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Nietzsche und sein Jahrhundert

Rede, gehalten am 15. Oktober 1924, dem 80. Geburtstage Nietzsches, im Nietzsche-Archiv zu Weimar

Wer heute auf das 19. Jahrhundert zurückblickt und seine großen Menschen an sich vorüberziehen läßt, der findet in der Erscheinung Nietzsches etwas Erstaunliches, wie es seine eigne Zeit kaum hat empfinden können. Alle anderen, auch Wagner, auch Strindberg, auch Tolstoi haben doch irgendwie die Farbe und Form dieser Jahre getragen, sind irgendwie mit dem platten Optimismus ihrer Fortschrittsphilister, ihrer Nützlichkeits- und Gesellschaftsethik, ihrem Weltbild aus Kraft und Stoff und Anpassung und Zweckmäßigkeit verhaftet gewesen und haben dem Zeitgeist Opfer über Opfer gebracht. Eine rücksichtslose Ausnahme davon macht nur einer, und wenn das Wort »unzeitgemäß«, das er selbst geprägt hat, heute noch von irgend jemand gelten darf, dann ist es Nietzsche selbst gewesen. Denn man wird in seinem ganzen Leben und der gesamten Haltung seines Denkens vergeblich nach etwas suchen, worin er einer Mode innerlich erlegen wäre.

Er steht damit im Gegensatz und doch auch wieder in einer tief innerlichen Verwandtschaft zu dem zweiten Deutschen der neueren Zeit, dessen Leben ein großes Symbol gewesen ist: Goethe. Es sind die beiden einzigen Deutschen von Rang, deren Dasein außerhalb und neben ihren Werken Tiefe besitzt und, weil beide von Anfang an selbst so empfunden und sich darüber dauernd Rechenschaft abgelegt haben, Goethes »Bild« bietet die bekannte Sammlung: »Der junge Goethe«, die Briefe und Gespräche, und im Vergleich dazu »Dichtung und Wahrheit«; Nietzsches autobiographische Aufzeichnungen seit der Kindheit gibt soeben die Schwester heraus: »Der werdende Nietzsche«, womit wieder »Ecce homo« als Rückblick zu vergleichen ist. zum Gemeingut ihrer Nation und zu einem wesentlichen Bestandteil von deren Geistesgeschichte geworden ist.

Aber es war das Glück Goethes, daß er auf der Sonnenhöhe abendländischer Kultur geboren wurde, inmitten einer reifen und gesättigten Geistigkeit, die er repräsentierte, und daß er nichts brauchte als ganz der Mensch seiner Zeit zu sein, um zu jener formvollen Abgeklärtheit zu gelangen, die gemeint war, wenn man ihn später den Olympier nannte. Nietzsche hat ein Jahrhundert danach gelebt, und inzwischen war die große Wendung eingetreten, die wir erst heute begreifen. Es war sein Verhängnis, jenseits des Rokoko zu stehen, mitten in der vollkommenen Kulturlosigkeit der sechziger und siebziger Jahre. In was für Straßen und Häusern mußte er leben! Was mußte er an Manieren, Kleidung, Möbeln um sich sehen! In was für Formen bewegte sich damals der gesellschaftliche Verkehr; wie dachte, wie schrieb, wie fühlte man! Goethe lebte in einer Zeit voller Form; Nietzsche verging vor Sehnsucht nach Formen, die unwiderruflich zerbrochen und vergangen waren; und wie der eine nur zu bejahen brauchte, was er sah und miterlebte, so blieb dem andern nichts übrig als ein leidenschaftlicher Protest gegen alles Gegenwärtige, wenn er in sich retten wollte, was von seinen Vorfahren her als Kulturerbe in ihm noch wirksam war. Sie haben beide ihr Leben hindurch nach strenger innerer Form und Geformtheit getrachtet. Aber das 18. Jahrhundert war selbst in Form. Es besaß das Höchste, was Westeuropa an Gesellschaft je gekannt hat. Das 19. Jahrhundert hatte weder eine vornehme Gesellschaft noch Formen überhaupt. Von den beiläufigen Sitten einer großstädtischen Oberklasse abgesehen kannte es nur hier und da eine mühsam aufrecht erhaltene höfische oder bürgerliche Tradition. Und ebenso wie Goethe als anerkanntes Glied der Gesellschaft alle großen Fragen seiner Zeit erfassen und lösen konnte, wie es »Wilhelm Meister« und die »Wahlverwandtschaften« lehren, so konnte Nietzsche nur in völliger Abgewandtheit von ihr seine Aufgabe in sich retten. Seine schauerliche Einsamkeit steht als Sinnbild der heitren Geselligkeit Goethes gegenüber. Der eine bildet Vorhandenes durch, der andre grübelt über Nichtvorhandenem – für eine herrschende Form und gegen eine herrschende Unform.

