller (Bd. I S. 80) sagt: »Wer bei Heraklit exakte Begriffe sucht, gibt sich unnütze Mühe. – Bei Heraklit bestand die Philosophie nur in einer allegorischen Verallgemeinerung einiger auffallender Tatsachen. – Wollten wir schärfer bestimmen, so würden wir Heraklits Denkweise zerstören.« Eine Folge dieser Auffassung ist es, wenn man durch ungenügende Feststellung der Begriffe und unhaltbare Analogien zu den schwersten Irrtümern kommt. Ein Beispiel ist die Anwendung des Begriffs ἀρχή, den Anaximander für seine Philosophie geschaffen hat und der nur innerhalb des Hylozoismus einen Sinn hat, auf andere, auch Heraklit, in dessen System er ganz gegenstandslos ist. Man muß vorsichtig, sogar skeptisch sein nicht nur in der Erklärung der griechischen Gedankenelemente an sich, sondern vor allem in ihrer Abgrenzung gegen die modernen. Wir dürfen nicht vergessen, daß unsere Grundbegriffe das Ergebnis der ganzen Entwicklung der neueren Philosophie seit dem 16. Jahrhundert sind und nur in diesem Ideenkreis eine unbedingte Geltung haben. Den innerhalb so verschiedener Kulturen, wie es die antike und die neuere sind, entstandenen Gedankenkomplexen, die sich schon durch die verschiedene Auffassung vom Wesen der Wissenschaft überhaupt unterscheiden, entsprechen beiderseits durchaus eigentümliche Begriffe. Selbst ein so naheliegender wie der Begriff Materie ist bei Demokrit und in der modernen Naturwissenschaft nicht derselbe; dort liegt z. B. die Ursache der Bewegung im Wesen der Materie (τύχη), hier ist sie als an den Äther gebundene Energie ein selbständiger Faktor außerhalb.
Eine andere Schwierigkeit liegt darin, daß Heraklit zwar seiner Anschauung gewiß war, ihr aber sprachlich nicht immer einen angemessenen Ausdruck gab. Nicht nur der Mangel einer wissenschaftlichen Sprache mit zweckmäßig geschaffenen Ausdrücken, auch nicht das Fehlen einer regelrechten Polemik unter diesen Philosophen, die zu einer scharfen und vorsichtigen Ausdrucksweise gezwungen hätte, sind der wichtigste Grund dafür, sondern die Unmöglichkeit, eine neue, dem Augenschein widersprechende Erkenntnis der Natur mit den gewohnten, unter andern Eindrücken und Meinungen entstandenen Wortsymbolen zu geben. Goethe, dessen Ansichten über die Natur von einem ähnlichen Geist getragen waren, bemerkte diese Grenze wohl. »Alle Sprachen sind aus naheliegenden menschlichen Bedürfnissen, menschlichen Beschäftigungen und allgemein menschlichen Empfindungen und Anschauungen entstanden. Wenn nun ein höherer Mensch über das geheime Wirken und Walten der Natur eine Ahnung und Einsicht gewinnt, so reicht seine ihm überlieferte Sprache nicht hin, um ein solches von menschlichen Dingen durchaus Fernliegendes auszudrücken. – Er muß bei seiner Anschauung ungewöhnlicher Naturverhältnisse stets nach menschlichen Ausdrücken greifen, wobei er denn fast überall zu kurz kommt, seinen Gegenstand herabzieht oder wohl gar verletzt und vernichtet.« (Eckermann, Gespr. mit Goethe III, 20. Juni 1831.)
Eine Darstellung der gesamten Lehre Heraklits ist durch den Verlust seiner Schrift unmöglich geworden. Es soll hier lediglich eine Entwicklung des Prinzips versucht werden, das dieser Denker zur Grundlage seines Weltsystems machte und das mit wenigen Worten in eine Formel zu bringen ist: πάντα ῥεῖ, die Idee eines reinen gesetzmäßigen Werdens. Es liegt in den Worten, daß die Ausführung nach zwei Seiten zu erfolgen hat: das Werden selbst und sein Gesetz. Diese Trennung ist eine rein methodische. Ihr entspricht, wie betont werden muß, durchaus nicht eine dualistische Gliederung des heraklitischen Kosmos. Alle im folgenden erwähnten Gedanken sind ein und dasselbe Grundprinzip, das, als Einheit konzipiert, in den Fragmenten (und bei der aphoristischen Schreibweise Heraklits vielleicht schon in seinem Buche) nur in einer Anzahl verschiedener Darstellungen, wie sie der Fantasie eines leidenschaftlichen künstlerischen Menschen entsprangen, erhalten geblieben sind.
II
Es wäre für das Verständnis dieser Lehre ein Hindernis, wenn uns die Kenntnis der großen und tragischen Persönlichkeit Heraklits verlorengegangen wäre. Wir könnten nicht verstehen, weshalb dieser Philosoph den ἀγών, die vornehmste Sitte seiner Zeit, zur Sitte des Kosmos machte, was er mit dem Feuer meinte, dem er eine herrschende Rolle im Weltall zuschrieb. Seine Lehre ist selbst für diese Zeit und für einen Griechen in ungewöhnlichem Grade persönlich, ohne daß von ihm selbst viel die Rede wäre.
Wir sehen einen Menschen, dessen ganzes Fühlen und Denken unter der Herrschaft einer ungezügelten aristokratischen Neigung stand, die durch Geburt und Erziehung stark angelegt und durch Widerstand und Enttäuschung gereizt und gesteigert war. Hier ist der letzte Grund für jeden Zug seines Lebens und jede Besonderheit seiner Gedanken zu suchen. Noch in der energischen Konzentration des Systems, in dem Vermeiden und Verschmähen aller Einzelheiten und Nebensachen, dem Niederschreiben in kurzen, starken, ihm allein geläufigen Wendungen erkennen wir die Hand des Aristokraten.
Der hellenische Adel, Über den Adel s. Wachsmuth, Hell. Altert. I S. 347 ff.; J. Burckhardt, Griech. Kulturgesch. I S. 171 ff., IV S. 86 ff. dessen Untergang in dieser Zeit sich vollzieht, hat die bedeutungsreichste und schönste Periode der hellenischen Kultur geschaffen. Er hat durch seine Sitte für alle Zeit den Typus des vollkommenen Hellenen festgestellt, eine unvergleichlich hohe und edle Kultur des einzelnen Menschen (καλοκἀγαθία); er vertrat nicht nur Rechte oder Interessen, sondern eine Weltanschauung und eine Sitte (Burckhardt). Es war eine stolze, glückliche, herrschaftliebende und -gewöhnte Kaste, stolz auf das Blut, den Rang, die Waffen, die »Antibanausie«; sie war im Alleinbesitz des Geistes und der Kunst. Man kann die ungeheure ethische Macht der Kaste und ihrer Lebensauffassung über den Geist des einzelnen begreifen. Sie selbst konnte untergehen, aber wer einmal in ihrem Banne stand, vermochte sich ihr nicht wieder zu entziehen. Heraklit besaß ihr ganzes Selbstbewußtsein und ihren Stolz, eine starke, ungewollte, jeder Reflexion über sich selbst fremde Vornehmheit; er hängt mit Leidenschaft an ihren tapfern, gesunden, lebensfrohen Sitten, am Kampf, am Streben nach Ruhm. Fr. 24: Ἀρηιφάτους θεοὶ τιμῶσι καὶ ἄνθρωποι. Fr. 25: Μόροι γὰρ μέζονες μέζονας μοίρας λαγχάνουσι. Die Fragmentzählung geschieht nach H. Diels, Herakleitos von Ephesus, griech. u. deutsch, Berlin 1901.) [Diese Fragmentzählung ist auch in der Ausgabe der Vorsokratiker von H. Diels (5. Aufl., Berlin 1934, bearb. von W. Kranz, Text u. Übersetzung S. 150 ff.) beibehalten. Anm. des Verlags.] Dieser stolze unbeugsame Mann liebte den Unterschied von Herrschenden und Gehorchenden, er hatte Ehrfurcht vor den althergebrachten Sitten und Institutionen,Fr. 33: Νόμος καὶ βουλῇ πείθεσθαι ἑνός. Fr. 44: Μάχεσθαι χρὴ τὸν δῆμον ὑπὲρ τοῦ νόμου ὅκωσπερ τείχεος. die der Demokratie nicht mehr heilig waren. Er war ein zu tiefer Menschenkenner, um den Menschen seiner Zeit schlechthin, unter Absehen von Geburt und Rang, zu beurteilen. Er glaubte an den homerischen Unterschied Ἄριστος (χαρίεις) bei Homer im Sinne von Adel Il. VII, 159, 327, XIX, 193. Od. I, 245 und öfter. Ebenso bei Heraklit Fr. 13, 29, 49, 104. Οἱ πολλοί in Fr. 2, 17, 29. der ἄριστοι, der Menschen von großer und vornehmer Lebensauffassung, und der Masse (οἱ πολλοί), an der er mit spöttischem Scharfblick die Mängel des Standes entdeckt. Unter vielen andern Fr. 29: Αἱρεῦνται γὰρ ἓν ἀντὶ ἁπάντων οἱ ἄριστοι, κλέος ἀέναον θνητῶν, οἱ δὲ πολλοὶ κεκόρηνται ὅκωσπερ κτήνεα· Fr. 104: Δήμων ἀοιδοῖσι πείθονται καὶ διδασκάλωι χρείωνται ὁμίλωι … Er läßt sich nicht auf Angriffe und Auseinandersetzungen mit dem δῆμος ein, das verbieten ihm sein Geschmack und die Selbstbeherrschung, die eine der ersten Tugenden des vornehmen Griechen war; Fr. 43: Ὕβριν χρὴ σβεννύναι μᾶλλον ἢ πυρκαΐην. Auch Fr. 47. ohne Wut, ohne Ausfälle beurteilt er das Volk von oben herab, kalt, boshaft, mit Verachtung und Ekel, zuweilen durch eine sarkastische Bemerkung den aufsteigenden Groll verbergend.
Der Name des weinenden Philosophen, den ihm das Altertum gab, wird nicht ohne Grund entstanden sein, das verraten Anekdoten Er sah einmal spielenden Kindern zu, als Leute aus Ephesos vorüberkamen und stehen blieben. Er fuhr sie an: Was habt ihr hier zu gaffen? Ist dies nicht besser, als mit euch den Staat zu regieren? (Diog. Laert. IX, 3.) und manche seiner Aphorismen, Fr. 121. Auch Fr. 85: Θυμῶι μάχεσθαι χαλεπόν· ὃ γὰρ ἂν θέληι, ψυχῆς ὠνεῖται. aus denen ein bittrer, verwundeter Ton spricht. Durch Abkunft und tiefe Anhänglichkeit an ein Lebensideal geknüpft, wurde er zu einer Zeit geboren, wo dies Ideal keine Daseinsmöglichkeit mehr hatte. Die Macht und die Sitten des Adels waren gesunken oder verschwunden. Die Demokratie begann zu herrschen. Zum Nachgeben oder nutzlosen Klagen war er zu starr und zu trotzig. Eine der ersten und einflußreichsten Würden in Ephesos, die ihm durch Erblichkeit zufiel (die des βασιλεύς), war für ihn nicht mehr das, was sie hätte sein müssen. Er verzichtete auf sie. Das Leben der πόλις verlor die aristokratische Form und die Menge begann zu regieren. Da verließ er die Stadt, wo er ein kleiner Machthaber hätte sein können, und ging in das Gebirge, in eine freiwillige Einsamkeit, ein Dasein, das dem geselligen Griechen, der mit dem Schicksal seiner Stadt verwachsen war, das furchtbarste dünkte. Er ist unversöhnlich dort geblieben, sein Leben ertragend, das ihn zuletzt dem Wahnsinn nahe brachte, wenn man Theophrast glauben darf. Aus dem starken Eindruck, den dieser Mann auf seine Zeitgenossen machte, entsprangen die bekannten Erzählungen wie jene, daß er seine Schrift im Artemistempel niedergelegt habe, damit sie erst der Nachwelt in die Hand käme (Diog. Laert. IX, 6). –
Als Hellenen galt ihm der Ruhm, man könnte sagen die Berühmtheit, als das Höchste. Fr. 24, 25, 29. Es ist die Frage, ob ihn jene selbstgewählte Einsamkeit und die seltsamen Züge, die ihm eine bewundernde Aufmerksamkeit zuzogen, nicht vielleicht für eine Rolle in Ephesos schadlos halten sollten. Jeder Grieche wollte in aller Munde sein, und um jeden Preis. Herostrat ist ein berühmtes Beispiel dafür, was man zu diesem Zwecke versuchen konnte. Aber man sieht das auch an Alkibiades, Themistokles und jedem andern, der als echter Hellene gelten kann. Man darf bei Heraklit am wenigsten diese nationale Form des Ehrgeizes, einen verhängnisvollen Zug des griechischen Charakters, vergessen. Diese Eigenschaft, die in unsern Augen unedel erscheint, ist kein Streben, das dem Gegner Großmut und Anerkennung nicht versagt, sondern ein unbändiger verzehrender Neid, ja Haß gegen jeden, der glücklicher war, eine bis zur Selbstvernichtung gehende Unerträglichkeit des Bewußtseins, weniger als andere bewundert zu werden, das die Griechen mit ihrem lebhaften Empfinden zu einem tief unglücklichen Volk machte.
Für die Philosophie folgte daraus, daß es in der ältern Zeit nie zu der Behandlung eines Problems durch eine Reihe von Denkern nacheinander gekommen ist. Hier beginnt jeder von vorn, vielleicht gerade vom Gegenteil aus, kaum einer hat die Entdeckungen der Vorgänger dankbar angenommen. Man weiß vielmehr die Unterschiede hervorzukehren, sogar zu übertreiben, und bis auf Aristoteles hat jeder der Großen die andern spöttisch genug angesehen. Man darf von Heraklit als einem Griechen keine Anerkennung fremder Verdienste erwarten. Er neigt im Gegenteil zu schroffer Betonung der Gegensätze in Paradoxien und Antithesen, und wenn er einmal einen berühmten Namen nennt, geschieht es gewiß immer mit einer Bosheit dazu (Fr. 40, 57, 129; Plut. de Iside 48, 370). Die Besonderheit seines Schicksals steigerte in ihm das Selbstgefühl des ungewöhnlichen Menschen und führte zu einer Überspannung des Originalitätstriebes, zu einer grundsätzlichen Ablehnung aller fremden Meinungen, selbst zum Vermeiden geläufiger, ihm vielleicht trivial klingender Wendungen. Unter diesen Voraussetzungen ist die Genesis seiner Gedanken zu verfolgen und der Grad ihrer Abhängigkeit von gleichzeitigen Systemen zu bemessen.
