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Pessimismus?

(1921)

Das beinahe allgemeine Mißverständnis, dem mein Buch »Der Untergang des Abendlandes.« bisher ausgesetzt war, ist zum Teil die notwendige Begleiterscheinung einer jeden Denkweise, die nicht nur mit ihren Ergebnissen, sondern schon mit ihrer Methode und vorher noch mit dem ganz neuen Blick auf die Dinge, aus dem die Methode sich erst entwickelt, in die geistige Verfassung irgendeiner Gegenwart eingreift. Die Mißverständnisse werden sich häufen, wenn ein solches Buch durch die Verkettung von Zufälligkeiten Mode wird und infolgedessen Menschen, deren Denken erst nach Jahren und durch eine vermittelnde Literatur hinreichend darauf vorbereitet sein kann, sich plötzlich einer Lehre gegenübersehen, von der ihnen einstweilen nur die verneinende Seite zugänglich ist. Es wurde dabei meist übersehen, daß mit dem ersten Bande nur ein Fragment vorgelegt worden war, von dem aus, wie mir sehr bald klar wurde, auf das übrige nicht sicher geschlossen werden kann. Die bevorstehende Ausgabe des zweiten Bandes wird die »Morphologie der Weltgeschichte« und damit wenigstens einen Kreis von Fragen vollständig zum Abschluß bringen. Ein zweiter, der ethische, ist, wie aufmerksame Leser bemerkt haben werden, in »Preußentum und Sozialismus« wenigstens berührt worden. Das Verständnis wurde endlich erschwert durch die bestürzende Aufschrift des Buches, obwohl ich ausdrücklich betont hatte, daß sie bereits vor Jahren feststand und die streng sachliche Bezeichnung einer historischen Tatsache ist, deren Seitenstücke zu den bekanntesten Erscheinungen der Geschichte gehören. Aber es gibt Menschen, welche den Untergang der Antike mit dem Untergang eines Ozeandampfers verwechseln. Der Begriff einer Katastrophe ist in dem Worte nicht enthalten. Sagt man statt Untergang Vollendung, ein Ausdruck, der im Denken Goethes mit einem ganz bestimmten Sinn verbunden ist, so ist die »pessimistische« Seite einstweilen ausgeschaltet, ohne daß der eigentliche Sinn des Begriffs verändert worden wäre.

Nun wandte sich aber das Werk schon in seinem ersten Teile durchaus an tätige und nicht an kritische Menschen. Ein Weltbild, in dem man leben, und nicht ein Weltsystem, in dem man grübeln kann, war das eigentliche Ziel meiner Arbeit. Das ist mir damals nicht zum Bewußtsein gekommen; es schließt aber gleichwohl einen weiten Kreis von Lesern vom endgültigen Verständnis aus.

Der Tätige lebt in und mit den Dingen. Er braucht keine Beweise, er versteht sie oft nicht einmal. Der physiognomische Takt – eins von den Worten, die so gut wie niemand in ihrer Bedeutung erfaßt hat – führt ihn viel tiefer hinein, als es irgendeine beweisende Methode vermöchte. Was ich hier sagte und was wissenschaftlichen Köpfen völlig paradox erschien, haben zum Wirken berufene Menschen im stillen längst gefühlt; oft genug waren sie sich dessen nicht einmal bewußt. Sie lehnen beim Lesen, also in einer theoretischen Fassung, den »historischen Relativismus« ab, der ihnen im Handeln und in der dem Handeln unmittelbar dienenden Beobachtung der Menschen und Lagen selbstverständlich ist. Der Beschauliche aber steht dem Leben innerlich fern. Er schaut zu ihm hinüber, und zwar mit einer gewissen Feindseligkeit gegen das ihm Fremde und Widerstrebende, das ihn stört, sobald es mehr sein will als betrachtetes Objekt. Die Beschaulichen sammeln, zerlegen und ordnen, nicht zu einem praktischen Zwecke, sondern weil diese Beschäftigung sie befriedigt; sie fordern Beweise und verstehen sich darauf. Für sie wird ein solches Buch immer eine Verirrung bleiben. Denn ich gestehe, die »Philosophie um ihrer selbst willen« habe ich stets gründlich verachtet. Es gibt für mich nichts Langweiligeres als die reine Logik, die wissenschaftliche Psychologie, die allgemeine Ethik und Ästhetik. Das Leben besitzt nichts Allgemeines und nichts Wissenschaftliches. Jede Zeile, die nicht geschrieben ist, um dem tätigen Leben zu dienen, scheint mir überflüssig. Wenn man es nicht zu wörtlich nimmt: diese Art, die Welt zu betrachten, steht der systematischen gegenüber wie die Memoiren eines Staatsmannes dem Idealstaat eines Utopisten. Der eine schreibt, was er miterlebt, der andere, was er sich ausgedacht hat.

Nun gibt es aber, und zwar gerade in Deutschland, eine gleichsam staatsmännische Art, die ganze Welt mitzuerleben, eine ungesuchte und unsystematische Welterfahrung, die als Ergebnis nur eine Art von metaphysischen Memoiren zuläßt. Man muß wissen, in welche Linie das Buch gehört, womit angesichts der großen Namen keineswegs über den Rang, sondern ausschließlich über die Art des Sehens geurteilt werden soll.