Aber davon abgesehen war Form für sie etwas sehr Verschiedenes. Nietzsche ist unter den großen geistigen Deutschen der einzige geborene Musiker gewesen. Alle anderen waren entweder Bildner oder Zergliederer, mochten sie nun denken, dichten oder malen. Er lebte, fühlte, er dachte mit dem Ohr. Er hat ja seine Augen kaum gebrauchen können. Seine Prosa ist gehört, fast gesungen, nicht »geschrieben«. Die Vokale und Kadenzen sind wichtiger als die Vergleiche. Und so war das, was er in den Zeiten fühlte, ihre Melodie, ihr Takt. Er entdeckte die Tonart fremder Kulturen. Niemand hat vor ihm etwas vom Tempo der Geschichte gewußt. Eine ganze Anzahl seiner Begriffe – das Dionysische, das Pathos der Distanz, die ewige Wiederkunft – sind durchaus musikalisch zu verstehen. Er fühlte den Takt in dem, was man Adel, Sitte, Heldentum, Vornehmheit, Herrenmoral nannte. Er hat zuerst in dem Geschichtsbild, das die gelehrte Forschung damals aus Daten und Zahlen aufgebaut hatte, die rhythmische Folge der Zeitalter, der Sitten und Denkweisen, der Rassen und großen Einzelnen wie eine Symphonie erlebt.

Und er selbst hatte Musik, so wie er ging, sprach, sich kleidete, andere Menschen empfand, wie er Probleme formte und Schlüsse zog. Was für Goethe Bildung war, war für ihn Takt, und zwar im weitesten Sinne, gesellschaftlicher, sittlicher, geschichtlicher, sprachlicher Takt, durch Entbehren geschärft in einer Zeit, die wenig davon besaß. Der Tasso ist aus dem Leiden geboren wie der Zarathustra, aber Tasso verging im Gefühl seiner Schwäche vor einer Gegenwart, die er liebte und hoch über sich sah. Zarathustra verachtet seine Gegenwart und flüchtet sich in Fernen der Vergangenheit oder Zukunft.

Dies: in einer Zeit nicht zu Hause sein, ist ein deutsches Verhängnis. Wir sind durch die Schuld unsrer Vergangenheit zu spät aufgeblüht und dann zu schnell. Wir mußten von Klopstock und Lessing an in kaum achtzig Jahren eine Bahn durchmessen, für die andre Nationen Jahrhunderte Zeit hatten. Deshalb kam es nicht zur Bildung einer verinnerlichten formalen Tradition und einer Gesellschaft von Rang als Hüterin dieser Tradition. Wir übernahmen Formen, Motive, Aufgaben, Lösungen von allen Seiten und kämpften mit ihnen, während andre mit ihnen und in ihnen heranwuchsen. Neben dem Anfang stand bereits das Ende. Kleist entdeckte – als Erster! – Ibsenzüge, während er

noch die Charakteristik Shakespeares sich anzueignen suchte. Dieser Tragik verdankt die deutsche Geistigkeit eine dichte Folge ausgeprägter Persönlichkeiten, als Frankreich und England bereits nur »Schriftsteller« besaßen – Dichtung und Denken als Beruf, nicht als Schicksal – aber auch das Fragmentarische, Unerlöste, von den letzten Zielen und Rundungen Ausschließende.

Handschriftliche Einlage

Handschriftliche Einlage

Wir können heute den Gegensatz, der um 1800 überall in Westeuropa – auch das literarische Petersburg gehörte dazu – hervortrat, mit den Worten Klassizismus und Romantik umfassen. Goethe ist Klassizist in demselben Maße, wie Nietzsche Romantiker gewesen ist, aber damit ist nur die vorherrschende Farbe ihres Seins bezeichnet. Jeder von beiden besaß auch noch die andre Möglichkeit in sich, die sich zuweilen in den Vordergrund drängte; und so wie Goethe, dessen Faustmonologe und westöstlicher Divan Höhepunkte romantischen Weltgefühls sind, immer wieder bestrebt war, diesen Hang zum Fernen und Grenzenlosen zu meistern und einer klaren und strengen, überlieferten Form unterzuordnen, so hat Nietzsche seine anerzogene Neigung zum Klassisch-Vernünftigen, dem er als Temperament und als Philologe doppelt nahestand, wenigstens in seinen Wertungen hinter dem zurückgesetzt, was er dionysisch nannte. Sie standen beide an der Grenze. Goethe war ebenso der letzte Klassizist, wie Nietzsche neben Wagner der letzte Romantiker war. Sie haben lebend und gestaltend den Kreis dieser Möglichkeiten erschöpft. Nach ihnen war der Sinn der Zeiten so nicht mehr in Worte und Bilder zu fassen – das haben die Epigonen des klassischen Dramas und die Nachtreter Zarathustras und des Nibelungenringes bewiesen. Aber ebenso ist es unmöglich, gleich ihnen eine neue Art des Sehens und Sagens zu erschließen. Es mögen noch so starke Gestalter in Deutschland hervortreten – als Einzelne und schöne Zufälle – denn auch die große Linie der Entwicklung ist zu Ende – sie werden stets im Schatten dieser beiden stehen.