III
Für jeden denkenden Menschen gibt es eine Form des Denkens, die aus denselben psychischen Ursachen wie die Weltanschauung und die Denk ergebnisse entspringend mit ihnen eng verknüpft ist. Im weitesten Sinne, nicht nur als instinktive Art der logischen Gedankenführung, sondern auch als unbewußte Methode der Auswahl und Verwertung von Eindrücken jeder Art ist sie als Vermittler zwischen Persönlichkeit und System, unter Umständen sogar als selbständiger Anlaß zu Ideen von Wert. Der Stil des Denkens und die Lehre selbst sind verwandt. Für die heraklitische Philosophie ist dieser Umstand wichtig. Heraklit war – in einer Zeit des naiven, noch nicht zur Reflexion über sich selbst herangereiften Denkens – in der glücklichen Lage, aus dem Vollen schöpfen zu können, sich seinen Wünschen überlassen zu dürfen, ohne durch bedeutendere Vorarbeiten auf seinem Gebiet auf die Forschung in kleinerem Maßstabe innerhalb festgelegter Richtungen beschränkt zu sein, ein Glück, dessen Goethe sich bewußt war, als er einmal hervorhob: Als ich achtzehn Jahre war, war Deutschland auch erst achtzehn. (Eckermann, Gespr. mit Goethe I, 15. Febr. 1824.)
War Heraklit seiner Weltanschauung nach Aristokrat, so kann man ihn hinsichtlich seines ganzen Denkverfahrens als Psychologen bezeichnen. Beides steht in einem häufiger zu beobachtenden Zusammenhang. Damit soll über den Gegenstand seiner Untersuchungen nichts ausgesagt, nur eine Methode der Behandlung angedeutet werden. Er betrachtet die Natur nicht an sich selbst als Objekt, nach Erscheinung, Ursprung und Zweck, sein Verfahren ist vielmehr eine Analyse der Naturvorgänge, soweit sie Vorgänge, Veränderungen sind, ihren gesetzlichen Verhältnissen nach; man kann sein System eine Psychologie des Weltgeschehens nennen. Aus dieser neuen philosophischen Fragestellung folgt die Auffindung neuer Probleme. Heraklit kann als der erste Sozialphilosoph, der erste Erkenntnistheoretiker, der erste Psycholog gelten. Seine Aphorismen über den Menschen sind nicht Sprüche mit ethischer Tendenz wie die Gnomen des Bias oder Solon, sondern zum erstenmal wirklich beobachtete, durchaus objektive, den didaktischen Ton ganz vermeidende Bemerkungen.
Vergessen wir endlich einen wesentlichen Unterschied nicht, der Heraklit und die ganze griechische Philosophie von der neuern trennt. Das Volk, dessen Erzieher Gymnastik, Musik und Homer waren, das für die Welt das Wort κόσμος erfand, weil es in ihr vor allem den Sinn der Ordnung und Schönheit sah, behandelte die Philosophie nicht eigentlich als Wissenschaft (abstrakt wissenschaftliche Untersuchungen sind immer dem metaphysischen Endzweck untergeordnet worden), sondern als den Weg, ein Weltbild zu schaffen, das ihm seine Stellung im All zu übersehen erlaubte, und als eine Gelegenheit, seine Freude am Formen zu betätigen. Es wäre falsch, das griechische Denken, das unter freiem Himmel, in einer südlichen, sonnigen Landschaft, aus einem heitern und leichtbeweglichen Leben heraus entstand, wegen dieser uns fremden Verwandtschaft zur Kunst tiefer als das unsere zu stellen. Dem Hellenen der klassischen Zeit ist die Philosophie bildende Kunst, Architektonik der Gedanken. Die plastische Kraft der Hellenen, ihre Fähigkeit, alles Erlernte und Selbstgeschaffene einem einheitlichen Stil zu unterwerfen, ist eine ungeheure, und diesem Gefühl für Form entspringt die Neigung, philosophische Systeme als Kunstwerke zu konzipieren.
Heraklit ist der bedeutendste Künstler unter den Vorsokratikern. Davon zeugt nicht nur das satte und farbenreiche Pathos seines Stils, sondern vor allem die geniale Plastik seiner Darstellung. Er sieht seine Ideen, berechnet sie nicht. Ihren intuitiven Charakter, dem alle Dialektik, wie sie vor allem das gegnerische System des Parmenides stützt, fremd ist, Vgl. Fr. 81, wo er die rhetorische Methode κοπίδων ἀρχηγός, Führer zur Abschlachtung, nennt. (Angeblich gegen Pythagoras, vgl. Anm. zu Byw. Fr. 138.) unterstützen die immer glücklich gewählten Beispiele (wie die vom Bogen und der Leier, vom Mischtrank), in denen er ein ihm greifbar vor Augen stehendes Bild wiederzugeben versucht. Es blieb zuweilen kein andres Mittel der Verständigung übrig, weil ihm durch seine Problemstellung bezüglich der sprachlichen Darstellung Schwierigkeiten erwuchsen, die er nicht immer bewältigen konnte, trotz einer Energie des Denkens, die in der alten Philosophie selten ihresgleichen findet. Sein Hauptgedanke widerspricht dem Augenschein und dem gewohnten Denken vollkommen und beansprucht ein hohes Maß von Abstraktionskraft, um überhaupt gefunden zu werden. Einer unerbittlichen Konsequenz und einem sichern Blick über das Gebiet seiner Untersuchungen verdankt er eine innere Einheit des Systems, die wahrscheinlich nie wieder erreicht worden ist. Es ist mit großer Einfachheit auf einen Gedanken konzentriert und in Einzelheiten bei seiner immanenten Logik unangreifbar.
Heraklit darf als Realist bezeichnet werden, trotzdem er leicht für das Gegenteil zu nehmen ist. Jeder Begriff, der auf symbolistische Absichten zu deuten scheint, läßt sich bei näherem Eingehen auf einen realen Grund zurückführen. Er besitzt einen durchaus gesunden Blick für das greifbar Vorhandene Fr. 55: Ὃσων ὄψις ἀκοὴ μάθησις, ταῦτα ἐγὼ προτιμέω. und oft eine große Feinheit im Unterscheiden. Ein Beispiel: Οὐ γὰρ φρονέουσι (durch Nachdenken einsehen) τοιαῦτα οἱ πολλοί, ὁκοίοις ἐγκυρεῦσιν, οὐδὲ μαθόντες (sinnlich wahrnehmen), γινώσκουσιν (begreifen), ἑωυτοῖσι δὲ δοκέουσι (haben das Gefühl, es verstanden zu haben). Aber er verleugnet den Aristokraten nirgends; sein Denken hat einen wahren Imperatorenstil, ein selbst für diese Zeit in Einzelheiten sehr summarisches Verfahren. Der Eindruck dieser Methode auf spätere, etwas pedantische Philosophen Diog. Laert. IX, 8: Σαφῶς δὲ οὐδὲν ἐκτίθεται. Nur die großen, grundlegenden Ideen sind ihm des Nachdenkens wert, bei einer ausgesprochenen Abneigung gegen eigentlich wissenschaftliche Detailforschung. Er hat eine bestimmte, streng begrenzte Ansicht, wie man denken müsse. Man soll nicht alles wissen wollen, nur das Wertvolle und Große, wenig auslesen, dies aber durchdringen. Er will Tiefe, Gehalt, Klarheit, nicht Umfang des Wissens. Daher seine Polemik: πολυμαθίη νόον ἔχειν οὐ διδάσκει. Ἡσίοδον γὰρ ἂν ἐδίδαξε καὶ Πυθαγόρην αὖτίς τε Ξενοφάνεά τε καὶ Ἑκαταῖον (Fr. 40). Μαθίη ist die bloße Kenntnisnahme der Dinge. Das Sammeln von Tatsachen, ohne Überblick und Verständnis, ist ihm verhaßt. Nicht etwa wenig wissen: χρὴ γὰρ εὖ μάλα πολλῶν ἵστορας φιλοσόφους ἄνδρας εἶναι καθ᾽ Ἡ. (Fr.35.) Ἱστορίη ist die in die Tiefe dringende kritische Beobachtung (nicht Kenntnis aus Büchern: Gomperz a.a.O. 1002 f. Ἵστωρ Zeuge, Kritiker, bei Homer Schiedsrichter. Vgl. Porphyr, de abst. II, 49: Ἵστωρ γὰρ πολλῶν ὁ ὄντως φιλόσοφος).
Eine »wissenschaftliche Philosophie« wird auf solcher Grundlage nie entstehen. Aber man hat hier die außerhalb des Schwerpunkts liegenden Fragen und den Grundgedanken selbst zu unterscheiden; dieser ist wirklich erschöpfend ausgeführt. Man darf die Logik der Gedankenführung auch nicht an der unsystematischen Darstellung messen. Die Schrift ist eine Aphorismensammlung, wie eine Bemerkung Theophrasts und die Fragmente selbst lehren. Heraklit hat nicht im bescheidensten Sinne didaktisch, geschweige denn populär zu wirken versucht, das beweist sein durchaus nicht auf leichtes Verständnis Rücksicht nehmender Stil und entspricht seiner menschenverachtenden Weltanschauung vollkommen.
1. Der Kosmos als Energieprozeß
Der Grundgedanke, auf den Heraklit seine Anschauung des Kosmos gründete, ist in dem berühmt gewordenen πάντα ῥεῖ bereits vollständig enthalten. Der bloße Begriff des Fließens (der Veränderung) ist aber zu unbestimmt, um die feineren und tieferen Abstufungen dieses Gedankens erkennen zu lassen, dessen Wert nicht darin liegt, eine bloße Verschiedenheit der sich folgenden Zustände der sichtbaren und greifbaren Welt zu behaupten, die niemand bezweifelt. Gleich am Anfang ist der wichtige Unterschied hervorzuheben zwischen der Vorstellung, die Heraklit von dem Verlaufe und dem innersten Charakter des Weltgeschehens selbst hatte, von dem er sagte, daß er unsrer Wahrnehmung nicht zugänglich sei, und dem Anblick, den die Welt der Dinge, die wir folgerichtig als Erscheinung dieses Geschehens und seine Wirkung auf die Sinne aufzufassen haben, uns darbietet. Legt man diese kantische Unterscheidung, die Heraklits Lehre praktisch zweifellos enthält, obwohl sie in den Bruchstücken seiner Schrift nicht grundsätzlich getrennt erscheint, zugrunde, so vermeidet man einen der häufigsten Mißgriffe in der Beurteilung dieser Lehre. –
Will man das Geschehen in der Natur auf die ursprünglichsten Elemente zurückführen, so bleibt der Begriff der Veränderung noch mehrerer Auffassungen fähig. Man kann ein Substrat mit der einzigen Bestimmung der Beharrlichkeit annehmen, dann erscheint die Veränderung als die Art, wie das Beharrende in jedem Augenblick existiert. Kant bezeichnete von diesem vorsichtigen und unangreifbaren Standpunkte aus den Satz, daß die Substanz beharre, als Tautologie. »Denn bloß diese Beharrlichkeit ist der Grund, warum wir auf die Erscheinung die Kategorie der Substanz anwenden, und man hätte beweisen müssen: daß in allen Erscheinungen etwas Beharrliches sei, an welchem das Wandelbare nichts als Bestimmung seines Daseins ist.« Krit. d. r. Vernunft (Kehrbach) S. 177. Um zu einer einfachern und anschaulichen Vorstellung zu gelangen, fügt man meist zu jenem Merkmal des Substrats noch die der Raumerfüllung, Undurchdringlichkeit und qualitativen Beständigkeit und erhält so den Begriff der ( körperlich gedachten) Materie, worauf sich deren Veränderung nur noch als eine räumliche denken läßt. Dieser demokritische Begriff der Verschiebung von Massenteilen (περιφορά), den auch die neuere Naturwissenschaft enthält, liegt nicht im πάντα ῥεῖ. Es ist möglich, den Begriff eines Substrats überhaupt, sei es als das im Wechsel der Erscheinungen Beharrende (das sich physikalisch als das unveränderliche Verhältnis der auf einen Körper wirkenden Kräfte zu den daraus folgenden Beschleunigungen beschreiben läßt), sei es als eigentliche Materie, fallen zu lassen, wodurch der Begriff der Veränderung (des Werdens, Fließens) einen neuen und reichern Inhalt erhält.
Die allgemeinsten Grundbegriffe, die zur schematischen Veranschaulichung von Naturvorgängen, zu der jeder denkende Mensch neigt, unerläßlich sind, unterliegen im Laufe der Jahrhunderte einer Entwicklung, die von dem jeweiligen Standpunkt der Wissenschaft bestimmt wird, so daß sie inhaltlich nur noch dem Denken einer begrenzten Zeit vollkommen genügen, diesem aber so notwendig sind, daß es nicht ohne Schwierigkeit möglich ist, sich von ihrem Einfluß zu befreien, um die andersgearteten Begriffe einer frühern Epoche (in diesem Falle Heraklits) richtig und objektiv aufzufassen. Wenn Plato im Philebos die Erscheinungswelt für ein Produkt des leeren Raumes (τὸ μὴ ὄν, ἄπειρον) und der mathematischen Form (πέρας) erklärt, so können wir uns von diesen Begriffen kaum die entsprechende Vorstellung bilden.
Die meisten Versuche, Heraklits besondere Gedankengänge zu verstehen, werden beeinflußt durch diejenige Anschauung, welche der neuern Naturwissenschaft und sehr vielen Philosophen seit Hobbes eigen ist – und zwar nicht nur als »Arbeitshypothese« (Ostwald) –, welche das in der Anschauung Gegebene, infolge langer Denkgewöhnung beinahe mit Notwendigkeit, in eine aktive und eine passive Komponente zerlegt. Hier werden also zwei Größen unterschieden, die Materie und die selbständige, davon getrennte Energie, deren Objekt die Materie ist. Der zweite, in der griechischen Philosophie unbekannte Begriff ist durchaus substanziell aufzufassen. Infolgedessen ist aber das Bedürfnis, zu dieser Energie einen Träger, an den sie gebunden ist, vorzustellen, so stark, daß nach ihrer prinzipiellen Trennung von der Materie die Wellentheorie des Lichtes die Annahme einer zweiten Art von Materie, des Äthers, zur Folge hatte, nur weil man eine Größe mit diesen Merkmalen sich nicht ohne einen Träger wirkend vorstellen konnte. (Lord Kelvin hat nachgewiesen, daß dieser hypothetische Äther mit Eigenschaften, wie sie die Wellenbewegung der Lichtstrahlen voraussetzt, nicht existenzfähig ist.)