Es geht ein mächtiger Strom deutschen Denkens von Leibniz über Goethe und Hegel der Zukunft zu. Wie alles Deutsche hatte er das Schicksal, gleichsam unterirdisch und unbeachtet durch die Jahrhunderte fließen zu müssen, während fremde Denkweisen an der Oberfläche des Denkens selbst bei diesen Männern die Herrschaft führten. Leibniz ist der große Lehrmeister Goethes gewesen, obwohl Goethe sich dieses Zusammenhanges nie bewußt wurde und stets den Namen des ihm ganz wesensfremden Spinoza anrief, wenn er durch den Einfluß Herders oder durch unmittelbare Wahlverwandtschaft einen echten Gedanken von Leibniz in seine Anschauungsweise gebracht hatte. Was diesen Denker auszeichnet, ist seine beständige Verbundenheit mit den großen Tatsachen seiner Zeit. Wenn man von seinem Werke abrechnet, was er im Zusammenhang mit seinen politischen Plänen, den Reunionsbestrebungen und seinen Absichten auf Bergbau, Organisation der Wissenschaft und Mathematik geschrieben hat, so bleibt wenig übrig. Goethe gleicht ihm darin, daß er stets aus den Dingen heraus und für die Dinge, also historisch, dachte und nie fähig gewesen wäre, ein abstraktes System aufzubauen. Der gewaltige Hegel war der letzte, dessen Denken, von politischen Wirklichkeiten ausgehend, noch nicht ganz durch Abstraktionen erstickt wurde. Dann kam Nietzsche, ein Dilettant im besten Sinne, der endgültig unfruchtbar gewordenen Hochschulphilosophie durchaus fernstehend, der dem Darwinismus verfiel und trotzdem weit über das englisch-darwinistische Zeitalter hinausgreifend uns allen den Blick verliehen hat, mit dem wir heute dieser lebendigen und praktischen Richtung des Denkens den Sieg verschaffen können.

So sehe ich jetzt die geheimen Voraussetzungen, die meiner Denkweise unbewußt zugrunde lagen. Hier findet sich nirgends ein Gebäude von Allgemeinheiten. Das Einmalig-Wirkliche mit seiner ganzen Psychologie, das bei Kant und Schopenhauer keine Rolle spielt, beherrscht die historischen Sammlungen von Leibniz ebenso vollständig wie die Naturbetrachtung Goethes und die Vorlesungen Hegels über Weltgeschichte. Deshalb steht hier das Tatsächliche in einem ganz andern Verhältnis zum Gedanken, wie bei allen Systematikern. Bei diesen bildet es ein totes Material, aus dem Gesetze gezogen werden. Bei mir sind es Beispiele, die einen erlebten Gedanken beleuchten, der nur in dieser Form eigentlich mitteilbar ist. Aber dies setzt, weil es unwissenschaftlich ist, eine ungewöhnliche Fassungskraft voraus. Die Regel ist, wie ich bemerkt habe, daß der Leser bei einem Gedanken den Überblick über die andern verliert und damit alles mißversteht, denn hier hängt alles so zusammen, daß das Herausheben einer Einzelheit bereits gleichbedeutend mit dem Irrtum ist. Aber man muß auch zwischen den Zeilen lesen können. Vieles ist nur angedeutet, vieles kann in wissenschaftlicher Form überhaupt nicht ausgesprochen werden.