Es gehört zum Wesen des abendländischen Klassizismus, daß er unter Beherrschung entgegengesetzter Triebe ganz am Gegenwärtigen haftet und Vergangenheit und Zukunft in diesem aufzulösen sucht. Goethes Ausspruch von der »Forderung des Tages«, seine »heitre Gegenwart« bedeuten doch, daß er jede Art von Vergangenem, seine Griechen, seine Renaissance, auch Götz und Faust und Egmont an sich zog, um sie völlig dem Geist der Nähe einzuverleiben, so daß uns bei Tasso und Iphigenie nicht einmal der Gedanke an historische Unterlagen kommt. Umgekehrt ist die Ferne die eigentliche Heimat aller Romantiker. Sie sehnen sich alle aus dem Gegenwärtigen nach dem, was weit ab und fremd ist, in die Vergangenheit und Zukunft der Geschichte; keiner hat je ein tiefes Verhältnis zu dem finden können, was ihn umgab.

Den Romantiker lockt, was ihm wesensfremd, den Klassizisten, was ihm wesensgemäß ist. Edle Träumer und edle Bezwinger der Träume: so haben die einen für die Eroberer, Empörer und Verbrecher der Vergangenheit oder für Idealstaaten, Zukunftsreiche und Übermenschen geschwärmt, die anderen die Staatskunst als Praxis und Methode verstanden oder auch ausgeübt, wie Goethe und Humboldt. Das Gespräch zwischen Egmont und Oranien ist ein Meisterwerk Goethes. Er hat Napoleon geliebt, als Erscheinung, wie er sie in der Nähe wirken sah. Mit den Gewaltmenschen der Vergangenheit hat er, sobald er sie vergegenwärtigen sollte, nie etwas anzufangen gewußt: sein Cäsar blieb ungeschrieben. Aber Nietzsche liebte gerade Menschen dieses Schlages nur aus der Ferne. In der Nähe – wie Bismarck – ertrug er sie nicht. Er hätte auch Napoleon nicht ertragen. Er wäre ihm roh, leer und flach erschienen, wie die napoleonischen Naturen, die um ihn lebten, die großen Politiker Europas und die Machtmenschen der Wirtschaft, die er nicht einmal gesehen, geschweige denn verstanden hat. Er brauchte einen weiten Abstand zwischen dem Einst und Jetzt, um sich einer Wirklichkeit verwandt zu fühlen, und deshalb schuf er sich den Übermenschen und kaum weniger frei die Gestalt Cesare Borgias. Diese beiden Tendenzen durchziehen in tragischer Weise die deutsche Geschichte der jüngsten Zeit. Bismarck war ein Klassizist der Politik. Er rechnete nur mit Vorhandenem, mit Dingen, die er sah und bewegen konnte, und deshalb haben ihn die patriotischen Schwärmer weder geliebt noch begreifen können, bis sein Werk abgeschlossen dalag und er als fast mythische Gestalt romantisch verklärt werden konnte: »der Alte im Sachsenwald«. Aber Ludwig II., der an seiner Romantik zugrunde gegangen ist und niemals irgend etwas schuf oder hätte schaffen können, was Dauer versprach, fand diese Liebe, ohne sie zu achten, nicht nur im Volk, sondern unter Denkern und Künstlern, die schärfer hätten sehen können. Kleist wird unter uns bestenfalls mit einer scheuen Achtung empfunden, die einer Ablehnung gleichkommt, gerade dort, wo es ihm gelang, den Romantiker in sich zu bezwingen. Er steht den meisten innerlich unendlich fern im Gegensatz zu Nietzsche, dessen Gestalt und Schicksal dem des bayrischen Königs doch nahekommt, das selbst von denen wider Willen verehrt wird, die ihn nie gelesen haben.