Ein körperlicher Träger der Bewegung ist nicht zur Vorstellung des Wirkens im Raume, der »Wirklichkeit«, notwendig. Die von Mach und Ostwald aufgestellte energetische Theorie steht darin der Idee Heraklits weit näher. Nachdem bereits die kritischen Philosophen des 18. Jahrhunderts die Dinge für zusammengeordnete Komplexe von Empfindungen erklärt und damit das Endziel beinahe aller philosophischen Forschung, das Begreifen der Dinge an sich, als unmöglich und irrtümlich nachgewiesen hatten, konnte man die Substanz nicht mehr material auffassen. Die Energetik erkennt diese Kritik wenigstens für den Begriff der Materie an und definiert die Natur als eine Summe von Energien (wobei dieser Begriff aber wieder durchaus substanziell gefaßt ist). »Wir erlangen unsere Kenntnis der Außenwelt nur dadurch, daß unsere Sinnesorgane in bestimmter Weise von den Objekten derselben erregt werden; die Art und Stärke dieser Erregungen schreiben wir den ›Eigenschaften‹ der Materie zu. Nehmen wir aber den Objekten jene Eigenschaften, so behalten wir nichts übrig, was unsern Erfahrungen zugänglich ist, und die Materie verschwindet bei dem Versuch, sie für sich zu denken« (Ostwald, Chem. Energie, 2. Aufl., S. 5). Diese Annäherung der Energetik an Heraklit ist wichtig, denn sie macht es zum ersten Male möglich, seine Gedanken in eine moderne, wissenschaftliche Form zu bringen. Das im Raum Vorhandene ist ausschließlich Energie: »Denken wir uns deren verschiedene Arten von der Materie fort, so bleibt nichts übrig, nicht einmal der Raum, den sie einnahm. Somit ist Materie nichts als eine räumlich zusammengeordnete Gruppe verschiedener Energien und alles, was wir von ihr aussagen wollen, sagen wir nur von diesen Energien aus« (Ostwald, Überwind. d. wissensch. Materialismus, S. 28). Auf diese Substanz läßt sich aber wieder die erwähnte Bestimmung Kants anwenden, daß sie selbst beharrt (das Gesetz J. R. Mayers) und nur ihre Art zu existieren sich ändert (die »Formen« der Energie, Licht, Wärme, Elektrizität).
Die griechische Anschauung ist von Anfang an eine andere. Der Begriff der Kraft ist erst von Galilei geschaffen worden und den Griechen unbekannt. Unterscheiden wir also zwischen Bewegung und Energie. Bewegung (ein Beziehungsbegriff) setzt nur ein Bewegtes voraus und nichts außerdem. Energie (die substanziell vorgestellte Ursache der Bewegung) ist selbst eine zweite Größe neben dem Bewegten, auch wenn dies wieder nur als Gruppe von Energien gedacht werden soll. Wir sagen: »Die Kraft greift an einem Punkte an.« Dagegen kennt die monistische griechische Philosophie nur immanente und ideelle Ursachen der Bewegung (ἀνάγκη, φιλία και νεῖκος, λόγος, τύχη); Demokrits Atome bewegen sich infolge der τύχη; es liegt in ihrer Natur, sich zu bewegen. Sie brauchen keine angreifende Energie. Für den griechischen Monismus ist damit das im Raum Vorhandene (am besten von Parmenides mit τὸ πλέον, das Raumerfüllende, bezeichnet) als einzige und unzerlegbare Substanz eine ganz andere Größe geworden. Dieser Begriff der Substanz ist es, den Heraklit leugnet.
Das erste Problem der griechischen Philosophie, für welches der Mythus eine Lücke ließ, aber auch keine Richtung gab, ist das des »Ursprungs« der Dinge. Das am Anfang der Welt liegende Chaos, das ein Grieche als qualitativ unbestimmbare, in ihrer Bewegung regellose Masse definiert haben würde, ließ die Idee eines Urstoffs entstehen. Ἀρχή ist ein Stoff. Nach der Meinung des Thales und Anaximenes besteht die Welt aus den qualitativen Verwandlungen dieses zuerst vorhandenen Stoffes. Die Bedeutung Anaximanders liegt darin, daß er für dessen Bestimmung die sinnlichen Qualitäten ausschaltete. Das ἄπειρον, als ἀρχή gedacht, ist ein der Wahrnehmung gänzlich entzogenes Etwas, dessen spezifische Einwirkung auf die Sinne erst Qualitäten und also Dinge entstehen läßt. Immerhin wird hier noch ein körperlich gedachter Hintergrund der Empfindungen angenommen. Die unbedingte Skepsis dem Substanzbegriff gegenüber ist schwer. Parmenides bemerkte mit Recht, daß alles Denken sich auf ein Sein bezieht, daß alles, was gedacht wird, in diesem Augenblick die Eigenschaft der Substanzialität erhält.
Da das griechische Denken keine Trennung von Bewegendem und Bewegtem kennt, und Heraklit die Einheit im Weltgeschehen ausdrücklich betont – sein Ausspruch ἐκ πάντων ἓν καὶ ἐξ ἑνὸς πάντα ist darin gleichbedeutend mit dem ἓν καὶ πᾶν des Xenophanes –, so muß die Annahme eines reinen, einheitlichen, unaufhörlichen »Werdens«, das die Eleaten leugnen,
Xenophanes bei Clem. Strom. V, 109 p. 714 P. (Diels Frg. 26):
Ἀιεὶ δ'ἒν ταὐτῶι μίμνει κινούμενος οὐδὲν
οὐδὲ μετέρχεσθαί μιν ἐπιπρέπει ἄλλοτε ἄλληι. den Substanzbegriff in jedem Sinne ausschließen.
In der Ausführung des Gedankens treten die äußersten Schwierigkeiten der sprachlichen Darstellung auf; einer der Fälle, wo wir bemerken, daß die Sprache selbst philosophische Grundsätze enthält. Unsere ganze Philosophie ist Berichtigung des Sprachgebrauchs, bemerkte Lichtenberg; »es wird also immer von uns wahre Philosophie mit der Sprache der falschen gelehrt.« Wir können die Leugnung des Seins sprachlich nicht genau ausdrücken. Οὐδὲν μένει, πάντα χωρεῖ: man fühlt, daß die Subjekte dieser Sätze bereits ein zuständliches Sein enthalten. Die Sprache ist eleatische Philosophie. –
Heraklit erklärt die Dinge grundsätzlich für eine in jedem Sinne erfolgende Veränderung: λέγει που Ἡ., ὅτι πάντα χωρεῖ καὶ οὐδὲν μένει (Plato, Cratyl. 402 A.) Diese vollkommene Verwandlung (μεταβολή; in Fr. 91, ἀνταμοιβή in Fr. 90) scheidet Plato (Theätet 181 B. ff.) in eine räumliche (περιφορά) und qualitative (ἀλλοίοσις). Es muß festgehalten werden, daß es für einen Griechen nur eine reale Größe in der Außenwelt gibt, um die Abweisung des Substanzbegriffs in diesem Gedanken zu finden. Heraklit gebraucht den Substanzbegriff, der ihm aus der Philosophie der Zeit hätte geläufig sein müssen (ἀρχή, ἄπειρον), niemals (Teichmüller Bd. I S. 147). Ebenfalls kennt er den aus der Annahme der bewegten Materie leicht folgenden Begriff des leeren Raumes nicht. Heraklit versuchte, einen angemessenen Ausdruck für seinen neuen Gedanken zu finden. In den Sätzen: συνάψιες ὅλα καὶ ουχ ὅλα, συμφερόμενον διαφερόμενον, συνᾶιδον διᾶιδον, καὶ ἐκ πάντων ἓν καὶ ἐξ ἑνὸς πάντα (Fr. 10) und: γνώμην, ὁτέη ἐκυβέρνησε πάντα διὰ πάντων (Fr. 41. Vgl. Pseudo-Linus 13 Mullach: κατ' ἔριν συνάπαντα κυβερνᾶται διὰ παντός) sieht man zweifellos den Versuch einer energetischen Formel, um das reine, nicht an Materie gebundene Wirken im Raume auszudrücken.
Dieses Wirken ist der sinnlichen Wahrnehmung entzogen. Was wir sehen und fühlen, ist immer ein Seiendes, ein beharrender Zustand θάνατός (seiend, unbewegt) ἐστιν, ὁκόσα ἐγερθέντες ὁρέομεν (Fr. 21). Die Sinne täuschen: Diese Einsicht machte ihn zu einem Skeptiker der Erkenntnis. Der Hintergrund der uns umgebenden körperlichen Welt, das im Raum wirkende »Werden«, ist nicht erkennbar. Heraklit redet von einer unsichtbaren Harmonie gegenüber der sichtbaren in der Erscheinungswelt (ἁρμονίη ἀφανὴς φανερῆς κρείττων Fr. 54). Dasselbe will Fr. 123 sagen: φύσις κρύπτεσθαι φιλεῖ, die Natur pflegt verborgen zu sein; φιλεῖ nicht: liebt es, sich zu verbergen. Das Wort soll nicht so persönlich klingen. Vgl. φιλεῖ in Fr. 87 nach Diels: Ein hohler Mensch pflegt bei jedem Wort starr dazustehen. in der Natur ist das tiefere Wesen nicht ohne weiteres erkennbar, man muß den Eindruck der Sinne erst deuten. Diese Erscheinung des energetischen Prozesses für uns ist außerdem eine verschiedenartige: ὁ θεὸς … (= φύσις, κόσμος) ἀλλοιοῦται δὲ ὅκωσπερ <πῦρ>, ὁπόταν συμμιγῆι θυώμασιν, ὀνομάζεται καθ' ἡδονὴν ἑκάστου (Fr. 67).
Aus dieser Theorie folgt notwendig, daß das Werden und Fließen ein ununterbrochenes sein muß: ὁ κυκεὼν διίσταται <μὴ>;) κινούμενος (Fr. 125). Dies Bild vom Mischtrank ist ein Beispiel für die Meisterschaft, mit der Heraklit seinen Ideen eine glückliche Anschaulichkeit zu geben weiß. (Nietzsche macht auf das Treffende des Ausdrucks »Wirklichkeit« aufmerksam.) Ein Ausgleich des antagonistischen Wirkens würde Ruhe für immer sein. Es ist für die Existenz des Kosmos notwendig, daß sich unaufhörlich differente Spannungen gegenüberstehen, widerstreben, aneinander messen; es darf kein Augenblick der Ruhe eintreten, fortwährend muß ein Minimum des Unausgeglichenen im Raume vorhanden sein. Dasselbe bedeutet die Lehre von der Entropie, eine Grundlage der modernen theoretischen Physik. Wir haben uns das ewige Wirken als An- und Abschwellen von Spannungen (Gegensätzen) zu denken. Ein Versuch, dies auszusprechen, ist Fr. 91: ἀλλ' ὀξύτητι καὶ τάχει μεταβολῆς σκίδνησι καὶ πάλιν συνάγει καὶ πρόσεισι καὶ ἄπεισι. Als prägnante Wendungen für diesen Gedanken finden sich die beinahe gleichbedeutenden Ausdrücke συμφερόμενον διαφερόμενον (in Fr. 10: συνάψιες ὅλα καὶ οὐχ ὅλα, συμφερόμενον διαφερόμενον, συνᾶιδον διᾶιδον κτλ. Plato Soph. 242 e: διαφερόμενον ἀεὶ ξυμφέρεται. Luc. vit. auct. αἰὼν παῖς ἐστι παίζων πεσσεύων συνδιαφερόμενος. Plato Symp. 187 A: τὸ ἕν γὰρ φησι διαφερόμενον ἀυτὸ αὑτῷ ξυμφέρεσθαι.) und ὁδὸς ἄνω κάτω (in Fr. 60: ὁδὸς ἄνω κάτω μία καὶ ὡυτή. Diog. Laert. IX, 8: καλεῖσθαι μεταβολὴν [vgl. Fr. 91] ὁδὸν ἄνω κάτω). Diese Vorstellung, daß das Wirken im Raume, also das An- und Abschwellen entgegenstehender Spannungen, in der Weise erfolgt, daß unaufhörlich ein Streben nach Ausgleichung vorhanden ist, kennt die Energetik als das Helmsche Gesetz: Jede Energieform hat das Bestreben, von Stellen, in welchen sie in höherer Intensität vorhanden ist, zu Stellen von niederer Intensität überzugehen (Helm, Lehre von der Energie, S. 59 ff.). Der Unterschied liegt ausschließlich in der nichtsubstanziellen Vorstellungsweise Heraklits. Der Versuch, dieser abstrakten Erwägung in einem dem Auge verständlichen und gefälligen Bilde Gestalt zu geben – eine Neigung, der Heraklit am leichtesten und liebsten nachgibt – führt zuletzt auf die Vorstellung einer wellenförmigen Bewegung. (Es ist die einzige leicht übersehbare Vorstellung einer an den Ort gebundenen Bewegung.) Der Jonier, der täglich den Blick auf das Meer richten konnte, mußte wissen, wie sehr sich in seiner Bewegung, von der leichtgeschwungenen Linie bis zu den hohen mäandrischen Wellenzügen, die Unruhe einer erstrebten und nie erreichten Vereinigung spiegelt. In diesem Sinne, halb Abstraktion und halb künstlerische Anschauung, darf man wohl die παλίντροπος ἁρμονίη κόσμου, ὅκωσπερ τόξου καὶ λύρης (Fr. 51) verstehen. Die meist symbolisch aufgefaßt wurde; von Lassalle (I S. 114) als Symbol des apollinischen Kultes, von Pfleiderer (S. 90) und Schäfer (S. 76) als Symbole des heitern Lebens und des Todes, was für Heraklit viel zu sentimental ist; dagegen als Bild des Weltprozesses von Bernays (Ges. Abh. I S. 41) und von Zeller (I S. 548). Die Linie des altgriechischen Bogens ist derjenigen der Leier gleich (Arist. Rhet. III, 11 p. 1412 h 35: τόξον φόρμιγξ ἄχορδος), eine ebenmäßig geschwungene Kurve, deren Enden sich nähern. Man könnte, um Heraklits Vorstellung der Linien der ausgleichsuchenden Gegensätze näherzukommen, an die Arsis und Thesis der Metrik und die Tonlinie von Melodien denken. So vermeidet man den Irrtum einer Annahme schwingender Teilchen. Diese Vorstellung gilt im ganzen Umfange des Kosmos: τὸ ἕν γὰρ φησι διαφερόμενον αὐτὸ αὑτῷ ξυμφέρεσθαι ὥσπερ ἁρμονίαν τόξου καὶ λύρας (Plato Symp. 187 A). Ein Vergleich läßt die Bedeutung dieser Idee vollkommen übersehen: ἣν (ἀνάγκην) εἱμαρμένην ὁι πολλοὶ καλοῦσιν, Ἐμπεδοκλῆς δὲ φιλίαν ὁμοῦ καὶ νεῖκος·Ἡ. δὲ παλίντροπον ἁρμονίην κόσμου ὅκωσπερ λύρας καὶ τόξου. (Plut. de anim. procr. 27 p. 1026). Wenn man sich erinnert, was die εἱμαρένη, das große, überall und unbedingt waltende Schicksal, in der Vorstellung eines Griechen ist, wird man auch den Sinn der Harmonie Heraklits (die mit λόγος oder νόμος gleichbedeutend ist) verstehen.
Alle diese Versuche, eine neue Anschauung des Geschehens zu gewinnen, entspringen aus der Leugnung des beharrenden Seins. Alles ist nicht etwa im Fluß begriffen – »alles« wäre immer noch ein Sein –, sondern der Hintergrund der Erscheinung ist ausschließlich als reines Wirken, wenn man will, als Summe von Spannungen, zu denken.