Im Mittelpunkt steht der Schicksalsgedanke. Es ist deshalb so schwer, ihn im Leser aufzuwecken, weil auf dem Wege verstandesmäßigen Nachdenkens nur sein Gegenteil, der Kausalitätsbegriff, gefunden wird. Denn Schicksal und Zufall gehören unbedingt einer ganz anderen Welt an als das Erkennen von Ursache und Wirkung, Grund und Folge. Die Gefahr ist, daß man Schicksal nur für eine andere Bezeichnung hält: Eine Kausalreihe, die da ist, ohne daß man sie gerade sieht. Das wissenschaftliche Denken wird nie fähig sein, hier zu folgen. Der Blick für gefühlsmäßige und erlebte Tatsachen erlischt, sobald man analytisch nachdenkt. Schicksal ist ein Wort, dessen Inhalt man fühlt. Zeit, Sehnsucht, Leben sind eng verwandte Worte. Niemand glaube, den Kern meiner Denkweise verstanden zu haben, wenn ihm der letzte Sinn dieser Worte, wie ich sie meine, verschlossen bleibt. Vom Schicksal aus führt ein Weg zu dem sehr schwer erfaßbaren Erlebnis, das ich als Tiefenerlebnis bezeichne. Es liegt dem verstandesmäßigen Denken näher, aber nur in der vollendeten Wirkung, nicht im Ursprung. Hier stoßen zwei der schwierigsten Probleme zusammen. Was bedeutet das Wort Zeit? Darauf gibt es keine wissenschaftliche Antwort. Was bedeutet das Wort Raum? Das ist eine mögliche Aufgabe des theoretischen Nachdenkens. Aber mit der Zeit hängt wieder das Schicksal, mit dem Raum die Kausalität zusammen. Welche Beziehung muß also zwischen Schicksal und Ursache bestehen? Die Antwort liegt dem Tiefenerlebnis zugrunde, aber sie entzieht sich jeder Art von wissenschaftlicher Erfahrung und Mitteilung. Das Tiefenerlebnis ist eine ebenso unzweifelhafte wie unerklärbare Tatsache. Als dritter und sehr schwieriger Begriff folgt nun der des physiognomischen Taktes. Was damit gemeint ist, besitzt in Wirklichkeit jeder Mensch. Er lebt damit, er wendet ihn unaufhörlich praktisch an. Selbst der abstrakte Gelehrte alten Stils, dessen allbekannte hilflose und lächerliche Erscheinung im öffentlichen Leben auf der geringen Entwicklung dieses angeborenen und nicht erlernbaren Taktes beruht, besitzt doch so viel davon, daß er überhaupt leben kann. Hier ist aber eine sehr hohe Form dieses Taktes gemeint, eine unbewußte Methode, nicht das alltägliche Leben, sondern den Gang der Welt instinktiv zu durchschauen, die wenige Menschen wirklich beherrschen. Es ist die, in welcher der geborene Staatsmann und der echte Historiker trotz allen Gegensatzes von Praxis und Theorie übereinstimmen. Es ist kein Zweifel, daß sie in der Geschichte und im wirklichen Leben die weitaus wichtigere ist. Die andere, die systematische Methode, dient nur dem Auffinden von Wahrheiten, aber Tatsachen sind wichtiger als Wahrheiten. Der ganze Gang der politischen, wirtschaftlichen und überhaupt menschlichen Geschichte und der Lauf jedes einzelnen Lebens beruht auf ihrer ununterbrochenen Anwendung durch die Menschen, welche dies Leben führen, von den Unbedeutenden an, an welchen Geschichte sich vollzieht, bis zu den Bedeutenden, welche Geschichte machen. Gegenüber dieser wirklichen Vorherrschaft der physiognomischen Methode für Handelnde und selbst für Betrachtende während der meisten Zeit ihres Wachseins sinkt die systematische Methode, die in der Philosophie allein anerkannt ist, fast zur welthistorischen Bedeutungslosigkeit herab. Es ist das Abweichende meiner Lehre, daß sie mit vollem Bewußtsein auf dieser Methode des wirklichen Lebens aufgebaut ist. Sie besitzt dadurch zwar eine innere Ordnung, aber kein System.

Am wenigsten verstanden hat man den Gedanken, der vielleicht nicht ganz glücklich mit dem Worte Relativismus bezeichnet ist. Mit dem Relativismus in der Physik, der lediglich auf dem mathematischen Gegensatz von Konstante und Funktion beruht, hat er nicht das mindeste zu tun. Es werden noch Jahre vergehen, bevor man ihn sich so zu eigen gemacht hat, daß man wirklich mit ihm lebt. Denn es handelt sich hier um einen durchaus ethischen Blick über die Welt, in welcher das einzelne Leben sich abspielt. Niemand wird das Wort verstehen, wenn ihm der Schicksalsgedanke entgangen ist. Der Relativismus in der Geschichte, wie ich ihn sehe, ist eine Bejahung der Schicksalsidee. Das Einmalige, Unwiderrufliche, Niewiederkehrende alles Geschehens ist die Form, in welcher das Schicksal vor das menschliche Auge tritt.

Auch diesen Relativismus hat man, handelnd oder betrachtend, zu allen Zeiten gekannt. Er ist im wirklichen Leben so selbstverständlich und beherrscht das Bild des Alltags so vollständig und unbedingt, daß er gar nicht zum Bewußtsein kommt und deshalb in den Augenblicken theoretischen, d. h. verallgemeinernden Nachdenkens meist aus voller Überzeugung bestritten wird. Neu ist der Gedanke auch als solcher nicht. Es gibt keinen wirklich neuen Gedanken in einer so späten Zeit. Es gibt im ganzen 19. Jahrhundert nicht eine Frage, welche die Scholastik nicht schon als eines ihrer Probleme entdeckt, durchdacht und in eine glänzende Fassung gebracht hätte. Nur daß der Relativismus eine so unmittelbare Tatsache des Lebens und deshalb so unphilosophisch ist, daß man ihn wenigstens in den »Systemen« nicht geduldet hat. Die alte Bauernregel: Eines schickt sich nicht für alle, ist ungefähr das Gegenteil aller zünftigen Philosophie, die gerade beweisen will, daß eines sich für alle schickt, nämlich was der Verfasser gerade in seiner Ethik bewiesen hat. Ich habe mich mit vollem Bewußtsein auf »die andere Seite gestellt«, die des Lebens, nicht des Denkens. Die beiden naiven Standpunkte behaupten entweder, daß es irgend etwas gibt, das als Norm für alle Ewigkeit, also unabhängig von Zeit und Schicksal besteht, oder daß es das nicht gibt.