Aus dem Hang zur Ferne erklärt sich nun auch sein aristokratischer Geschmack, der einsam und schwärmerisch ist durch und durch. Der beginnende Klassizismus des 18. Jahrhunderts, der an der Themse entstand und von dort auf das Festland übertragen wurde, so wie die ossianische Romantik aus Schottland stammt, ist vom gleichzeitigen Rationalismus nicht zu trennen. Er gestaltet bewußt und überlegt; er ersetzt die freie Einbildungskraft durch Wissen, selbst durch Gelehrsamkeit: die verstandenen Griechen, die verstandene Renaissance, und deshalb endlich auch die verstandene tätige Mitwelt. Diese englischen Klassizisten, die sämtlich von Stand waren, haben den Liberalismus als Weltanschauung schaffen helfen, so wie ihn das 18. Jahrhundert, wie ihn Friedrich der Große verstand, das Absehen von Unterschieden, deren man sich in der Praxis ohnehin sicher fühlte, das vernünftige Eingehen auf Tatsachen der öffentlichen Meinung, die man der Gefahr entkleiden, aber weder beseitigen noch sich verschweigen konnte. Aus dem Klassizismus einer vornehmen Gesellschaft ist die englische Demokratie hervorgegangen, eine überlegene Taktik, kein doktrinäres Programm. Sie beruht auf langen und tiefen Erfahrungen einer Schicht, die es gewohnt war, mit dem Wirklichen und Möglichen zu rechnen und umzugehen, und die deshalb nie in die Gefahr kam, sich gemein zu machen statt leutselig zu sein. Goethe, der sich auch seines gesellschaftlichen Ranges bewußt war, ist niemals Aristokrat in dem leidenschaftlich theoretischen Sinne gewesen wie Nietzsche, der die Gewohnheit praktischer Erfahrungen aus der Nähe nicht besaß. Zuletzt hat er doch auch die Demokratie seiner Zeit in ihrer Macht und Ohnmacht niemals wirklich kennengelernt. Wenn er sich gegen Herdengefühle mit dem Ingrimm eines seelisch empfindlichen Menschen auflehnte, so stammte der Anlaß dazu aus irgendeiner geschichtlichen Vergangenheit. Er sah, in dieser unerbittlichen Form ohne Zweifel als erster, wie in allen großen Kulturen und Epochen der Vergangenheit die Menge nichts ist, wie sie Geschichte erleidet aber nicht macht, wie sie das beständige Opfer und Objekt des persönlichen Willens der zum Herrschen geborenen Einzelnen und Klassen ist. Gefühlt wurde das oft genug, aber bis auf ihn hat dies Gefühl nicht das überlieferte Bild der »Menschheit« zu zerstören vermocht, deren Entwicklungsgang die fortschreitende Lösung einer idealen Aufgabe und deren Führer die Vertreter dieser Aufgabe zu sein schienen. Hier liegt der unermeßliche Unterschied zwischen der Geschichtsschreibung eines Niebuhr und Ranke, die als Idee doch auch romantischen Ursprungs war, und seiner Art, Geschichte zu schauen. Sein Blick, der in die Seele der Zeiten und Völker drang, hat die bloße pragmatische Ordnung der Tatsachen überwunden.

Aber dieser Blick bedurfte des Abstandes. Der englische Klassizismus, der auch in Grote den ersten modernen Geschichtsschreiber der Griechen hervorgebracht hat, einen Kaufmann und praktischen Politiker, war durchaus der einer erlesenen Gesellschaft. Man adelte diese Griechen, indem man sie wie seinesgleichen empfand, sie sich in des Wortes eigentlichster Bedeutung »vergegenwärtigte«, als gepflegte, distinguierte, geistig verfeinerte Menschen, die alles, was sie taten, mit Geschmack taten, auch Homer und Pindar, welche die englische klassische Philologie als erste Horaz und Virgil vorzog. Aus der englischen Gesellschaft drang dieser Klassizismus in das, was ihr in Deutschland allein entsprechen konnte, an die kleinen Höfe, deren Prinzenerzieher und Prediger die Vermittler waren; und der höfische Kreis von Weimar war zuletzt die Welt, innerhalb deren Goethes Leben zum Symbol einer heitren Nähe und abgerundeten Gegenwart wurde: ein geselliges Haus, das den Mittelpunkt des geistigen Deutschlands bildete, eine Erfülltheit, wie sie in keinem zweiten Lebenslauf eines deutschen Dichters zu erblicken ist, eine Harmonie des Aufsteigens, Reifens und Ausklingens, die klassisch ist in einem spezifisch deutschen Sinne.