2. Das Feuer
Heraklit erwähnt das Feuer in einer Weise, die uns zwingt, es als Sein, als Zustand zu denken; es gibt also selbst für ihn in der Welt der Erscheinungen Zustände – im wesentlichen mit den Aggregatzuständen zusammenfallend –, die in diesem System, wo der Begriff der Substanz abgewiesen wird, eine Erklärung herausfordern. Die Tatsache, daß es in der Natur scheinbar Zustände der Ruhe gibt (aus denen die Annahme von beharrenden Substanzen erst entstand), kann nicht bestritten werden. Heraklit erwähnt sie (θάνατός ἐστιν, ὁκόσα ἐγερθέντες ὁρέομεν. Fr. 21) und schreibt sie dem Trug der Sinne zu. Dem Auge ist es verwehrt, das Werden und Fließen zu sehen (Fr. 54 und 123. Siehe S. 18). Es erscheint dem Menschen unter mehreren typischen Gestalten, Formen der sinnlichen Erscheinung (γῆ, πῦρ, θάλασσα, πρηστήρ; es sind bereits die Elemente des Empedokles), die untereinander wechselnd und von vorübergehendem Dasein sind. Sie haben eine rein subjektive Realität. Man sprach früher von Licht, Wärme, Elektrizität als von Naturkräften. Heute bezeichnet man sie in ähnlicher Absicht als Formen der Energie, indem man stillschweigend annimmt, daß sie als Erscheinungsformen der »Energie an sich«, jener unerkennbaren Ursache des Geschehens gelten sollen. So denkt sich Heraklit das Feuer, das Meer, die Erde und den Sturm – Dinge, die nur scheinbar das Sein und die Dauer haben, die sie dem erkennenden Geist einreden möchten, und die, dem Auge entrückt, nichts mehr sind als ewiges ruheloses Fließen und Werden, eins wie das andere.
Damit ist der Begriff des Feuers gegeben: eine Erscheinungsform des kosmischen Prozesses, aber noch nicht seine Bedeutung. Heraklit zeichnet diese Naturerscheinung, die an sich nichts vor den andern voraus haben sollte, in einer geheimnisvollen Weise aus. Um dieser hohen Bedeutung willen konnte man glauben, hier den Hauptpunkt der ganzen Lehre gefunden zu haben; auch der hierin liegende Gedanke ist vielen Mißverständnissen ausgesetzt gewesen. Die Auffassung des Feuers lediglich als Symbol der Veränderung In diesem Sinne besonders Schleiermacher und Zeller, der meint, Heraklit habe das Symbol von der sinnlichen Form noch nicht trennen können. darf als abgetan gelten; eine verdunkelnde Symbolik sucht man bei diesem Philosophen nicht mehr. Aber es ist unverständlich, wie die Vorstellung und Bezeichnung des Feuers als ἀρχή von Aristoteles an üblich sein konnte. Simpl. in Arist. Phys. 6a: Ἵππασος καὶ Ἡρακλ. πῦρ ἐποιήσαντο τὴν ἀρχήν. Zeller (I S. 541): »der Stoff, in welchem der Grund und das Wesen aller Dinge gesucht wird«. Teichmüller (I S. 135): der Grundstoff »wie die Luft des Anaximenes und das Wasser des Thales«. Pfleiderer (S. 119 ff.): »das sekundäre Konkretum zu den metaphysischen Ideen«. Auch Gomperz, Lassalle, Heinze (Lehre vom Logos S. 4) bezeichnen das Feuer als Stoff. Ἀρχή ist ein sehr spezieller Begriff, der wegen vieler von ihm nicht trennbarer Annahmen nur in beschränkter Weise angewendet werden kann. Die Jonier haben ihn gebildet; er schließt, wenn man ihn richtig versteht, das ganze System dieser Philosophen ein. Vor allem enthält er den Gedanken der Entwicklung und Rückverwandlung in einen normalen Zustand. Die Frage der Jonier lautete: Woraus sind die Dinge entstanden? Es wird ein Stoff, und zwar ein zeitlich und physikalisch ursprünglicher angenommen (denn ἀρχή bedeutet beides), der bei Anaximander Qualitäten annimmt, während er selbst bleibt. Trotz qualitativer Veränderlichkeit hat die ἀρχή die begrifflichen Merkmale eines Stoffes. Nach Anaximenes entstehen aus der Luft die andern Zustände durch eine räumliche (Volum-) Änderung dieses anfänglichen Stoffes (πύκνωσις, μάνωσις), eine Ansicht, die derjenigen Demokrits nicht widerspricht. Wie konnte man Heraklit mit diesem Problem in Verbindung bringen! Keiner seiner Aussprüche steht zu dieser Frage in einem Verhältnis. Heraklit kennt keine Substanz, das allein ist entscheidend; er kennt aber auch die Idee der Entwicklung aus einem ursprünglichen und normalen Zustand nicht. Es ist unmöglich, im Zusammenhang seiner Gedanken nach einem Urstoff zu fragen. Sein Problem war: Wie vollzieht sich der kosmische Prozeß? Die angeblichen Zustände und Stoffe sind in Wahrheit die wechselnde Form seiner Erscheinung: πυρὸς τροπαὶ πρῶτον θάλασσα, θαλάσσης δε τὸ μὲν ἥμισυ γῆ, τὸ δε ἥμισυ πρηστήρ (Fr. 31). Das Feuer gilt also nicht als Stoff, sondern als τροπή (ἀνταμοιβή in Fr. 90). Dieser Begriff ist wertvoll. Τροπή und ἀρχή sind die stärksten Gegensätze, ἀρχή eine Substanz, etwas an sich bestehendes und beharrendes, τροπή eine Metamorphose, eine Form. Als ἀρχή kann immer nur einer der vorhandenen Stoffe angenommen werden, der aus irgendwelchen Gründen zuerst vorhanden ist; die übrigen sind von ihm abhängig. Τροπή ist das Feuer und jede andere Erscheinung gleichmäßig. Man frage sich, ob Anaximander diesen Ausdruck hätte gebrauchen können.
Heraklit stellte das Feuer unter den an sich gleichberechtigten Arten der Erscheinung in den Mittelpunkt. Der Grund dieser Wahl ist in dem weniger wissenschaftlichen als künstlerischen Charakter seines Denkens zu finden. Ihn leitete hier dasselbe Gefühl, welches das Feuer und die Sonne zu allen Zeiten zum Gegenstand religiöser Verehrung gemacht hat. Dieses geheimnisvollste, edelste, reinste aller Naturphänomene erschien dem Menschen einer ferngelegenen Zeit als etwas Heiliges, und Heraklits ehrfürchtige und für das ästhetisch Eindrucksvolle empfängliche Natur entzog sich diesem Eindruck nicht. Er sah hier am reinsten den Charakter des Ruhelosen dargestellt (πῦρ ἀείζωον). Das sagte seiner Neigung für Anschaulichkeit zu. Das Feuer ist die furchtbarste und machtvollste der elementaren Gewalten, welche die Natur wahrhaft beherrscht. Deshalb liebte er es (τὰ δὲ πάντα οἰακίζει κεραυνός Fr. 64. Πάντα γὰρ τὸ πῦρ επελθὸν κρινεῖ καὶ καταλήψεται Fr. 66). Einen wissenschaftlichen Grund der Bevorzugung findet man nicht, und es ist auch nicht wahrscheinlich, daß er sich auf solche Gründe stützen wollte oder konnte. – Die sichtbare Gestalt der kosmischen Bewegung ändert sich unaufhörlich. Das Feuer als eine der möglichen Formen (τροπαί) ist, wenn auch die schönste und vornehmste, so doch nicht eine physikalisch wichtigere oder ursprünglichere, wie es ein Stoff, die ἀρχή sein kann. Es ist eine Erscheinungsform wie jede andere, vergänglich wie jede andere: πυρός τε ἀνταμοιβὴ τὰ πάντα καὶ πῦρ ἁπάντων ὅκωσπερ χρυσοῦ χρήματα παὶ χρημάτων χρυσός Fr. 90). Die τροπαί sind in fortwährender gegenseitiger Ablösung begriffen; es macht dies eine Seite ihres Wesens aus. Heraklit hat ein glückliches Wort für diesen Wechsel gleichwertiger Erscheinungen gefunden: ζῆι πῦρ τὸν ἀέρος θάνατον καὶ ἀὴρ ζῆι τὸν πυρὸς θάνατον, ὕδωρ ζῆι τὸν γῆς θάνατον, γῆ τὸν ὕδατος (Fr. 76). Man wird die Absicht dieses Ausdrucks verstehen: Die augenblickliche Vorherrschaft der einen Form bedingt bereits eine Machtsteigerung der andern, die endlich einen Grad erreicht, der einen Wechsel herbeiführen muß. Dabei gilt das Feuer – wie gesagt, nicht physikalisch, sondern ästhetisch – als die vollkommenste der denkbaren Formen. »Es gibt nach Heraklit eine Wertabstufung in den Elementen, die sich nach ihrem Abstande von dem bewegten und aus sich selbst lebendigen Feuer bestimmt« (E. Rohde, Psyche II S. 146). Der Kosmos, die große Ordnung des Verlaufs alles Weltgeschehens, ist in einem bestimmten Sinne wirklich mit dem Feuer identisch (κόσμον τόνδε, τὸν αὐτὸν ἁπάντων οὔτε τισ θεῶν οὔτε ανθρώπων ἐποίησε, ἀλλ' ἦν αἰεὶ καὶ ἔστι καὶ ἔσται πῦρ ἀείζωον, ἁπτόμενον μέτρα καὶ ἀποσβεννύμενον μέτρα Fr. 30). In Heraklits Meinung ist dem Weltall, der erhabenen Natur, die erhabenste, reinste, edelste Gestalt angemessen und natürlich; der Kosmos ist mithin nur dann im Zustande der Vollkommenheit, wenn das Wenden ausschließlich die Gestalt des Feuers angenommen hat, ein Zustand, der im Lauf der Zeiten regelmäßig wiederkehrt (Fr. 30, 66). Alle andern Gestalten (das Feste, Flüssige, Luftartige) erscheinen im Vergleich zu der Schönheit und Gewalt dieser als minderwertig. (Darauf zielen die Worte χρησμοσύνη und κόρος Fr. 65. Teichmüller [I S. 136 ff.] sieht hier mit Recht eine Andeutung und Abart derjenigen griechischen Idee, die in der Entelechie des Aristoteles, dem Wege vom Potentiellen zum Aktuellen, ausgebildet erscheint.)
3. Πάντα ῥεῖ als formales Prinzip der organischen Natur
Wir kommen auf das andere, man kann sagen äußere Anwendungsgebiet des heraklitischen Bewegungsprinzips, die sichtbaren und handgreiflichen Veränderungen in der Natur, die uns umgibt. Der in der Formel Πάντα ῥεῖ enthaltene Grundgedanke tritt hier auf als formales Prinzip des Lebens und Geschehens jeder Art. Wir haben also zwischen dem nie erkennbaren Hintergrund der Dinge, dem eigentlichen Werden und Wirken, und seiner äußern Erscheinung als Welt der Sinne zu unterscheiden. Die Anwendung auf das letzte Gebiet ist die von allen anerkannte und leicht begreifliche, meist allein unter πάντα ῥεῖ verstandene.
Unsichtbar ist nur die Ruhelosigkeit des energetischen Prozesses (wie es etwa auch die Ätherwellen des Lichtes sind); die Veränderungen der Erscheinungswelt sieht jeder, sie machen das aus, was man volkstümlich das »Leben der Natur« nennt. Der zweite Unterschied ist wichtiger. Dem Geschehen in der Natur fehlt der Anschein der Gesetzmäßigkeit, einer strengen, sich gleichbleibenden Regel. In dem Wachstum einer Pflanze, dem Wellenspiel der Brandung, dem Verlauf atmosphärischer Ereignisse pflegt der Mensch diesen Eindruck nicht zu haben. Man kann hier nicht von einer gleichmäßigen, nicht einmal einer unaufhörlichen Veränderung in allen Fällen sprechen. Im energetischen Prozeß ist die Bewegung denknotwendig, sogar eine Tautologie; hier ist sie möglich, höchstens die Regel. Vor Heraklit hatte niemand hier eine Regel bemerkt. Der einfache Augenschein lehrt, daß diesem Leben und Geschehen der Rhythmus fehlt. Deshalb gilt dem künstlerischen Blick Heraklits die Harmonie der Erscheinung (die er gleichwohl annimmt) weniger als jene andere, aus einer metrischen Regelmäßigkeit entspringende, nur vorgestellte (ἁρμονίη γὰρ ἀφανὴς φανερῆς κρείττων Fr. 54).
Die Verwandlung selbst entgeht niemandem, nur ihr Gesetz ist verborgen. Aber es ist da, wenn man es zu finden weiß. Und es ist dasselbe wie das des ewigen Wirkens. Der Ausdruck ὁδὸς ἄνω κάτω findet sich mit Beziehung auf die Erscheinungswelt: μεταβολὴν ὁρᾷς σωμάτων καὶ γενέσεως ἀλλαγὴν, ὁδὸν ἄνω καὶ κάτω, κατὰ τὸν Ἡ. (Maxim. Tyr. XII, 4 p. 489). Das ist ein großer Gedanke. Es war Heraklits Meinung, daß die Natur wesentlich unter dem Eindruck dieser Veränderung steht, die ebenfalls eine vollkommene und allgemeine ist: ποταμῶι γὰρ οὐκ ἔστιν ἐμβῆναι δὶς τῶι αὐτῶι οὐδὲ θνητῆς οὐσίας δὶς ἅπτεσθαι κατὰ ἕξιν (Fr. 91). Dieser Gedanke hat, wie es einer allgemeinen Neigung Heraklit gegenüber entspricht, eine moralisierende, den einfachen Sinn ganz aufhebende Auslegung erfahren. Schuster erklärt ihn so, daß »kein Ding in der Welt dem schließlichen Untergang entgehe« (S. 201 f.) und Lassalle zitiert als Seitenstück den Vers: »Alles, was entsteht, ist wert, daß es zugrunde geht« (I S. 374). Damit ist gerade das Tiefste der Idee verkannt. Heraklit will einer teleologischen Auffassung des Seins widersprechen. Teichmüller (I S. 137) glaubt eine gewisse Teleologie zu entdecken, ohne sie jedoch beweisen zu können. Er sieht den »Lauf der Welt« ewig gleich, ohne Anfang und Ende: κόσμον τὸν αὐτὸν ἁπάντων οὔτε τις θεῶν οὔτε ἀνθρώπων ἐποίησε, ἀλλ' ἦν αἰεὶ καὶ ἔστιν καὶ ἔσται κτλ. (Fr. 30). Der Wechsel der Erscheinungen ist immer derselbe, immer sich wiederholend; diese Vorstellung verdichtete sich zu einer Lehre der ewigen Wiederkunft. Jeder Versuch eines Entwicklungsgedankens, wie ihn bereits Anaximander hat (biologisch), fehlt hier gänzlich, ebenso jede Heranziehung des Kausalitätsbegriffes. Es gibt für diese Vorstellung kein besseres Bild als das von Heraklit selbst gewählte: ποταμοῖσι τοῖσιν αὐτοῖσιν ἐμβαίνουσιν ἕτερα καὶ ἕτερα ὓδατα ἐπιῤῥεῖ (Fr. 12). Wir sehen den Verlauf der Welt, als stünden wir am Ufer eines Flusses; unaufhörlich fließt er vorüber, immer gleich, ohne Anfang und Ende, ohne Ursache oder Ziel. Wir können das Geschehen im Kosmos nur seinem Charakter nach begreifen, nicht als Ereignis im ganzen übersehen.