Was aber hier Relativismus genannt wird, ist weder das eine noch das andere. Hier habe ich etwas Neues geschaffen; es wird gezeigt, und dazu dient die Erfahrungstatsache, daß die »Weltgeschichte« keine Einheit des Geschehens ist, sondern eine Gruppe von bis jetzt acht hohen Kulturen, deren Lebensläufe, vollkommen selbständig, aber in durchaus gleichartiger Gliederung vor uns liegen – daß jeder Betrachtende, gleichviel, ob er für das Leben oder für das Denken denkt, doch nur als Mensch seiner Zeit denkt. Damit ist einer der törichtesten Einwände abgewiesen, die gegen meine Anschauung erhoben worden sind: daß nämlich der Relativismus sich selbst widerlege. Denn es ergibt sich, daß es für jede Kultur, für jede ihrer Epochen und für jede Art von Mensch innerhalb einer Epoche eine mit ihm gesetzte und geforderte Gesamtanschauung gibt, die für diese Zeit etwas Absolutes hat. Sie ist es nur nicht in bezug auf andere Zeiten. Es gibt für uns Menschen der Gegenwart eine geforderte Anschauung, aber sie ist selbstverständlich anders als die der Goethezeit. Wahr und falsch sind Begriffe, die hier nicht angewendet werden dürfen. Es gelten nur noch die Begriffe tief und flach. Wer anders denkt, kann jedenfalls nicht historisch denken. Jede lebendige Anschauung, auch die von mir vorgelegte, gehört einer einzelnen Zeit an. Sie hat sich aus einer anderen entwickelt und wird sich zu einer andern fortentwickeln. Im Laufe der ganzen Geschichte gibt es ebensowenig ewig richtige oder ewig falsche Lehren, wie es in der Entwicklung einer Pflanze richtige und falsche Stufen gibt. Sie sind sämtlich notwendig, und man kann nur von der einzelnen sagen, daß sie im Verhältnis zu dem, was gerade hier gefordert wurde, wohlgelungen oder mißraten sei. Aber ebenso kann man von jeder Weltanschauung, die irgendwann hervortritt, dasselbe sagen. Auch der strengste Systematiker fühlt das. Er bezeichnet fremde Lehren als zeitgemäß, verfrüht, veraltet und gibt damit selbst zu, daß die Begriffe richtig und falsch sozusagen nur für den Vordergrund der Wissenschaft Bedeutung haben, nicht aber für ihren lebendigen Wert.

Damit tritt der Unterschied von Tatsachen und Wahrheiten ans Licht. Eine Tatsache ist etwas Einmaliges, das wirklich da war oder da sein wird. Eine Wahrheit ist etwas, was nie verwirklicht zu sein braucht, um als Möglichkeit zu bestehen. Das Schicksal bezieht sich auf Tatsachen, der Zusammenhang von Ursache und Wirkung ist eine Wahrheit. Das hat man von jeher gewußt. Was man aber übersehen hat, ist, daß eben deshalb das Leben nur mit Tatsachen in Verbindung steht, nur aus Tatsachen besteht und sich nur auf Tatsachen richtet. Wahrheiten sind Größen des Denkens, und ihre Geltung besteht im »Reich der Gedanken«. Was in einer philosophischen Doktorarbeit steht, sind Wahrheiten. Daß jemand mit ihr durchfällt, ist eine Tatsache. Wo die Wirklichkeit beginnt, ist das Reich der Gedanken zu Ende. Niemand, auch nicht der weltfremdeste Systematiker, kann in seinem Leben diese – Tatsache auch nur für einen Augenblick übersehen. Er tut es auch nicht, aber er vergißt es, sobald er, statt zu leben, nur über das Leben nachdenkt.

Wenn ich ein Verdienst in Anspruch nehmen kann, so liegt es darin, daß man die Zukunft nicht mehr als unbeschriebene Tafel ansehen wird, auf der alles Platz findet, was dem einzelnen gut dünkt. Das schrankenlose und ungebändigte »so soll es sein« hat einem kalten und klaren Blick Platz zu machen, der die möglichen und deshalb notwendigen Tatsachen der Zukunft umfaßt und danach seine Wahl trifft. Das erste, was dem Menschen als unentrinnbares Schicksal entgegentritt und was kein Denken begreifen und kein Wille abändern kann, ist Zeit und Ort seiner Geburt: jeder ist in ein Volk, eine Religion, einen Stand, eine Zeit, eine Kultur hineingeboren. Aber damit ist bereits alles entschieden. Das Schicksal hat einen Menschen nicht als Sklaven zur Zeit des Perikles oder als Ritter zur Zeit der Kreuzzüge geboren werden lassen, sondern in einem Arbeiterhause oder einer Villa der Gegenwart. Wenn etwas Geschick, Fügung, Verhängnis ist, so ist es dies. Geschichte bedeutet, daß das Leben überhaupt fort und fort anders wird. Für den einzelnen aber ist es so und nicht anders. Mit seiner Geburt ist ihm seine Natur und ein Kreis von möglichen Aufgaben gegeben, innerhalb deren die freie Wahl zu Recht besteht. Was seine Natur kann oder will, und was seine Geburt ihm erlaubt oder verbietet, das ergibt für jeden einzelnen einen Kreis von Glück oder Elend, von Größe oder Feigheit, von Tragik oder Lächerlichkeit, die sein Leben allein ausfüllt und unter anderm bestimmt, ob es im Zusammenhange mit dem allgemeinen Leben und also für irgendeine Art von Geschichte Bedeutung hat oder nicht. Gegenüber dieser ursprünglichsten aller Tatsachen ist alles Philosophieren über »die« Aufgabe »der« Menschheit und »das« Wesen »des« Sittlichen leeres Geschwätz.