Neben dieser Laufbahn steht die andre, die ebenfalls in Weimar zu Ende kam, ausgehend von der Gebundenheit eines evangelischen Pfarrhauses, aus dem ein großer und vielleicht der größte Teil deutscher Geistigkeit stammt, bis in die sonnentrunkene Einsamkeit des Engadin. Es gibt keinen zweiten Deutschen, der so leidenschaftlich als Privatmann gelebt hat, abseits von allem was Öffentlichkeit und Gesellschaft heißt, obwohl sie alle den Hang dazu haben, auch wenn sie öffentliche Menschen sind. Seine schwärmerische Sehnsucht nach Freunden war im letzten Grunde doch nur seine Unfähigkeit, wirklich in Gesellschaft zu leben, eine geistigere Art also, einsam zu sein. An Stelle des freundlichen Goethehauses am Frauenplan das kleine freudlose Haus in Sils-Maria, die Einsamkeit der Berge, die Einsamkeit des Meeres und zuletzt das einsame Erlöschen in Turin – es ist der reinste romantische Lebenslauf, den das 19. Jahrhundert uns dargeboten hat.

Trotzdem war sein Bedürfnis, sich mitzuteilen, stärker als er selbst glaubte, und weit stärker jedenfalls als dasjenige Goethes, der aller Umgänglichkeit zum Trotz einer der verschwiegensten Menschen gewesen ist. Seine »Wahlverwandtschaften« sind ein verschlossenes Buch, um von den Wanderjahren und dem zweiten Faust zu schweigen; seine tiefsten Gedichte sind Selbstgespräche. Die Aphorismen Nietzsches sind es niemals, auch das Nachtlied, auch die Dionysos-Dithyramben sind es nicht ganz. Ein unsichtbarer Zeuge ist immer zugegen, dessen Auge auf ihm ruht; darin ist er doch Protestant und gottgläubig geblieben. Alle diese Romantiker lebten in Zirkeln und Schulen. Etwas derart erfand er, indem er seine Freunde zu ebenbürtigen Hörern umdichtete, oder in die ferne Vergangenheit und Zukunft einen Kreis von Weggenossen schuf, um ihnen dann wieder wie Novalis und Hölderlin seine Einsamkeit zu klagen. Sein ganzes Leben ist erfüllt von Seligkeit und Qual des Entsagens, von dem Wunsch, sich hinzugeben und sich zu bezwingen, irgendwo und in irgendeiner Form sein Leben an etwas zu knüpfen, das ihm doch wieder nicht wesensgemäß war. Aber so entwickelt sich sein Blick für die Seele der Zeiten und Kulturen, die einem klassischen, seiner selbst sichern Menschen ihre Geheimnisse nicht preisgab.

Aus dem organischen Pessimismus seines Daseins erklären sich nun die Werke und die Reihenfolge, in der sie hervorgetreten sind. Wir, die wir den Blütejahren des Materialismus schon fernstehen, sollten immer wieder darüber staunen, was für eine Tat es war, wenn jemand in diesem Alter und bei diesem Stande der Wissenschaft von 1870 ein Buch wie die »Geburt der Tragödie« schrieb. Die berühmte Formel von Apollo und Dionysos enthält viel mehr, als der Durchschnitt auch heute noch begreift. Nicht das war das wichtigste, daß er im »klassischen« Griechentum, das für alle andern, Bachofen und Burckhardt etwa ausgenommen, die reinste Offenbarung des allgemein Menschlichen war, einen inneren Zwiespalt entdeckte, sondern daß er die Überlegenheit des Blicks schon damals besaß, um ganzen Kulturen wie lebenden Einzelwesen ins Innere zu sehen. Man braucht im Vergleich damit nur Mommsen und Curtius zu lesen. Die andern verstanden unter Griechentum nur eine Summe von Zuständen und Ereignissen, die innerhalb einer Zeit und eines Raumes lagen. Die heutige Art, Geschichte zu sehen, verdankt der Romantik nur den Ursprung, nicht die Tiefe. Sie war damals nichts als angewandte Philologie, wenn sie sich mit Griechen und Römern, nichts als angewandte Archivforschung, wenn sie sich mit abendländischen Völkern beschäftigte. Sie hat die Ansicht entwickelt, daß Geschichte mit der schriftlichen Überlieferung beginne. Die Befreiung erfolgte aus dem Geiste der Musik. Von dem Musiker Nietzsche stammt die Kunst, sich in den Stil und Takt fremder Kulturen einzufühlen, jenseits und oft im Widerspruch zu den Quellen – aber was kommt darauf an! Mit dem Worte Dionysos hat Nietzsche entdeckt, was die Ausgrabungen dreißig Jahre später endlich auch offenbarten, die Unterwelt und Unterseele der antiken Kultur und damit das Seelenhafte selbst, das hinter der großen Geschichte steht. Aus der Geschichts beschreibung war Geschichtspsychologie geworden. Das 18. Jahrhundert und der Klassizismus, auch Goethe, glaubten an »die« Kultur, die eine, wahre, sittlich-geistige als Aufgabe der einen Menschheit. Nietzsche redet von Anfang an mit Selbstverständlichkeit von Kulturen wie von Schauspielen der Natur, die schlechthin irgendwann einmal begannen, ohne Aufgabe, Vernunft, Zweck und Grund, oder wie sonst die allzumenschlichen Deutungen lauten mögen. Einmal – denn daß alle diese Kulturen, Wahrheiten, Denkweisen, Künste zu einer Art und Form von Dasein gehören, das auftaucht und dann für immer wieder verschwindet, das steht mit solcher Deutlichkeit zum erstenmal in diesem Buch. Daß jede geschichtliche Tatsache Ausdruck einer Seelenregung ist, daß Kulturen, Zeitalter, Stände, Rassen eine Seele haben wie einzelne Menschen, das war ein so ungeheurer Schritt vorwärts in der historischen Vertiefung, daß es damals auch von ihm selbst in seiner Tragweite nicht übersehen wurde.