Heraklits Auffassung des Lebens ist ein merkwürdiges Beispiel für diese Idee: ὁ τῆς γενέσεως ποταμὸς οὕτως ενδελεχῶς ῥέων οὔποτε στήσεται. Plut. cons. ad Apoll. 10. (Vgl. Bernays Rh. Mus. Bd. I S. 50.) Die vorhergehenden Sätze enthalten heraklitische Gedanken und beweisen obige Auffassung: ταῦτό τ'ἔνι ζῶν καὶ τεθνηκὸς καὶ τὸ ἐγρηγορὸς καὶ τὸ καθεῦδον καὶ νέον καὶ γηραιόν· τάδε γὰρ μεταπεσόντα ἐκεῖνά ἐστι κἀκεῖνα πάλιν μεταπεσόντα ταῦτα … Οὕτω ἡ φύσις ἐκ τῆς αυτῆς ὕλης πάλαι μὲν τοὺς προγόνους ἡμῶν ἀνέσχεν, εἶτα συγχέασ' αὐτοὺς ἐγέννησε τοὺς πατέρας, εἶτα ἡμᾶς, εἶτ' ἄλλους ἐπ' ἄλλοις ἀνακυκλήσει. καὶ ὁ τῆς γενέσεως ποταμὸς οὗτος ἐνδελεχῶς ῥέων οὔποτε στήσεται. Statt des einzelnen Lebewesens nimmt er die ganze Folge eines Geschlechts als Individuum, dessen Phasen (das Leben des einzelnen) nur Augenblicke und Abschnitte einer großen und ununterbrochenen Metamorphose sind. Nach dieser mehr morphologischen als physiologischen Anschauung hat man sich das Leben als Wechsel von Jugend und Alter, von Zunahme und Abnahme an Kraft zu denken (Ἄνθρωπος, ὅκως ἐν εὐφρόνῃ φάος, ἅπτεται ἀποσπέννυται nach Byw. Fr. 77, bei Diels verändert und ausführlicher). Diese Vorstellung läßt den Sinn der Wendung ζῆν τὸν θάνατον erst ganz deutlich werden. In einem andern Ausspruch: γενόμενοι ζώειν ἐθέλουσι μόρους τ'ἔχειν. μᾶλλον δὲ ἀναπαύεσθαι καὶ παῖδας καταλείπουσι μόρους γενέσθαι (Fr. 20) ist das Wort ἀναπαύεσθαι, ein Ausruhen zwischen zwei Abschnitten höchster Lebenstätigkeit, als Unterstützung dieser Auffassung wichtig.
Eine Konsequenz der beständigen Veränderung der Sinnenwelt – die folgerichtig auch auf den erkennenden Menschen ausgedehnt werden muß – ist der Zweifel an der Erkenntnis. Vor Heraklit hatte hier niemand ein Problem gesehen und es ist ein Beweis großer Energie des Denkens, den unbewußten Stolz überwunden zu haben, den eine Zeit, in der das philosophische Denken erst entsteht, darauf zu setzen pflegt. Aus den Grundzügen dieser Lehre hätte sich ein völliger Agnostizismus entwickeln lassen und Protagoras hat diesen Schritt wirklich getan, aber Heraklit war zu kraftvoll und positiv angelegt, um durch eine verneinende Stimmung seiner Philosophie eigentlich die Berechtigung zu nehmen, er konnte in den Hauptfragen nicht mißtrauisch und ablehnend sein (wie es Lassalle durch Anführung jenes Faustzitats sagen will). Die Erkenntnislehre gehört nicht zu den wichtigen Problemen Heraklits. Nur weil sie den großen Hauptgedanken in ein schärferes Licht rückt, indem sie eine Einsicht in den ruhelosen, immer sich wandelnden Charakter der Welt und eine Überwindung des Augenscheins fordert, kann sie in diesem Zusammenhang Beachtung finden. (Fr. 21: θάνατός ἐστιν ὁκόσα ἐγερθεντες ὁρέομεν: die Außenwelt ist scheinbar ruhend. Arist. Metaph. I, 6: ὡς αἰσθητῶν ἀεὶ ῥεόντων καὶ ἐπιστήμης περὶ αὐτῶν οὐκ οὔσης. Diese Skepsis richtet sich nur gegen eine Wissenschaft, die bleibende Verhältnisse zugrunde legt. Fr. 107: κακοὶ μάρτυρες ἀνθρώποισιν ὀφθαλμοὶ καὶ ᾦτα βαρβάρους ψυχὰς ἐχόντων, d. h. für Menschen, die kritiklos bei der bloßen Sinneswahrnehmung stehen bleiben.)
Alle Schöpfungen der Kultur, Staat, Gesellschaft, Sitten, Anschauungen, sind Produkte der Natur; sie unterliegen denselben Bedingungen des Daseins wie die übrigen, dem strengen Gesetz, daß nichts bleibt und alles sich verändert. Es ist eine der größten Entdeckungen Heraklits, diese innere Verwandtschaft von Kultur und Natur bemerkt zu haben. Der Widerstand und Ausgleich entgegenstehender Spannungen bedeutet dasselbe für das energetische Geschehen, was der Krieg für das Dasein der Menschen. (Fr. 8: πάντα κατ' ἔριν γίνεσθαι.) Der Krieg rechtfertigt die aristokratische Rangordnung, die Heraklit liebte. Es kann keine ewigen und bleibenden Verhältnisse geben, Götter und Menschen, Freie und Sklaven sind dem Gesetz einer notwendigen Wandlung unterworfen (Fr. 53). Heraklit wußte genau, daß die Aristokratie damals in Griechenland untergehen mußte.
Es kann in diesem Chaos der Verwandlungen keine bleibenden Werte geben; das ist die letzte Folge einer solchen Anschauungsweise. Diese Erkenntnis, gegen die sich der Geist am längsten wehrt, vertrat Heraklit nachdrücklich. Wir haben ein vollkommen zu Ende gedachtes System des Relativismus vor uns. In der Tat: wo es keinen Stillstand und Ruhepunkt gibt, können die Begriffe der Ethik und Ästhetik nur für den einzelnen geltend und nur von Fall zu Fall angewandt werden. So ist es mit den Wertschätzungen körperlicher Schönheit (Fr. 82, 83), der Klugheit (ἀνὴρ νήπιος ἤκουσε πρὸς δαίμονος. ὅκωσπερ παῖς πρὸς ανδρός Fr. 79), des Kostbaren, Angenehmen, Nützlichen (ὄνους σύρματ' ἂν ἑλέσθαι μᾶλλον ἢ χρυσόν Fr. 9; Fr. 37, 58, 61, 110-111). Die Werte und Eigenschaften der Dinge liegen zwischen zwei Extremen und sind nur einer subjektiven Anwendung fähig.
Wir lernten den Gedanken der reinen Bewegung in der Fassung πάντα ῥεῖ kennen. Es gibt noch eine zweite Gestalt desselben Gedankens, die sich nur durch den veränderten Standpunkt des Beobachters unterscheidet. Man kann den gesamten Prozeß des Geschehenden als Einheit sich vorstellen; dann erhält man den Eindruck des Anfangs- und Endlosen, des Mangels an einem Ruhe- und Anhaltspunkt, des Flusses im eigentlichsten Sinne. Wir können dann denselben Prozeß hinsichtlich seiner einzelnen Phasen – im Nebeneinander und Nacheinander – betrachten und die reihebildenden Einzelzustände ihrem wechselseitigen Verhältnis nach vergleichen. Diese Ausschnitte aus dem ununterbrochenen Ablauf des Geschehens (die Dinge, Zustände, Eigenschaften der Dinge sind solche), subjektiv herausgehoben, sind verschiedener Art, schließen sich aus, stehen im Gegensatz zueinander. In diesem geistigen Akte liegt der Ursprung des Gegensatzes; er entsteht durch Vergleich; ein Gegensatz kann nur in dem Verhältnis des einen zu einem andern gleichfalls gegebenen Faktor liegen. Wir haben gesehen, wie der Satz: πάντα ῥεῖ einer zweifachen Anwendung fähig war. Die Lehre von den Gegensätzen folgt dem nach.
Es wird irrtümlich behauptet, Heraklit habe die Gegensätze geleugnet oder für identisch erklärt (Lassalle II S. 266). Im Gegenteil, Heraklit hat die Gegensätze betont, schon weil er ein Aristokrat war, der das »Pathos der Distanz« im höchsten Maße besaß und dem es gar nicht einfiel, Unterschiede abschwächen oder bestreiten zu wollen. Er redet nicht von einer Identität der Gegensätze – eine contradictio in adjecto –, sondern von einer Identität der Herkunft und des relativen Charakters der Gegensätze. Nicht der Gegensatz, sondern seine objektive Realität wird bestritten.
Heraklit sagt allerdings meist ziemlich undeutlich und irreführend, daß zwei Extreme »dasselbe« seien: ταυτό τ'ἔνι ζῶν καὶ τεθνηκός (Fr. 88), oder: οὐδὲ σκότος οὐδὲ φῶς, ουδὲ πονερὸν οὐδὲ ἀγαθὸν ἕτερόν φησιν εἶναι ὁ Ἡ., ἀλλὰ ἕν καὶ τὸ αυτό. (Hippol. ref. haer. IX, 10). Endlich in einem Ausspruch gegen Hesiod, »ὅστις ἡμέρην καὶ εὐφρόνην οὐκ εγίνωσκεν. ἔστι γὰρ ἕν.« (Fr. 57.) Es kann sich nach allen früheren Voraussetzungen überall nur um ein Urteil über die Form dieser Erscheinungen handeln. Sie sind gleich als Augenblicke in ein und demselben Verlauf, als Kontraste, die gleichmäßig in einer Erregung der Sinne bestehen und die nur durch diesen wechselseitigen Kontrast sich aus einer Unendlichkeit des Geschehens abheben und dadurch für die Sinne zu existieren beginnen. In einem weitern Ausspruch: οὐ ξυνιᾶσιν, ὅκως διαφερόμενον ἑουτῶι ὁμολογέει; (Fr. 51) ist der letztere Ausdruck zweifellos mit Absicht seiner Verwandtschaft zu λόγος wegen gewählt, welches Wort in dieser Lehre die formvolle gesetzmäßige Ordnung bezeichnet. Ὁμολογεῖν ist also zu übersetzen: der Form, der Beziehung nach übereinstimmen. In diesem Sinne sind die angeführten Aussprüche zu verstehen. Es handelt sich nur um Identität der Form. Der Satz, daß gut und böse dasselbe sei (Fr. 58 aus Arist. Top. VIII, 5, 159b 30: ἀγαθὸν καὶ κακὸν εἶναι ταὐτόν) ist also nicht im Sinne Nietzsches zu verstehen. Es gibt noch eine genauere Ausführung dieses Gedankens: ὡς Ἡ. τὸ ἀγαθὸν καὶ τὸ κακὸν εἰς ταυτὸ λέγειν συνιέναι δίκην τόξου καὶ λύρας (Simpl. in Phys. fol. 11a). Hier erscheint wieder das bekannte Bild, in dem der Verlauf des antagonistischen Werdens sich vorzüglich darstellt. Die Absicht Heraklits ist nicht zu verkennen: Die gegensätzlichen Tatsachen sind insofern identisch, als jede erst im Hinblick auf die andere, durch das Dasein der andern vorhanden ist. In dieser wechselseitigen Abhängigkeit sind sie einander gleich. Deutlich liegt dieser Gedanke in folgendem Aphorismus: ταὐτό τ'ἔνι ζῶν καὶ τεθνηκός καὶ τὸ ἐγρηγορὸς καὶ καθεῦδον, καὶ νέον καὶ γηραιόν. τάδε γὰρ μεταπεσόντα ἐκεῖνά ἐστι κἀκεῖνα πάλιν μεταπεσόντα ταῦτα. (Fr. 88). Das Umschlagen in das Gegenteil ist nur möglich unter der Voraussetzung völlig gleicher Merkmale. Wir empfinden den Gegensatz in aller Stärke; es lag Heraklit ganz fern, das bestreiten zu wollen; für uns sind die Gegensätze von allerrealstem Dasein. Aber sie sind nichts an und für sich Bestehendes, nichts Bleibendes, vor allem nichts, das ohne sein Gegenteil sein kann.
Es ist ein großer Beweis für Heraklits Urteilskraft, der volkstümlichen Meinung und dem mächtigen und täuschenden Urteil der Sinne zum Trotz das Phänomen des Gegensatzes richtig verstanden zu haben. Erst aneinander und von uns gemessen entstehen die gegensätzlichen Werte. Die vielen, Heraklits Stil charakterisierenden Antithesen sollen nichts als diesen Lieblingsgedanken verkörpern. Der subjektive Ursprung der Wertbegriffe hat zur Folge, daß Eigenschaften immer zwischen zwei Extremen liegen müssen, indem das Fehlen der einen schon gleichbedeutend mit dem Dasein der andern ist. Heraklit gebrauchte für diese Beziehung die Wendung ζῆν τὸν θάνατον in den Sätzen: ζῆι πῦρ τὸν αέρος θάνατον καὶ ἀὴρ ζῆι τὸν πυρὸς θάνατον, ὕδορ ζῆι τὸν γῆς θάνατον, γῆ τὸν ὕδατος (Fr. 76); ζῆν ἡμᾶς τὸν ἐκείνων (ψυχῶν) θάνατον καὶ ζῆν ἐκείνας τὸν ἡμέτερον θάνατον (Fr. 77). (Vgl. Plut. de E. 18, 392. Fr. 76 Diels: πυρὸς θάνατος ἀέρι γένεσις. Siehe auch Fr. 62.) In diesem Sinne faßt er das Problem von Gut und Böse auf; nicht ethisch, indem er die Anwendung dieser Wertbegriffe regelt, sondern rein psychologisch, indem er ihren Ursprung klarstellt: ἀνθρώποις γίνεσται ὁκόσα θέλουσιν οὐκ ἄμεινον· νοῦσος ὑγιείην ἐποίησεν ἡδύ, κακὸν ἀγαθόν, λιμὸς κόρον, κάματος ἀνάπαυσιν. (Fr. 110-111, zusammenhängend, von Diels ohne Grund getrennt.) Der unpsychologische Wunsch, das Böse aus der Welt verbannt zu sehen, der ihm äußerst naiv und eine gänzliche Verkennung der Wirklichkeit zu sein schien, hat ein spöttisches Wort gegen Homer hervorgerufen. Gut ist nicht ein wurzelfester Wert an und für sich, sondern der Kontrast und Widerschein des benachbarten Bösen. Heraklit setzt hinzu, daß uns nicht nur der Eindruck dieser Eigenschaft, sondern selbst deren Begriff fehlen würde, wenn nicht ihr Gegenteil vorhanden wäre: Δίκης ὄνομα (Begriff) οὐκ ἂν ἤιδεσαν, εἰ ταῦτα (scil. ἀδικία) μὴ ἦν. (Fr. 23.)