Und daraus ergibt sich das unbedingt Neue in meiner Denkweise, das endlich ausgesprochen und für das Leben erschlossen werden mußte, nachdem das ganze 19. Jahrhundert darauf hingedrängt hatte: Das bewußte Verhältnis des faustischen Menschen zur Geschichte. Man hat wieder nicht verstanden, weshalb ich das Schema Altertum – Mittelalter – Neuzeit, das längst selbst dem Dutzendgelehrten unbequem geworden war, ausdrücklich durch ein neues Bild ersetze: der wache Mensch lebt stets »in einem Bilde«; es beherrscht seine Entscheidungen und formt seinen Geist, aber er wird das alte nicht wirklich los, bevor er nicht ein neues für sich erobert und sich vollständig zu eigen gemacht hat.

Der »historische Blick« – das ist etwas, was nur dem westeuropäischen Menschen und ihm erst von heute an möglich ist; noch Nietzsche sprach von der historischen Krankheit. Er meinte, was er damals überall um sich sah, die tatenscheue Romantik der Literaten, das Hineinträumen der Philologen in irgendeine ferne Vergangenheit, die zaghafte Art der Patrioten, sich erst überall bei den Vorfahren umzusehen, bevor sie sich für irgend etwas entschieden, den Vergleich aus Mangel an Selbständigkeit. Wir Deutschen seit 1870 haben mehr darunter gelitten als irgendein anderes Volk. Haben wir nicht überall bei den alten Germanen, den Kreuzrittern, den Hellenen Hölderlins angeklopft, wenn wir wissen wollten, was im Zeitalter der Elektrizität zu tun war? Der Engländer war glücklicher daran: er hatte die ganze Masse seiner Einrichtungen, die von der Normannenzeit her geblieben waren: sein Recht, seine Freiheiten, seine Bräuche, und er konnte eine mächtige Tradition immer auf der Höhe seiner Zeit halten, ohne sie zu zerstören. Er kannte und kennt den sehnsüchtigen Blick nicht über ein Jahrtausend gescheiterter Ideale hin. Die historische Krankheit liegt auch noch im deutschen Idealismus und Humanismus dieser Tage; sie läßt uns von Weltverbesserungsplänen faseln und bringt täglich neue Entwürfe zum Vorschein, mit denen alle Lebensgebiete gründlich und endgültig in eine richtige Form gebracht werden und deren einziger praktischer Wert darin besteht, daß wesentliche Kräfte im Wortgefecht verbraucht, daß wirkliche Gelegenheiten nicht bemerkt werden und daß endlich London und Paris geringeren Widerstand finden.

Der historische Blick ist das Gegenteil davon. Er bedeutet: Kenner sein, überlegener, sicherer, kalter Kenner. Tausend Jahre historischen Denkens und Forschens haben einen unermeßlichen Schatz nicht von Wissen – darauf käme wenig an –, sondern von Erfahrungen vor uns ausgebreitet. Es sind Lebenserfahrungen in einem ganz neuen Sinne, vorausgesetzt, daß sie als solche aus einer Perspektive verstanden werden, wie ich sie hier entworfen habe. Wir sahen bis jetzt, und die Deutschen mehr als die andern Nationen, in der Vergangenheit Vorbilder, die nachgelebt werden müßten. Aber es gibt keine Vorbilder. Es gibt nur Beispiele, und zwar dafür, wie das Leben des einzelnen, ganzer Völker, ganzer Kulturen sich entwickelt, sich vollendet, zu Ende geht, wie sich Charakter und äußere Lage, wie sich Tempo und Dauer verhalten. Wir sehen nicht, wie wir es auch machen sollten, sondern wie etwas vor sich ging, das uns lehrt, wie aus unseren eigenen Voraussetzungen sich unsere eigenen Folgen ergeben werden. Bis jetzt wußte das mancher Menschenkenner, aber nur von seinen Schülern, Untergebenen, Mitarbeitern, und mancher feine Staatsmann, aber nur von seiner Zeit und ihren Persönlichkeiten und Nationen. Es war die große Kunst, mit den Mächten des Lebens zu schalten, weil man ihre Möglichkeiten durchschaute und ihre Wendungen voraussah. Damit beherrschte man die andern. Damit wurde man selbst zum Schicksal. Heute können wir das von der gesamten eigenen Kultur über Jahrhunderte hin voraussehen, wie von einem Wesen, das wir bis ins Innere durchschauen. Wir wissen, daß jede Tatsache ein Zufall ist, unvorhergesehen und unberechenbar, aber wir wissen, mit dem Bilde der andern Kulturen vor uns, ebenso sicher, daß Gang und Geist der Zukunft kein Zufall sind, beim einzelnen so wenig wie im Leben einer Kultur, daß sie zwar durch den freien Entschluß des Handelnden in prachtvollem Ablauf vollendet oder in Gefahr gebracht, verkümmert, zerstört, aber nicht in Sinn und Richtung abgelenkt werden können. Damit zum ersten Male ist eine Erziehung im großen Sinne möglich, ein Erkennen des innerlich Möglichen und ein Stellen von Aufgaben, ein Heranzüchten des einzelnen und ganzer Generationen für diese Aufgaben, die aus dem vorausschauenden Blick auf künftige Tatsachen und nicht aus irgendwelchen »idealen« Abstraktionen festgestellt werden. Zum erstenmal sehen wir als Tatsache, daß die gesamte Literatur der idealen »Wahrheiten«, all diese edlen, gutmütigen, törichten Einfälle, Entwürfe und Lösungen, alle diese Bücher, Flugschriften und Reden eine nutzlose Erscheinung sind, wie sie alle andern Kulturen zur entsprechenden Zeit auch kennengelernt und bald wieder vergessen haben, und deren ganze Wirkung darin bestand, daß kleine Gelehrte in irgendeinem Winkel später ein Buch darüber schreiben konnten. Und darum noch einmal: Für den bloßen Betrachter mag es Wahrheiten geben; für das Leben gibt es keine Wahrheiten, nur Tatsachen.