Und trotzdem gehört es nun wieder einerseits zur Sehnsucht des Romantikers, seinem eigenen Wesen zu entfliehen, und andrerseits zu dem Verhängnis, in dieser Zeit geboren zu sein, daß er mit dem zweiten Buch »Menschliches, Allzumenschliches« sich zwang, dem plattesten Realismus als Herold zu dienen. Es sind die Jahre, in welchen der abendländische Rationalismus als Farce endete, nachdem er unter Rousseau, Voltaire und Lessing mit Größe begonnen hatte. Die Lehre Darwins und der Kraft- und Stoffglaube wurden die Religion der Städte; die Seele war ein chemischer Prozeß im Eiweiß, und der Zweck der Welt sammelte sich in einer Sozialethik aufgeklärter Philister. Mit keiner Faser seines Wesens stand Nietzsche diesen Dingen nahe. Seinem Ekel hatte er schon in der ersten »Unzeitgemäßen« Luft gemacht, aber der Gelehrte in ihm beneidete Chamfort und Vauvenargues und die leichte und etwas zynische Art, im Tone der großen Welt mit ernsten Dingen umzugehen; der Künstler und Enthusiast wurde verlegen vor der massiven Nüchternheit etwa eines Dühring, die er für Größe hielt, und als durch und durch priesterlicher Mensch, der er war, christlicher als seine Zeit und christlicher als jede Kirche, ging er daran, die Religion als Vorurteil zu entlarven. Jetzt war der Zweck des Lebens die Erkenntnis und das Ziel der Geschichte die Entwicklung der Intelligenz. Das sagte er, weil es ihm weh tat, in einer spöttischen Form, mit welcher er seine Leidenschaft geißelte, und mit dem unerfüllbaren Verlangen, mitten aus der Zeit ein verführerisches Bild der Zukunft zu erhalten, das im Gegensatz stand zu dem, welches ihm angeboren war.

Obwohl nun der Zweckmäßigkeitsrausch des Darwinismus ihm so fern als möglich lag, hat er doch aus ihm Geheimnisse geholt, von denen kein echter Darwinist etwas ahnte. In der »Morgenröte« und »Fröhlichen Wissenschaft« taucht ganz leise neben einer Art, die Dinge zu sehen, welche prosaisch, ja verächtlich sein sollte, eine andre, scheue, verehrende auf, die tiefer dringt als je die eines bloßen Realisten. Wer hat vor ihm von der Seele einer Zeit, eines Standes, eines Berufes, des Priesters, des Helden, des Mannes, des Weibes so gesprochen, wie er das tat? Wer hat die Psychologie ganzer Jahrhunderte auf eine fast metaphysische Formel gebracht? Wer hat in dieser Geschichte statt der Tatsachen oder »ewigen Wahrheiten« die Typen des heroischen, duldenden, schauenden, starken, kranken Lebens als die eigentliche Substanz des Geschehens hingestellt? Das war eine ganz neue Art von lebendigen Formen, die nur ein geborener Musiker mit seinem Gefühl für Rhythmus und Melodie finden konnte, und nun zeichnet er über die Physiognomik der geschichtlichen Zeiten hinaus, deren Schöpfer er ist und bleiben wird, an den Horizont seines Schauens noch die gewaltigen Symbole einer, seiner Zukunft, die er brauchte, um von den Schlacken der denkenden Gegenwart ganz geläutert zu sein, in einer erhabenen Stunde das Bild der ewigen Wiederkunft, wie es etwa deutsche Mystiker in gotischer Zeit geahnt haben, ein Kreisen im Unendlichen, in der Nacht unermessener Zeiten, eine Art, seine Seele ganz in die geheimnisvollen Tiefen des Alls zu verlieren, gleichviel ob diese Dinge wissenschaftlich zu rechtfertigen sind oder nicht. Und mitten in dieser Vision die des Übermenschen und seines Verkünders, Zarathustras, als der verkörperte Sinn der kurzatmigen Menschengeschichte des Erdengestirns, auf dem er selbst hauste, alle drei Gestaltungen von einer vollkommenen Ferne, die nirgends auf Gegenwärtiges bezogen werden können und die gerade deshalb jede deutsche Seele rätselhaft berühren. Denn in jeder gibt es einen Winkel, wo Völkerideale und Zukunftsträume von einer schöneren Menschheit schlafen. Goethe bedurfte dessen kaum – deshalb konnte er nicht eigentlich volkstümlich werden. Dies war es, was man an ihm vermißte, weshalb man ihn kalt und frivol nannte. Wir werden uns niemals ganz von diesem Hange befreien: er repräsentiert in uns das nicht gelebte Stück einer großen Vergangenheit.