Die Gegensätze sind nicht nur zu ihrem wechselseitigen Dasein notwendig; sie haben eine für den Weltprozeß im ganzen entscheidende Bedeutung. Ohne vorhandene Differenzen ist ein Geschehen (das in dem Streben nach Ausgleich besteht) undenkbar. Einer der ersten Sätze der Energetik lautet: »Damit etwas geschieht, ist es notwendig und zureichend, daß nicht kompensierte Intensitätsdifferenzen der Energie vorhanden sind.« (Ostwald, Chem. Energie, S. 48.) Damit vergleiche man Heraklits Worte: εἰδέναι δὲ χρὴ τὸν πόλεμον ἐόντα ξυνόν, καὶ δίκην ἔριν, καὶ γινόμενα πάντα κατ' ἔριν καὶ χρεώμενα (Fr. 80) und:
ὁ κυκεὼν διίσταται <μη> κινούμενος (Fr. 12 5). Der Pythagoräismus, der in seiner das Metrische und Formale hervorhebenden Richtung mit Heraklit parallel geht, gelangt zu einer ähnlichen Einsicht: παρὰ μὲν οὖν τούτων (die Pythagoräer) τοσοῦτον ἔστι λαβεῖν, ὁτι τἀνάντια ἀρχαὶ τῶν ὄντων (Arist. Metaph. I, 5. 986b. 9).
Der Widerspruch der Gegensätze erscheint dem künstlerischen Auge dieses Hellenen als ἀγών. Damit war wieder seinem Triebe nach unwissenschaftlicher, aber greifbar plastischer und erhabener Gestaltung des Kosmos Folge geleistet. Und hier konnte er mit ganzem Herzen dabei sein. Wahrscheinlich stellt keiner dieser alten Philosophen den Typus des Hellenen von vornehmer Abkunft in seinen Vorzügen und Schwächen so rein dar wie er. Sicher hat sich keiner in der Entwicklung seiner Weltauffassung so rückhaltlos den Einflüssen seiner Neigungen, Wünsche und Gefühle hingegeben. Gerade die Einfügung des ἀγών in diese Gedankenschöpfung ist das bedeutendste Beispiel, wie sich in ihm große Eindrücke seines Lebens, die Sehnsucht nach einem zertrümmerten Daseinsideal, unbewußt zu philosophischen Ideen gestalteten, ohne ihre volle Schönheit einzubüßen.
Der ἀγών Curtius, Altertum und Gegenwart I S. 132 ff.; L. Schmidt, Ethik der Griechen I S. 190 ff.; Burckhardt, Griech. Kulturgeschichte IV S. 89ff. ist eine der eigenartigsten und bedeutsamsten Schöpfungen der griechischen Kultur. Ohne ihn ist das Leben der Hellenen in der älteren Zeit kaum vorzustellen. Das Gymnastische, das seine ursprüngliche Bedeutung bildete, machte ihn zur gewohnten Übung dieses jugendlichen Volkes, das sich seiner Kraft und Gewandtheit freute. In ihm kam die ganze Lebensfülle, Gesundheit, das Machtgefühl, die echt griechische Freude an Schönheit und Ebenmaß der Form zum Ausdruck. In dieser Vollendung war er ein Vorrecht des Adels (ἀθλητῆρες bei Homer). Aber seine Bedeutung geht tiefer und ist mit dem Lebensinteresse des ganzen Volkes verknüpft. Das maßlose, unbezwingbare Verlangen nach Ruhm, das kein anderes Volk in diesem Maße beherrscht hat, fand im ἀγών volle Befriedigung und Sicherung zugleich vor den gefährlichen Wirkungen dieser Leidenschaft, welche die Nation mit Vernichtung bedrohte und vernichtet hat, als der ἀγών in seiner klassischen Form untergegangen war. Darin liegt seine große Notwendigkeit für das Griechentum. Diese Sitte bemächtigte sich langsam aller Kreise und wurde zu einer Form beinahe aller Lebensäußerungen. Selbst der Krieg hatte – in der älteren Zeit – einen agonalen Charakter; man kämpfte mit vorher ausgemachten Waffen; Wie im Kriege zwischen Chalkis und Eretria (Burckhardt I S. 173). bei Homer zählt der Haufe des Kriegsvolkes nicht mit und Große fallen selten. Ein ἀγών wurde aus jedem Anlaß und um alle denkbaren Dinge oder Vorzüge abgehalten. Es gab Wettkämpfe um die körperliche Schönheit, Krause, Gymnastik S. 357. um künstlerische Leistungen; Plin. nat. hist. XXXIV, 53; XXXV, 58. 72. Rhapsoden, Sänger, Dichter, Historiker traten im Wettstreit auf; wir finden ihn noch im politischen Treiben des demokratischen Athen, wo der Ostrakismos durch eine gewisse Gleichheit die Möglichkeit eines Kampfes wahren sollte. Dem griechischen Geist war die Vorstellung von Wettkämpfen der Götter, Naturgewalten, Tugenden, selbst abstrakter Begriffe und Größen geläufig (φιλία und νεῖκος, des Empedokles).
In Heraklit kamen ein künstlerischer Geschmack und das aristokratische Standesbewußtsein zusammen. Er liebte diese vornehmste Gewohnheit seiner Kaste um ihrer Schönheit und Tapferkeit willen. Mit der naiven Sicherheit einer jugendfrischen Zeit formt er ein philosophisches Weltbild nach seinem Ideal der Lebensführung. Die Welt ist ein ungeheurer und ewiger ἀγών, der sich nach strengen Kampf regeln abspielt. – Der Kampf in der Natur ist eine eindringliche Tatsache, mit der eine jede Naturphilosophie abrechnen muß, zustimmend oder in bedauernder Anerkennung des Unvermeidlichen. Für Heraklit konnte kein Zweifel sein; dieser Zustand entsprach seiner Neigung. Der Kampf schuf diejenige Rangordnung, die ihm die liebste war: πόλεμος πάντων μὲν πατήρ ἐστι, πάντων δὲ βασιλεύς, καὶ τοὺς μὲν θεοὺς ἔδειξε τοὺς δὲ ἀνθρώπους, τοὺς μὲν δούλους ἐποίησε τοὺς δὲ ἐλευθέρους (Fr. 53). Er ist die Vorbedingung allen Geschehens: Ἡ. τὸ ἀντίζουν συμφέρον καὶ ἐκ τῶν διαφερόντων καλλίστην ἁρμονίαν [καὶ πάντα κατ' ἔριν γίνεσθαι] (Fr. 8) und: καὶ γινόμενα πάντα κατ' ἔριν (aus Fr. 80). Der Kampf ist demnach zu rechtfertigen (καὶ δίκην ἔριν aus Fr. 80). Aus dieser Einsicht in die große Notwendigkeit des Kampfes nicht nur als Naturerscheinung, sondern vor allem auch in der Geschichte, versteht man den Vorwurf gegen Homer: τὸν μὲν Ὅμηρον, εὐχόμενον ἔκ τε θεῶν ἔριν ἔκ τ' ἀνθρώπων ἀπολέσθαι, λανθάνειν φησὶ τῇ πάντων γενέσει καταρώμενον, ἐκ μάχης καὶ ἀντιπαθείας τὴν γένεσιν ἐχόντων. (Plut. de Iside 48, 370.) In diesen Sätzen erscheint zum ersten Male überhaupt die Einsicht, wie teuer der Mensch das Beste seiner Kultur mit Leiden und Grausamkeiten erkaufen muß. Für den tapferen Geist Heraklits hat der Krieg keine Schrecken; er denkt mit Freude und Sehnsucht an ihn. Man muß sich erinnern, daß im ἀγών – und der griechische Krieg war damals nichts anderes – strenge und gemessene Formen beobachtet wurden, daß ihm unter Hellenen vor allem auch eine Wirkung auf das Auge innewohnen sollte, um zu verstehen, wie sich hier der Begriff der Harmonie entwickeln konnte. Das rechte abgemessene Verhältnis der Gegensätze im Kampf erscheint dem Zuschauer als solche (ἐκ τῶν διαφερόντων καλλίστην ἁρμονίαν Fr. 8). Vor seinen Augen löste sich der Kampf in Harmonie auf. Heraklit setzt allerdings eine große ästhetische Begabung voraus, um die Harmonie als solche nicht nur zu bemerken, sondern zu genießen. (Τῶι θεῶι καλὰ πάντα καὶ ἀγαθὰ καὶ δίκαια, ἄνθροποι δὲ ἅ μὲν ἄδικα ὑπειλήφασιν, ἅ δὲ δίκαια Fr. 102. Unter θεός, versteht Heraklit hier einen Geist von denkbar höchster Begabung; nur ein solcher kann im Kosmos eine große und ungeteilte Harmonie finden.) Ohnehin bemerkte er Abstufungen der Harmonie: ἁρμονίη φανερὴ ἀφανῆς κρείττων (Fr. 54).
In dieser Idee liegt bereits das metrische Prinzip. Heraklit und die Pythagoräer haben diesen echt hellenischen Gedanken vom Wert der (mathematischen) Formverhältnisse gefunden und verwendet, der eine aus seinem künstlerischen Empfinden heraus, die andern infolge mathematischer Neigungen. Der älteste Schriftsteller des Pythagoräismus, Philolaos, gibt eine Definition des Begriffs ganz in heraklitischem Sinne: πολυμιγέων ἕνωσις καὶ διχᾶ φρονεόντων σύμφρασις (bei Diels Fr. 10) und Aristoteles bestätigt diese Lehre der Pythagoräer: τὴν ἁρμονίαν κρᾶσιν καὶ σύνθεσιν ἐναντίων εἶναι (de anim. I, 4 Anf.). Vgl. Bauer, Der ältere Pythagoräismus S. 23 ff.; Zeller, Phil. d. Griechen I S. 401 ff.
Nach Heraklit ist der Kosmos ein reines und ewiges Geschehen. Die einzige Konstante in diesem Prozeß ist das Maß. Ἁρμονία ist dasselbe wie λόγος. Die Theorie dieses Begriffs bildet den zweiten Teil des Problems.
Die allgemeine oder richtiger die naive und ursprünglichere Auffassung der Dinge richtet sich auf ein Begreifen der Substanz, ihres innern Wesens. Erst eine fortgeschrittene Analyse des Erkenntnisvorganges lehrt, daß die Welt, die wir wahrnehmen, eine Schöpfung der Sinne, und daß die Vorstellung des Stoffes (und der Energie) selbst Gebilde unseres Denkens sind. Damit gewinnt ein anderes Element der Erscheinung an Wert, die Form oder das mathematische Verhältnis. Man macht sich durch die Vorstellung einer Substanz und der in ihr gedachten Eigenschaften ein Bild von der inneren Struktur der Dinge, um die Naturvorgänge restlos zu erklären. Nachdem man einmal erkannt hat, daß es unmöglich und selbst widersinnig ist, die Natur auf diesem Wege aufzuschließen, wird man überhaupt darauf verzichten, eine sichtbare Darstellung ihrer innersten Beschaffenheit zu geben. Es liegt dann nahe, das wichtige und bezeichnende der Erscheinung in ihrem mathematischen Maß, in den Formverhältnissen zu finden. Es ist sogar möglich, Naturerscheinungen rein zahlenmäßig vollständig zu bestimmen, ohne eine Hypothese ihres »Wesens« hinzuzufügen, und damit ist auch alles erschöpft, was sich infolge der Grenzen der Erkenntnistätigkeit durch Untersuchung der Beziehungen der Objekte untereinander und zum Subjekt mit Gewißheit feststellen läßt. (Ein Beispiel ist die elektromagnetische Lichttheorie von Maxwell, die ausschließlich durch eine Anzahl von Differentialgleichungen festgelegt ist.) Die Pythagoräer und Heraklit haben diese wertvolle und fruchtbare Seite der Erscheinung entdeckt und zuerst einer Beobachtung unterzogen. Bei dieser Betonung des Formalen dem Materialen gegenüber muß noch einmal auf den wichtigen Unterschied in der Zerlegung des in der Anschauung Gegebenen in seine Komponenten verwiesen werden. Die materialistische Naturwissenschaft und die meisten neuern Philosophen unterscheiden Masse und Energie als nebengeordnete Größen wie die Substanzen Descartes' und die Attribute Spinozas. Heraklit, die meisten griechischen Philosophen und auch die Energetik der Gegenwart unterscheiden Substanz und Form. Substanz ist hier als die Summe alles dessen, was uns erscheint, aufzufassen (Masse+Energie, wenn man will, wogegen die Summe aller Naturgesetze als »Form« anzusehen ist. Aristoteles unterschied ähnlich ὕλη und μορφή, Heraklit das »Werden« als das Gegebene, den λόγος als dessen Form). Die Substanz wird nicht in Teile oder Funktionen zerlegt, vielmehr interessiert außer diesem schlechthin Gegebenen nur noch dessen Form, die sich in einer Reihe (zahlenmäßiger) Beziehungen darstellt.
Über den Wert der Form in diesem Sinne kann kein Zweifel sein. Das gesetzmäßige Verhältnis ist die einzige Konstante in den Naturvorgängen. »Könnte man sämtliche sinnliche Elemente messen, so würde man sagen, der Körper bestehe in der Erfüllung gewisser Gleichungen, welche zwischen den sinnlichen Elementen statthaben. – Diese Gleichungen oder Beziehungen sind also das eigentlich Beständige.« (Mach, Prinzipien der Wärmelehre S. 423). Je tiefer das Denken in die Natur eindringt, um so mehr gewinnen die Zahlen gegenüber den Bildern an Wichtigkeit. Die Form hat einen Erkenntniswert. Nach dieser Stelle hin lernten sie den Pythagoräer schätzen. Philolaos lehrt: καὶ πάντα μὰν τὰ γιγνωσκόμενα ἀριθμὸν ἔχοντι. οὒ γὰρ ὁτιῶν οἶόν τε οὐδὲν οὔτε νοηθῆμεν οὔτε γνωσθῆμεν ἄνευ τούτω. (Stob. Ecl. 22, 7, S. 456.) Für Heraklit, dessen Neigungen ganz andere Wege gingen und dessen Geschmack an dem Geschehen der Welt vor allem die Harmonie der Verhältnisse bewunderte, kommt der ästhetische Wert der Form, also auf das »Werden« bezogen, dessen Rhythmus in Betracht.