Und damit komme ich zur Frage des Pessimismus. Als ich 1911 unter dem Eindruck von Agadir plötzlich meine »Philosophie« entdeckte, lag der platte Optimismus des darwinistischen Zeitalters über der europäisch-amerikanischen Welt. Deshalb, aus einem inneren Widerspruch, habe ich mit dem Titel meines Buches unbewußt den Finger auf die Seite der Entwicklung gehalten, die damals niemand sehen wollte. Hätte ich heute zu wählen, so würde ich den ebenso platten Pessimismus durch eine andere Formel zu treffen suchen. Ich bin der letzte, der Geschichte mit einem Schlagwort werten zu dürfen glaubt.

Aber allerdings, was das »Ziel der Menschheit« angeht, so bin ich ein gründlicher und entschiedener Pessimist. Menschheit ist für mich eine zoologische Größe. Ich sehe keinen Fortschritt, kein Ziel, keinen Weg der Menschheit, außer in den Köpfen abendländischer Fortschrittsphilister. Ich sehe nicht einmal einen Geist und noch viel weniger eine Einheit des Strebens, Fühlens und Verstehens in dieser bloßen Bevölkerungsmasse. Eine sinnvolle Richtung des Lebens auf ein Ziel, eine Einheit der Seele, des Willens und Erlebens sehe ich nur in der Geschichte der einzelnen Kulturen. Das ist etwas Begrenztes und Tatsächliches, aber es enthält dafür Gewolltes, Erreichtes und wieder neue Aufgaben, die nicht in ethischen Phrasen und Allgemeinheiten bestehen, sondern in greifbaren historischen Zielen.

Wer dies Pessimismus nennt, tut es aus der ganzen Alltäglichkeit seines idealen Hinschlenderns heraus. Das ist die Geschichte als eine Landstraße, auf der die Menschheit vor sich hintrottet, immer in derselben Richtung, immer einen philosophischen Gemeinplatz vor Augen. Die Philosophen haben längst festgestellt, zwar jeder anders, aber doch jeder allein richtig, was für edle und abstrakte Wortklänge das Ziel unseres Erdendaseins und sein eigentliches Wesen bilden, aber zum Optimismus gehört außerdem, daß man ihnen immer näher kommt, ohne sie zu erreichen. Ein absehbares Ende würde dem Ideal widersprechen. Wenn jemand Einspruch erhebt, so ist er ein Pessimist.

Ich würde mich schämen, mit so billigen Idealen durchs Leben zu gehen. Es ist die Feigheit der geborenen Duckmäuser und Träumer darin, die es nicht vertragen, der Wirklichkeit ins Gesicht zu sehen und ein wirkliches Ziel mit ein paar nüchternen Worten festzusetzen. Es müssen immer große Allgemeinheiten sein, die aus der Ferne herüberleuchten. Das stillt die Angst derer, die für Wagnisse, Unternehmungen, für alles, was Tatkraft, Initiative, Überlegenheit fordert, verdorben sind. Daß auf sie ein solches Buch vernichtend wirken kann, weiß ich. Deutsche haben mir aus Amerika geschrieben, daß es wie ein Stahlbad auf solche wirkt, die entschlossen sind, im Leben etwas zu sein. Aber wer nur zum Reden, Dichten und Träumen geboren ist, saugt sich Gift aus jedem Buche. Ich kenne diese »Jünglinge«, von denen es in allen Literaten- und Künstlervierteln und auf allen Hochschulen wimmelt; erst war es Schopenhauer, dann war es Nietzsche, der sie von der Verpflichtung zur Energie befreien mußte. Jetzt haben sie einen neuen Befreier gefunden.