Auf dieser Höhe angelangt, stellt Nietzsche die Frage nach dem Werte der Welt, die von Kindheit an in ihm bereit lag. Damit war die Periode abendländischer Philosophie ganz abgeschlossen, in deren Mittelpunkt die Frage nach der Form der Erkenntnis gestanden hatte. Auch hier gab es eine klassizistische und eine romantische oder, um es gleich mit Beziehung auf die Zeit zu sagen, eine soziale und eine aristokratische Antwort. Das Leben ist soviel wert, als es der Gesamtheit nützt – das war die Antwort der gebildeten Engländer, die in Oxford zwischen dem unterscheiden gelernt hatten, was man als ehrbare Anschauung vortrug, und dem, was man in entscheidenden Augenblicken als Politiker oder als Geschäftsmann tat. Das Leben ist um so wertvoller, je stärker seine Instinkte sind – das war die Antwort Nietzsches, dessen eigenes Leben zart und leicht verletzlich war. Immerhin, weil er diesem tätigen Leben fernstand, hat er dessen Geheimnis verstanden. Daß der Wille zur Macht stärker ist als alle Grundsätze und Lehren, daß er die Geschichte von je gemacht hat und in alle Zukunft machen wird, was man auch dagegen beweisen oder predigen möge, das ist das endgültige Begreifen der wirklichen Geschichte. Die begriffliche Zergliederung des »Willens« ist ihm gleichgültig. Das Bild des tätigen, schaffenden, vernichtenden Willens in der Geschichte ist ihm alles. Aus dem Begriff ist der Aspekt geworden. Er lehrt nicht, er stellt fest. So war es und so wird es sein. Und wenn tausendmal die theoretischen und priesterlichen Menschen anders wollen, die urwüchsigen Instinkte des Lebens werden doch die stärkeren bleiben. Welch ein Abstand zwischen Schopenhauers Weltbild und diesem! Zwischen Nietzsches Zeitgenossen mit ihren sentimentalen Weltverbesserungsplänen und dieser Feststellung einer harten Tatsache. Daß ihm das gelang, stellt diesen letzten romantischen Denker an die Spitze seines Jahrhunderts. Hier sind wir alle seine Schüler, ob wir wollen oder nicht, ob wir ihn kennen oder nicht. Dieser Blick hat unvermerkt schon heute die Welt erobert. Niemand schreibt mehr Geschichte, ohne die Dinge so zu sehen.

Und da hiermit das Leben an den Tatsachen als einzigem Maßstab gewertet worden war, und die Tatsachen lehrten, daß der stärkere oder schwächere Wille, sich durchzusetzen, das Leben wertvoll oder wertlos macht, daß Güte und Erfolg sich beinahe ausschließen, so gipfelt sein Weltbild in einer großartigen Kritik der Moral, in welcher er nicht eine Moral predigt, sondern die geschichtlich aufgetretenen Moralen an ihrem Erfolge mißt, nicht an irgendeiner »wahren« Moral. Das war in der Tat Umwertung aller Werte, und wenn wir heute wissen, daß er den Gegensatz von Herren- und christlicher Moral falsch gefaßt hat, aus seinem persönlichen Leiden in den achtziger Jahren heraus, so steht hinter diesem doch der allerletzte Gegensatz im menschlichen Sein, den er ahnte und suchte und endlich in dieser Formel erfaßt zu haben glaubte. Setzen wir statt Herrenmoral die instinktive Lebenspraxis des zum Handeln entschlossenen Menschen, statt christlicher Moral die theoretische Wertung beschaulicher Naturen, so haben wir die Tragik des Menschen überhaupt vor uns, deren vorherrschende Typen sich stets mißverstehen, stets bekämpfen, stets am andern leiden werden. Tat und Gedanke, Wirklichkeit und Ideal, Erfolg und Erlösung, Stärke und Güte: das sind die Mächte, die einander nie verstehen werden. Aber in der geschichtlichen Wirklichkeit regiert nicht das Ideal, die Güte und die Moral – ihr Reich ist nicht von dieser Welt! – sondern der Entschluß, die Energie, die Geistesgegenwart, die praktische Begabung. Mit Klagen und sittlichen Gerichten schafft man die Tatsache nicht ab. So ist der Mensch, so ist das Leben, so ist die Geschichte.