Λόγος ist für Heraklit mit μέτρον identisch. Dieser Begriff bezeichnet nicht eine Kraft, noch viel weniger eine Intelligenz, sondern eine Beziehung. Diese in der spätern griechischen Philosophie verlorengegangene Vorstellung ist unter dem Einfluß stoischer, christlich-hellenistischer und vor allem unsrer dualistischen Anschauungen meistens falsch verstanden worden. Der moderne Dualismus stammt aus der christlichen Weltanschauung, aus welcher und gegen die sich die neuere Philosophie entwickelt hat. Es ist natürlich, daß der Glaube an eine Weltordnung irgendwelcher Art von Einfluß auf die Bildung metaphysischer Ideen ist. Die christliche Antithese Welt – Gott, welche die mittelalterliche Naturphilosophie beherrschte, wirkte in einer Reihe weiterer Antithesen fort: Denken und Ausdehnung, Intelligenz und Substanz, Materie und Energie. Trotz wachsender Abstraktion ist die Grundeinteilung dieselbe geblieben. Der Grieche steht unter dem Eindruck eines andern Weltbildes. Die Götter wurden von ihm nicht als Herrscher empfunden. Sie sind liebenswürdige und hilfreiche Gefährten des Menschen, mit denen sie Tugenden, Schwächen, Schmerz, Unglück, Leidenschaften, Ohnmacht gemein haben, mit denen sie unter einem gleichen überlegenen Schicksal stehen. Die Vorstellung der εἱμαρμένη ist für die griechische Philosophie entscheidend. Die εἱμαρμένη ist vollkommen unpersönlich – sie ist in der bildenden Kunst niemals dargestellt worden – ein unerbittliches Gesetz, für alle Zeiten feststehend und unentrinnbar. Von den Göttern konnte der Hellene mit Freude und Zufriedenheit reden, an die εἱμαρμένη dachte er mit leisem Grauen. Man kennt sie aus der griechischen Tragödie, deren letzter Sinn eine resignierte Anerkennung dieser furchtbaren Macht ist. In diesem Glauben fand die geheime Gewißheit, daß zuletzt doch etwas den Lauf der Ereignisse bestimmt, das nichts Menschliches, keine Seele hat, das durch keinen Willen, keine Vernunft, kein Gefühl bestimmt wird und keiner Bitte zugänglich ist, ihren Ausdruck, derselbe Glaube, der in der Philosophie zu einem Wissen von der ἀνάγκη (dem λόγος), dem ausnahmslosen Weltgesetz wird. Dies: keine Ausnahme zulassen ist die frühe große Erkenntnis Heraklits, die er jenem Glauben verdankte. Bis auf Sokrates kennt keiner der griechischen Philosophen einen persönlichen Gott; θεός ist in ihrem Munde ein physikalischer Begriff; für wissenschaftliche Einsichten in die Natur ist der Olymp niemals in Betracht gekommen. Man kennt also nur die sichtbare Welt, in der man lebt, den Kosmos, und nichts außerdem. Nichts verleitete zur Annahme einer substanziellen Energie oder Weltseele. Das Gesetz liegt in der Welt als Beziehung, möge es θεός, λόγος, ἀνάγκε oder τύχη heißen. Es ist wichtig zu bemerken, daß alle diese Begriffe einer Norm und gesetzlichen Ursache der Veränderung in gerader Linie von dem Schicksalsbegriff abstammen. Der λόγος ist die εἱμαρμένη, ein immanentes Schicksal, keine persönliche Ursache, was man im Altertum nicht verkannt hat: ἣν (= ἀνάγκην) εἱμαρμένην οἱ πολλοὶ καλοῦσιν· Ἐμπεδοκλῆς δὲ φιλίαν ὁμοῦ καὶ νεῖκος· Ἡ. δὲ παλίντροπον ἁρμονίην κόσμου ὅκωσπερ λύρας καὶ τόξου (Plut. de anim. procr. 27 p. 1026).
Heraklit faßt die Welt als reine Bewegung auf. Der λόγος ist demnach ihr Rhythmus, der Takt der Bewegung. In diesem System, das kein beharrendes Sein kennt, liegt die Wertschätzung des Metrischen um so näher. Erinnern wir uns noch einmal, in welchem Maße das Feingefühl für Formen bei den Griechen entwickelt war; es beschränkte sich nicht etwa auf die bildende Kunst; alle Lebensäußerungen geschehen unwillkürlich in den Grenzen eines gewissen Maßes (dies ist der Sinn der καλοκἀγαθία, σωφροσύνη, αὐτάρκεια und aller ähnlichen Ideale hellenischer Lebensführung). Wir empfinden heute diese ganze Kultur als formvolles Kunstwerk. Heraklit hatte in dem Kampf der Gegensätze die Harmonie hervorgehoben. Diese Harmonie ist eine metrische. Es sind mehrere Aussprüche dieser Art erhalten: Κόσμον τόνδε τὸν αὐτὸν ἁπάντων, οὔτε τις θεῶν οὔτε ανθρώπων ἐποίησεν, ἀλλ' ἦν αἰεὶ καὶ ἔστι καὶ ἔσται πῦρ ἀείζωον, ἁπτόμενον μέτρα καὶ ἀποσβεννύμενον μέτρα (Fr. 30). Ἡλιος γὰρ οὐχ ὑπερβήσεται μέτρα· εἰ δὲ μὴ, Ἐρινύες μιν Δίκης ἐπίκουροι ἐξευρήσουσιν (Fr. 94). Θάλασσα διαχέεται καὶ μετρέεται εἰς τὸν αὐτὸν λόγον ὁκοῖος πρόσθεν ἦν ἢ γενέσθαι γῆ (Fr. 31 »Die Umwandlung des Wassers vollzieht sich in demselben mathematischen Verhältnis«). Es ist hiernach deutlich, daß in den kosmischen Vorgängen jeder Art ein μέτρον enthalten ist. Man darf annehmen, daß die mehrmalige Nennung der Δίκη die strenge Regelmäßigkeit dieser Beziehung hervorheben soll. Jedenfalls ist für Heraklit der Wert der mathematischen Form der Naturvorgänge ein sehr hoher.
Es wäre noch nach der Verwandtschaft dieser Idee Heraklits mit dem entsprechenden Gedanken des Pythagoräismus zu fragen. Pythagoras selbst, von dessen eigener Lehre nichts feststeht und der nach allgemeiner Annahme kein Schriftsteller war, wird einmal von Heraklit, und zwar nur seiner wissenschaftlichen Methode wegen genannt. Fr. 40 und ähnlich Fr. 129. Letzteres wird von Diels für unecht erklärt, ist aber inhaltlich von 40 und 80 bestätigt. Ein Verhältnis der Abhängigkeit wird man nie nachweisen können. Es ist auch ebenso unwahrscheinlich wie unwichtig. Nur der tatsächliche Parallelismes beider Systeme ist von Interesse. Der älteste Pythagoräismus beginnt mit der Beobachtung des Vorhandenseins mathematischer Beziehungen in allen Gestalten und Vorgängen der Natur. Die Zahlenlehre ist erst eine spätere Folgerung aus dieser Tatsache. Vgl. Bauer, Der ältere Pythagoräismus S. 200 ff. Aristoteles hat die Zahlenlehre widerspruchsvoll und sicher falsch gegeben. Philolaos ist der älteste und zuverlässigste Autor (Bauer S. 181 ff.). Die Idee der Zahl als ἀρχὴ τῶν ὄντων (Arist. Metaph. I, 5. 985 b. 23) ist eine von spätern Pythagoräern stammende Verzerrung der ursprünglichen Lehre. Man geht von der Unterscheidung von Stoff und Form (ἄπειρον-πέρας) aus, ganz im Sinne Heraklits (τὰ πάντα, κόσμος – λόγος, μέτρον). Eine Stelle des Philolaos läßt diesen Parallelismus deutlich werden: Ἀνάγκα τὰ ἐόντα εἶμεν πάντα ἢ περαίνοντα ἢ ἄπειρα ἢ περαίνοντά τε καὶ ἄπειρα – ἐπεὶ τοίνυν φαίνεται οὔτ ἐκ περαινόντων πάντων ἐόντα οὔτ' ἐξ ἀπείρων πάντων, δῆλόν τ'ἄρα, ὅτι ἐκ περαινόντων τε καὶ ἀπείρων ὅ τε κόσμος καὶ τὰ ἐν αὐτῷ συναρμόχθη (harmonisch geordnet). Man erkennt die Ähnlichkeit beider Auffassungen, die sich aber auf die allgemeinste Grundlage beschränkt. Das Formale des Philolaos, das als geometrisch-arithmetische Bestimmbarkeit der Dinge aufzufassen ist, wurde in der Folge etwas ganz anderes als Heraklits μέτρον, das man als Zeitmaß der Bewegung anzusehen hat. Das Problem selbst ist ein allgemein hellenisches; die Gestaltung im einzelnen ist durchaus individueller Art.
Der Gedanke vom Wert des Maßes hat bei Heraklit eine besondere Bedeutung. In einer Welt ohne jede stoffliche Qualität, die nichts ist als ein unaufhörliches Entgegenstreben von Differenzen innerhalb des Verlaufs einer Bewegung, gibt es nichts Bleibendes als das Maß. Suchen wir das Verhältnis des Maßes zur Bewegung genau zu bestimmen, so erhalten wir seinen Charakter als Form der Bewegung. Damit ist bereits seine unbedingte Notwendigkeit für die Bewegung ausgesprochen. Bewegung läßt sich ohne eine Form so wenig denken wie ein Körper ohne Gestalt. Für dies Prinzip, das den Takt des Werdens berücksichtigt, ist das Wort Rhythmus am geeignetsten, denn es ist sicher, daß Heraklit vor allem das Künstlerische, Musikalische dieser Vorstellung empfand und festhalten wollte. Der Grieche verlangte Schönheit der Abmessungen in allem, was für das Auge geschaffen wurde. Darin macht keiner eine Ausnahme. Anaxagoras schrieb seinem νοῦς Schönheit und (ästhetisch-ethische) Vollkommenheit zu; bei einem neuern Philosophen wären es Liebe und Mitleid gewesen. »Weisheit«, das heißt vollkommene Logik und Klarheit in allen Handlungen, gehörte zu den ersten Merkmalen griechischer Schönheit. Heraklit gebraucht einmal geradezu den Ausdruck τὸ σοφόν für das Prinzip: Ἓν τὸ σοφὸν μοῦνον λέγεσθαι οὐκ ἐθέλει καὶ ἐθέλει Ζηνὸς ὂνομα (Fr. 32) Der ὁδὸς ἄνω κάτω ist entschieden rhythmisch aufzufassen; es ist die Arsis und Thesis der griechischen Metrik. Um sich in Heraklits Vorstellung des rhythmischen Fließens zu versetzen, könnte man sich etwa den rhapsodischen Vortrag homerischer Verse vergegenwärtigen. Ἁρμονίη ist der λόγος, sofern er schön ist (daher καλλίστη ἁρμονία Fr. 8), und zwar ist der unsichtbare Rhythmus des großen Weltgeschehens, der eine fehlerlose Harmonie besitzt, der schönere. (Fr. 54. Die wichtige Stelle lautet ganz: Ἁρμονίη ἀφανὴς φανερῆς κρείττων, ἐν ᾗ τὰσ διαφορὰς καὶ τὰς ἑτερότητας ὁ μιγνύων θεὸς ἔκρυψε καὶ κατέδυσεν. Plut. de anim. procr. 27 p. 1026.)
Der Rhythmus der Bewegung gehorcht einem Gesetz. Der Hinweis auf das Gesetzmäßige in der Natur ist in der griechischen Philosophie ein neuer Gedanke. Anaximander und Xenophanes kennen ihn noch nicht. Der Ausdruck νόμος für ἁρμονίη, λόγος ist mithin für Heraklit charakteristisch: ξὺν νόωι λέγοντας ἰσχυρίζεσθαι χρὴ τῶι ξυνῶι πάντων, ὅκωσπερ νόμωι πόλις καὶ πολὺ ἰσχυροτέρως, τρέφονται γὰρ πάντες οἱ ἀνθρώπειοι νόμοι ὑπὸ ἑνὸς τοῦ θείου· κρατεῖ γὰρ τοσοῦτον ὁκόσον ἐθέλει και ἐξαρκεῖ πᾶσι καὶ περιγίνεται, (Fr. 114). Es ist zu bemerken, daß der Begriff νόμος umfangreicher ist als unser »Gesetz«, nicht nur die eigentlichen Gesetze, sondern die ganze Summe der Institutionen, Gebräuche, Verfassung und Verwaltung der πόλις, begreift, also die gesamte Regel und Form des öffentlichen Lebens. So ist die Anwendung des Begriffs νόμος auf die Art und Weise des Werdens zu verstehen. Der Unterschied menschlicher und göttlicher, d. h. physikalischer Gesetze in dem eben angeführten Aphorismus fällt mit der Unterscheidung der sichtbaren und unsichtbaren Harmonie (Fr. 54) zusammen.
Es ist anfangs auffallend und hat zu Irrtümern Anlaß gegeben, daß Heraklit für den Gedanken des Gesetzes der Bewegung eine größere Anzahl von Bezeichnungen (λόγος, νόμος, ἁρμονίη, τὸ σοφόν, μέτρον, γνώμη, εἱμαρμένη, δίκη, θεός, Ζεύς) Der ebenfalls vorkommende Ausdruck δόγμα ist gefälscht (Bernays, Rhein. Mus. IX S. 248). verwendet, die alle durch einen treffenden und erschöpfenden Ausdruck hätten ersetzt werden können. Sicher hat nur der Mangel eines solchen für die eigenartige neugeschaffene Idee dazu geführt. Λόγος ist der verhältnismäßig vollkommenste; er enthält Eigenschaften dieses Prinzips, die mit λόγος oder ἁρμονίη nur einzeln gegeben werden konnten. Eine Identität dieser Begriffe ist nicht vorhanden, nur eine Identität der durch sie vertretenen Idee. Sie sollen jenen einen nicht vorhandenen Begriff ersetzen und werden daher abwechselnd gebraucht, je nach der Beziehung, die gerade in Betracht kommt und die sie am vorzüglichsten wiedergeben.
So findet sich einmal γνώμη: Εἶναι γὰρ ἓν τὸ σοφόν, ἐπιστασθαι γνώμην, ὁτέη ἐκυβέρνησε πάντα διὰ πάντων (Fr. 41). Beachtenswert ist das Wort κόσμος für den Gesamt eindruck der uns umgebenden Welt. Κόσμος hat bei Heraklit noch nicht den umfassenden substanziellen Sinn »Weltall«; dies Wort wurde von ihm und Pythagoras zuerst überhaupt in philosophischer Absicht gebraucht und hat seiner Herkunft nach die Bedeutung Anordnung. Die Wendung κόσμος ὁ αὐτὸς ἁπάντων (Fr. 30. Gomperz übersetzt: Diese eine Ordnung der Dinge=Welt. Schuster: Die eine Welt, die alles in sich befaßt) ist für Heraklit mit der sichtbaren Harmonie beinahe identisch: Die formstrenge Ordnung im Verlauf des Geschehens, die für alle sichtbar und gleich ist (Fr. 89: τοῖς ἐγρηγορόσι ἕνα καὶ κοινὸν κόσμον εἶναι). Κόσμος kann also nur der Eindruck der Erscheinungswelt, das ganze Bild der Natur, das sich vor unsern Sinnen entrollt, nicht die Welt als Masse sein.