Nein, ich bin kein Pessimist. Pessimismus heißt: keine Aufgaben mehr sehen. Ich sehe so viele noch ungelöst, daß ich fürchte, es wird uns an Zeit und Männern für sie fehlen. Die praktische Seite der Physik und Chemie ist nicht entfernt an den Grenzen ihrer Möglichkeiten angelangt. Die Technik hat auf fast allen Gebieten den Gipfel noch vor sich. Zu den großen Pflichten der modernen Altertumsforschung gehört es, aus zahllosen Einzelergebnissen nun endlich ein Bild der Antike zu zeichnen, das geeignet ist, das klassizistische mit seiner Aufforderung zu idealischem Vorsichhinschlendern aus der Vorstellungswelt unserer Gebildeten zu beseitigen. Wie es wirklich in der Welt zugeht und wie zu allen Zeiten Romantik und abstrakte Ideale an den Tatsachen zerschellt sind, kann man nirgends besser lernen. Es stände anders mit uns, wenn wir in unserer Schulzeit mehr Thukydides studiert als Homerverse gelernt hätten. Aber bis jetzt hat noch kein Staatsmann daran gedacht, einen Kommentar zu Thukydides, Polybius, Sallust und Tacitus für die Jugend zu schreiben. Wir haben weder eine antike Wirtschaftsgeschichte noch eine Geschichte der antiken Politik. Wir haben, trotz der erstaunlichen Parallelen zur Geschichte Westeuropas, keine politische Geschichte Chinas bis auf den Augustus Hoang-ti. Das Recht, welches mit der sozialen und wirtschaftlichen Gestaltung unserer Zivilisation gesetzt ist, steht noch in den ersten Anfängen seiner Erfassung. Bis jetzt ist die Rechtswissenschaft nach dem Urteil ihrer besten Kenner nicht viel mehr als Philologie und Begriffsscholastik. Die Nationalökonomie ist überhaupt noch keine Wissenschaft. Von den politischen, wirtschaftlichen, organisatorischen Aufgaben unserer Zukunft schweige ich hier. Was aber unsere Beschaulichen und Idealisten suchen, ist eine bequeme Weltanschauung, ein System, das nur zum Überzeugtsein verpflichtet, eine moralische Ausrede für ihre Tatenscheu. Sie sitzen debattierend in den Ecken des Lebens, für die sie geboren sind; mögen sie darin bleiben.

Was folgt eigentlich aus der Tatsache, daß es nicht mit der »Menschheit« in Jahrtausenden vorwärts geht, für die wir niemals ein Programm entwerfen, ohne die Gefahr, daß die Wirklichkeit es sofort korrigiert, sondern mit der faustischen Kultur durch einige Jahrhunderte, deren historische Umrisse wir sehen? Der Puritanerstolz Englands sagt: alles ist vorausbestimmt – also muß ich siegen. Die andern sagen: alles ist vorausbestimmt – prosaisch und wenig ideal –, also hat es keinen Zweck anzufangen. Aber so steht es mit den Aufgaben, welche uns Menschen des Abendlandes noch vorbehalten sind: für Tatsachenmenschen sind sie unübersehbar; für Romantiker und Ideologen, die sich die Welt nicht denken können, ohne daß sie Verse machen, Bilder malen, ethische Systeme schmieden oder eine feierliche Weltanschauung leben, mag es freilich ein hoffnungsloser Ausblick sein.

Und hier spreche ich es offen aus, mag ein Geschrei erheben, wer da will: man überschätzt Kunst und abstraktes Denken in ihrer geschichtlichen Bedeutung. So wesentlich sie in ihren großen Zeiten gewesen sind, es hat immer Wesentlicheres gegeben. In der Kunstgeschichte ist die Bedeutung Grünewalds und Mozarts nicht zu überschätzen. In der wirklichen Geschichte des Zeitalters Karls V. und Ludwigs XV. denkt man gar nicht an ihr Vorhandensein. Es mag sein, daß ein großes historisches Ereignis einen Künstler aufgeweckt hat. Das Umgekehrte ist nie der Fall gewesen. Was heute entsteht, kommt aber nicht einmal für die Kunstgeschichte in Betracht. Und was die zünftige Philosophie dieser Tage betrifft, so sind alle ihre Schulen weder für das Leben noch für die Seele da; ihre Ansichten werden weder von den Gebildeten noch von den Gelehrten der übrigen Wissensgebiete wirklich beachtet. Sie dienen nur dem Zweck, Dissertationen darüber zu schreiben, die in andern Dissertationen zitiert werden, die wieder niemand liest als künftige Dozenten der Philosophie. – Die Frage vom Werte der Wissenschaft hat Nietzsche gestellt. Es wird Zeit, auch nach dem Werte der Kunst zu fragen. Zeiten ohne echte Kunst und Philosophie können immer noch mächtige Zeiten sein; die Römer haben uns das gelehrt. Aber für die Ewig-Gestrigen ist damit allerdings der Wert des Lebens entschieden.