Gerade weil alles Handeln ihm so fern lag und er nur zu denken wußte, hat er die Untergründe des Handelns besser verstanden als irgendein großer Täter in der Welt. Und je mehr er verstand, desto scheuer zog er sich von der Berührung mit ihm zurück. So kam sein Romantikerschicksal zur Erfüllung. Unter der Wucht dieser letzten Einblicke formt sich der letzte Teil seines Lebenslaufes im strengsten Gegensatz zu demjenigen Goethes, der dem Handeln nicht fremd war, aber seine eigentliche Bestimmung als Dichter verstand und sich heiter beschränkte.

Goethe, der Geheimrat und Minister, der gefeierte Mittelpunkt europäischer Geistigkeit, konnte doch in seinem letzten Lebensjahr, im letzten Akte seines Faust gestehen, daß er sein Leben als erfüllt betrachte. »Verweile doch, du bist so schön!«, das Wort seligster Sättigung zu dem Augenblick gesagt, wo das Werk der tätigen Nähe sich unter dem Befehle Fausts vollendet, um von nun an zu dauern – das war das große und abschließende Symbol des Klassizismus, dem dieses Leben geweiht war, und der aus der beherrschten Bildung des 18. Jahrhunderts in das beherrschte Können des 19. hinüberleitete.

Aber die Ferne kann man nicht schaffen, nur verkünden. Und wie der Tod Fausts den klassischen Lebenslauf beschloß, so versprüht nun der Geist des einsamsten aller Wanderer mit einem endgültigen Fluch auf seine Zeit in jenen rätselhaften Tagen von Turin, als er im Bilde seiner Welt die letzten Nebel schwinden und die fernsten Gipfel sich deutlich abzeichnen sah. Eben deshalb übt das Dasein Nietzsches die stärkere Wirkung auf die Nachwelt aus. In der Erfülltheit des Goetheschen Lebens liegt auch, daß es etwas abschloß. Unzählige Deutsche werden Goethe verehren, mit ihm leben, sich an ihm aufrichten, aber er wird sie nicht verwandeln. Die Wirkung Nietzsches ist verwandelnd, weil die Melodie seines Schauens in ihm selbst nicht zu Ende kam. Romantisches Denken ist unendlich, in der Form zuweilen, im Gedanken nie abschließend. Es ergreift immer neue Gebiete, verzehrt sie oder schmilzt sie um. Seine Art zu sehen geht zu Freunden und Feinden weiter und von ihnen zu immer neuen Nachfolgern oder Gegnern, und auch wenn eines Tages niemand mehr die Werke liest, wird dieser Blick dauern und schöpferisch sein. Nietzsches Werk ist kein Stück Vergangenheit, das man genießt, sondern eine Aufgabe, die dienstbar macht. Sie hängt heute weder von seinen Schriften noch von deren Stoffen ab, und eben deshalb ist sie eine deutsche Schicksalsfrage. Wenn wir nicht handeln lernen, wie es die wirkliche Geschichte meint, mitten in einer Zeit, die weltfremde Ideale nicht duldet und an ihren Urhebern rächt, in der das harte Tun, das Nietzsche auf den Namen Cesare Borgias getauft hat, allein Geltung besitzt, in der die Moral der Ideologen und Weltverbesserer noch rücksichtsloser als sonst auf ein überflüssiges und wirkungsloses Reden und Schreiben beschränkt wird, dann werden wir als Volk aufhören zu sein. Ohne eine Lebensweisheit, die in schlimmen Lagen nicht tröstet, sondern heraushilft, können wir nicht leben, und diese Weisheit taucht in ihrer Härte innerhalb des deutschen Denkens zum ersten Male bei Nietzsche auf, mag sie noch so sehr verkleidet sein von Eindrücken und Gedanken, die ihm aus anderen Quellen kamen. Er hat dem geschichtshungrigsten Volke der Welt die Geschichte gezeigt, wie sie ist. Sein Vermächtnis ist die Aufgabe, die Geschichte so zu leben.


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