Der wichtigste Begriff, nach Heinze Lehre vom Logos S. 9. Auch nach Lassalle II S. 264. von Heraklit zuerst in diesem Sinne gebraucht, ist λόγος. Es wurde schon früher auf die Neigung, in Heraklit einen Pantheisten und Mystiker Am weitesten geht Tannery (Rév. philos. 1883, XVI S. 292): Au milieu des »physiologues« ioniens, Héraclite a une position tout spéciale, ou plutôt il n'est rien moins que physiologue, c'est un »théologue«. zu suchen, hingewiesen. Nirgends ist dies verhängnisvoller gewesen als in der Beurteilung dieses Begriffs. Zeller (I S. 555) findet hier den »ausgesprochenen Pantheismus«, Pfleiderer (S. 132 ff.) konstruiert einen Zusammenhang mit den Mysterien, Teichmüller hat Heraklit überhaupt als religiösen Phantasten aufgefaßt. Immer wird der Begriff λόγος dem Gottesbegriff nahegebracht. Pfleiderer übersetzt »bewußte Intelligenz« (S. 234 u. ff.), Bernays ähnlich »wirkende Intelligenz« (Rhein. Mus. IX S. 252), Teichmüller »Weltseele« (I S. 198), Schuster »die im entzündeten Feuer sich regende Intelligenz« (S. 345), dagegen ganz widersprechend, aber richtig »Gesetz der Bewegung« (S. 93), Schäfer »Weltvernunft« und »alles ordnende Kraft« (S. 55). Um diese oft ganz unklaren Begriffe eines Wesens zu vermeiden, ist auch Lassalles Ausdruck »objektives Vernunftgesetz«, der zu sehr an den νοῦς des Anaxagoras erinnert, nicht geeignet. Teichmüller (I S. 167-181) gibt eine ausführliche Zusammenstellung der Bedeutungen von λόγος in der vorheraklitischen Zeit. Man findet hier nirgends die Bedeutung Vernunft, sondern Sinn, Inhalt der Gedanken. Heraklit gebraucht das Wort sehr verschieden. Fr. 45: ψυχῆς πείρατα ἰὼν οὐκ ἂν ἐξεύροιο, πᾶσαν ἐπιπορευόμενος ὁδόν• οὕτω βαθὺν λόγον ἔχει (etwa Anlage, Bildung, Organisation); Fr. 108: ὁκόσων λόγους ἤκουσα … (Auseinandersetzung); Fr. 87: βλὰξ ἄνθρωπος ἐπὶ παντὶ λόγωι ἐπτοῆσθαι φιλεῖ (Wort); Fr. 139: οὗ πλέων λόγος ἢ τῶν ἄλλων (von dem die Rede ist). Jedenfalls ergibt sich hieraus, daß die Bedeutung Intelligenz unmöglich ist.
Auf eine Übersetzung muß man verzichten; der ganze Sinn dieses Begriffs ist mit keinem der neuern Philosophie zu erschöpfen. Heinze (S. 19) erkannte die Identität von λόγος und εἱμαρμένη; daraus folgt das vollkommen Unpersönliche und Mechanische im λόγος. Ebenso ist die Identität mit νόμος, μέτρον und ἁρμονίη gewiß. In der Nachbarschaft dieser Worte kann λόγος nicht im entferntesten den Sinn haben, den er später in der hellenistisch-christlichen Philosophie annahm. Diese Umwandlung vollzogen die Stoiker, die Heraklits λόγος (als πνεῦμα) den aktiven Prinzipien der Philosophie seit Anaxagoras (νοῦς, δημιοῦργος) gleichsetzten und mit dem heraklitischen Feuer (in Erinnerung an die Feueratome der Seele bei Demokrit) zu einer transzendenten, handelnden, substanziellen Weltseele, λόγος σπερματικός, erhoben, die den andern sich passiv verhaltenden Substanzen gegenübersteht. Damit ist das heraklitische Werden (πάντα ῥεῖ) in eine materielle Bewegung (ποιεῖν καὶ πάσχειν) verwandelt und das ganze System zu einem materialistischen gemacht worden.
Heinze, der für λόγος Ausdrücke wie »Vernunftgesetz«, »vernünftiger Weltprozeß«, »vernünftiges Verhältnis« vorschlägt (S. 35), fügt hinzu: »Wir haben dies Gesetz als den in allem waltenden Logos kennen gelernt in seinen nähern Bestimmungen und müssen nur noch hervorheben, daß dieser durchaus immanent in der Welt, nie transzendent gedacht wird; es ist materiell gefaßt das Feuer, und das Feuer vergeistigt ist der Logos« (S. 24). Dies ist nicht richtig. Man hat das Werden und das Gesetz dieses Werdens; eine Identität von πῦρ (einer Erscheinungsart des Werdens) und λόγος ist prinzipiell unmöglich. Halten wir fest, daß es sich um ein Gesetz handelt, nach welchem die Bewegung sich vollzieht: γινομένων γὰρ πάντων κατὰ; τὸν λόγον τόνδε ἀπείροισιν ἐοίκασι (Fr. 1) Θάλασσα μετρέεται εἰς τὸν αὐτὸν λόγον (Fr. 31). Die Wendung κατὰ τὸν λόγον ergibt den Sinn mit voller Gewißheit. Die Bezeichnungen θεός und Ζεύς Fr. 32: Ἕν τὸ σοφὸν μοῦνον λέγεσθαι οὐκ ἐθέλει και ἐθέλει Ζηνὸς ὄνομα. Nach Diels und andern handelt es sich um den Unterschied der volkstümlichen Idee eines persönlichen Gottes und der philosophischen (physikalischen) Anwendung des Namens. Nach Bernays (Rhein. Mus. IX S. 257) ist Ζεύς wegen des Anklangs an ζῆν gewählt worden. sollen an die unbedingte Notwendigkeit und Macht des νόμος (vgl. Fr. 114: κρατεῖ γὰρ τοσοῦτον ὁκόσον ἐθέλει καὶ ἐξαρκεῖ πᾶσι καὶ περιγίνεται) nachdrücklichst erinnern. Demselben Zwecke dient der einem seefahrenden Volke geläufige Begriff des Steuerns, der hier Notwendigkeit und Zweckmäßigkeit zugleich geben soll. (Fr. 64: τὰ δὲ πάντα οἰακίζει κεραυνός. Fr. 14 γνώμην, ὁτέη ἐκυβέρνησε πάντα διὰ πάντων Vgl. dazu Pseudo-Linus 13 Mullach: κατ' ἔριν συνάπαντα κυβερνᾶται διὰ παντός. Hierher gehört Fr. 94: Ἥλιος γὰρ οὐχ ὑπερβήσεται μέτρα· εἰ δὲ μὴ, Ἐρινύες μιν Δίκης ἐπίκουροι ἐξευρήσουσιν.)
Λόγος ist das formale Gesetz des Werdens und als solches zu dessen Vorstellung notwendig. Bewegung ohne Form ist undenkbar.
Der Gedanke der Gesetzlichkeit innerhalb der Natur war neu. Heraklit ging noch weiter und fand, daß ein einziges Gesetz für die Gesamtheit aller Vorgänge maßgebend ist. Den Gedanken einer innern Einheit der Welt hatte auch Xenophanes gefunden und zum Mittelpunkt seiner Lehre gemacht. Sein ἓν καὶ πᾶν bedeutete eine Einheit des Seienden schlechthin, ohne eine Inhaltsbestimmung dieses Begriffes. Das ist etwas wesentlich anderes und Unvollkommeneres. Xenophanes kennt keine Norm, keine Gestaltung oder Qualität des Seienden, nur die Welt und »Gott«, die eins sind. Seine Einheit ist eine qualitative und begriffliche zugleich, eine ganz allgemein und pantheistisch gehaltene Vorstellung. Für Heraklit kann diese Bestimmung, da eine Substanz nicht angenommen wird, sich nur auf die Form des energetischen Prozesses beziehen und diese als beständig und geregelt ansetzen. Man begreift den großen Unterschied. Heraklits Idee ist konkret gefaßt und klar vorgestellt; die Einheit ist die des λόγος innerhalb der Bewegung. Alle im Kosmos sich vollziehenden Veränderungen unterliegen derselben Regel. Wir finden die Wirkungen desselben einen und ewigen Gesetzes im unsichtbaren Werden, in der sichtbaren Natur, im Leben, in der Kultur. Das Gesetz der ewigen Wiederkunft ist dasselbe im großen, was der Wechsel von Leben und Tod und die Umwälzungen von Staaten, Sitten, kulturellen Zuständen im kleinen. Deshalb nennt Heraklit den λόγος (Fr. 2) und πόλεμος (Fr. 80) ξυνός (vgl. auch ἓν τὸ σοφόν Fr. 32). Hier ist noch einmal an die Harmonie zu erinnern, die auf der Voraussetzung eines gleichen Rhythmus in allen Vorgängen beruht. Aus dieser Annahme, die eine gemeinsame Regel alles Geschehens neben- und nacheinander enthält und damit bereits ein Ende der Welt ausschließt, folgt die Kongruenz aller physikalischen, ethischen, sozialen und andern Gesetze und zugleich ihre Notwendigkeit und Folgerichtigkeit. Der Satz: τρέφονται γὰρ πάντες οἱ ἀνθρώπειοι νόμοι ὑπὸ ἑνὸς τοῦ θείου (Fr. 114) kann als Beweis dieser weitgehenden Folgerungen gelten. Alle Verhältnisse und Bedingungen, von denen das Leben des einzelnen und ganzer Gemeinschaften abhängt, sind die hier in anderer Gestalt herrschenden Gesetze des Kosmos, also ebenso unbedingt, unabwendbar, jedem Versuch, ihnen zu entgehen, trotzend, eine tiefe und furchtbare Erkenntnis, die dieser unbeugsamen und tapfern Persönlichkeit angemessen war. Es ist ein starker Fatalismus darin enthalten. Das widerspricht dem hellenischen Empfinden nicht; die εἱμαρμένη ist das einzige Dogma, das keiner ihrer Denker angezweifelt hat. Die Hellenen liebten es, diese εἱμαρμένη, die wie eine Gewitterwolke schweigend über Menschen und Göttern lag und in jedem Augenblick unerwartete vernichtende Blitze herabsenden konnte, mit einer geheimen Freude am Grauenhaften sich vorzustellen. Daraus entstand die Tragödie. Man kann sich in der Tat keinen bessern Begriff von dem Gesetz, das den Kosmos beherrscht, machen, als wenn man das Schicksal, das beispielsweise im Leben des Ödipus waltet, zum Vergleich wählt. Unsichtbar und unabwendbar ist es von schweigender, um so eindrucksvollerer Gegenwart. In der Idee des Logos hat sich Heraklits Überzeugung vom Dasein der εἱμαρμένη seiner Lehre tief eingeprägt. Es ist wahrscheinlich, daß er den Ausdruck εἱμαρμένη geradezu für λόγος verwandte. In jedem Fall ist beides dasselbe, wie man einsieht; die Gleichheit beider Begriffe wurde allgemein empfunden: Ἡ. οὐσίαν εἱμαρμένης ἀπεφήνατο λόγον τὸν διὰ οὐσίας τῆς τοῦ παντὸς διήκοντα· αὕτη δ' εστὶ τὸ αἰθέριον σῶμα, σπέρμα τῆς τοῦ παντὸς γενέσεως· καὶ περιόδου μέτρον τεταγμένης· πάντα δὲ καθ' εἱμαρμένην, τὴν δ' αὐτὴν ὑπάρχειν καὶ ἀνάγκην· γράφει γοῦν· Ἔστι γὰρ εἱμαρμένη πάντως (Stob. Ecl. I, 5 p. 178). Fr. 137. Von Diels als Zitat angezweifelt. Es kommt hier nur auf den allgemeinen Gedanken an. Ebenso bemerkt Diogenes Laertius über seine Lehre: πάντα δὲ γίνεσται καθ' εἱμαρμένην (IX, 7) und: τοῦτο (= τροπαί) δὲ γίνεσται καθ' εἱμαρμένην (IX, 8). Endlich wird der Ausdruck dreimal bei Aëtius als heraklitisch erwähnt (Diels Anhang B. 8). Es ist danach sehr wahrscheinlich, daß Heraklit auch das Wort für die entsprechende Idee gebrauchte. Diese Gleichartigkeit von λόγος mit εἱμαρμένη muß die Meinung, daß λόγος ein persönliches oder wenigstens intellektuelles Prinzip sei, unmöglich machen. Jede denkbare Intelligenz, sei sie als Gott, Weltseele oder etwas anderes aufzufassen, ist damit bereits der εἱμαρμένη untergeordnet. So verlangt es der hellenische Glaube, der das Schicksal unbedingt an die Spitze stellt. In diesem System bleibt nicht für den geringsten Zufall mehr Raum. Hesiod, der an die Vorbedeutung gewisser Tage glaubte, forderte dadurch den Spott Heraklits heraus, der die Annahme geheimnisvoller »Mächte« als Naivetät empfand (Fr. 57). Nach seiner Überzeugung ist jede Möglichkeit des Abweichens von dem gesetzlichen Ablauf des Geschehens undenkbar.
Heraklits Gedankenwelt, als Ganzes angesehen, erscheint als eine großgedachte Dichtung, eine Tragödie des Kosmos, den Tragödien des Äschylos in ihrer kraftvollen Erhabenheit ebenbürtig. Unter den griechischen Philosophen, Plato vielleicht ausgenommen, ist er der bedeutendste Dichter. Der Gedanke eines seit Ewigkeiten währenden und nie aufhörenden Kampfes, der den Inhalt des Lebens im Kosmos bildet, in dem ein gebieterisches Gesetz waltet und eine harmonische Ebenmäßigkeit aufrecht erhält, ist eine hohe Schöpfung der griechischen Kunst, der dieser Denker weit näher gestanden hat als der eigentlichen Naturforschung. Ein letzter Gedanke, in dem er die Welt übersieht und sich des Mühelosen, Unschuldigen, Leidlosen im Anblick ihres Werdens und Wirkens freut, ist erhalten geblieben: αἰὼν παῖς ἐστι παίζων πεσσεύων· παιδὸς ἡ βασιληΐη. Fr. 52. Bei Luc. vit. auct. 14: παῖς παίζων πεσσεύων, συνδιαφερόμενος (Bernays). Zeller sieht hier ein Bild der Ziellosigkeit der weltbildenden Kraft (I S. 536), Bernays ein Bild des Weltbaus und der Zerstörung (Rhein. Mus. VIII S. 112), Teichmüller (II S. 191 ff.) erkennt das Mühelose, Leichte in dieser Vorstellung.