Nun, für uns nicht. Man hat mir gesagt, ohne Kunst lohne es sich nicht, zu leben; ich frage zurück: für wen lohnt sich das nicht? Ich möchte nicht unter den Römern des Marius und Cäsar als Bildhauer, Ethiker oder Dramatiker gelebt haben, oder als das Glied irgendeiner Georgesekte, die hinter dem Forum mit literarischer Geste die Römerpolitik verachtete. Niemand kann zur großen Kunst unserer Vergangenheit – denn die Gegenwart hat keine – ein näheres Verhältnis haben als ich: ich möchte nicht ohne Goethe, ohne Shakespeare, ohne die alten Architekturen leben; jedes Stück edler Renaissancekunst ergreift mich, gerade weil ich ihre Grenzen sehe. Bach und Mozart gehen mir über alles; aber daraus folgt nichts für die Notwendigkeit, die Tausende von schreibenden, malenden, weltbetrachtenden Bewohnern unserer Großstädte als echte Künstler und Denker zu bezeichnen. In Deutschland wird mehr gemalt, geschrieben und »entworfen« als in allen übrigen Ländern der Welt zusammen. Ist das Kultur oder Mangel an Wirklichkeitssinn? Sind wir so reich an Gestaltungskraft oder so arm an praktischer Energie? Und entspricht das Resultat auch nur entfernt dem Aufwand an selbstbewußtem Lärm? Der Expressionismus, die Mode von gestern, hat weder eine Persönlichkeit noch eine Leistung von Rang hinterlassen. Ich bin tausendmal widerlegt worden, als ich den Ernst dieser Bewegung anzweifelte, gewiß. Maler, Dichter und Philosophen haben mir es mit Worten und nicht mit Taten zu beweisen versucht. Sie mögen mich widerlegen, indem sie neben den Tristan, die Hammerklaviersonate, den König Lear, die Bildnisse von Marée etwas Ebenbürtiges stellen. Hier ist die Gefahr vorhanden, daß all diese marklosen, weibischen, überflüssigen »Bewegungen« nicht nur für eine Notwendigkeit, sondern für die Notwendigkeit der Zeit gehalten werden. Ich nenne dies die kunstgewerbliche Weltanschauung. Bauen, Malen und Dichten als Kunstgewerbe, Religion als Kunstgewerbe, Politik als Kunstgewerbe, die Weltanschauung selbst als Kunstgewerbe – das stinkt aus all diesen Kreisen und Bünden, Cafés und Vortragssälen, Ausstellungen, Verlagen und Zeitschriften zum Himmel. Und das will nicht geduldet sein – das will herrschen; das nennt sich deutsch; das will über die Zukunft verfügen.

Selbst hier sehe ich noch Aufgaben, nur nicht die Männer – Männer –, die ihnen gewachsen sind. Der deutsche Roman gehört zu den Aufgaben des Jahrhunderts; bis jetzt haben wir nur Goethe. Aber er fordert Persönlichkeiten, überlegen an Tatkraft und Weltblick, in großen Stellungen aufgewachsen, groß auch durch die Würde ihrer Anschauungen und ihres Taktes. Wir haben noch keine deutsche Prosa, wie es eine englische und französische gibt. Was wir bis jetzt besitzen, ist der Stil einzelner Schriftsteller, der sich aus einem sehr schlechten Durchschnitt zu ganz persönlicher Meisterschaft erhebt. Der Roman könnte sie schaffen; heute aber schreiben Männer der Wirklichkeit, Industrielle, hohe Offiziere, Organisatoren besser, gründlicher, klarer, tiefer als diese Literaten zehnten Ranges, die aus dem Stil einen Sport gemacht haben. Ich vermisse im Lande des Till Eulenspiegel eine Posse großen Stils, von welthistorischen Höhen und Tiefen, geistreich, tragisch, leicht und fein; es ist fast die einzige Form, in der man heute Philosoph und Dichter zugleich sein kann, ohne unecht zu werden. Ich vermisse noch heute, was einst Nietzsche vermißte, eine deutsche Carmenmusik voller Rasse und Geist, sprühend von Melodie, Tempo, Feuer, bei welcher Mozart und Johann Strauß, Bruckner und der junge Schumann sich nicht schämen würden, als Ahnen genannt zu werden. Aber die Orchesterakrobaten von heute können nichts. Seit dem Tode Wagners ist kein großer Melodienschöpfer hervorgetreten. Was ehemals, als es eine lebendige Kunst gab, die Konvention war, der Takt des Lebens, der durch Künstler, Kunstwerke und Betrachter ging und jeden zwang, so zu bilden und zu sehen, wie er sollte und mußte, so daß die großen und kleinen Künstler sich nicht durch die Strenge der Form, sondern nur durch die Tiefe der Konzeptionen unterschieden – an Stelle dieses Taktes ist der »Entwurf« getreten, das Verächtlichste, was es gibt. Alles was nicht mehr lebt, wird entworfen. Sie entwerfen eine persönliche Kultur mit Theosophie und Meisterkult, sie entwerfen eine persönliche Religion mit Buddhaausgaben auf Büttenpapier, sie entwerfen einen Staat aus dem Eros. Sie möchten seit der Revolution Landwirtschaft, Handel und Industrie »entwerfen«.

Diese Ideale soll man in Scherben schlagen; je lauter es klirrt, desto besser. Härte, römische Härte ist es, was jetzt in der Welt beginnt. Für etwas anderes wird bald kein Raum mehr sein. Kunst ja, aber in Beton und Stahl, Dichtung ja, aber von Männern mit eisernen Nerven und unerbittlichem Tiefblick, Religion ja – aber dann nimm dein Gesangbuch, nicht den Konfuzius auf Büttenpapier – und gehe in die Kirche, Politik ja, aber von Staatsmännern und nicht von Weltverbesserern. Alles andere kommt nicht in Betracht. Und man sollte nie vergessen, was hinter uns und was vor uns Menschen dieses Jahrhunderts liegt. Zu einem Goethe werden wir Deutschen es nicht wieder bringen, aber zu einem Cäsar.


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