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Vor der Geschichte der Menschheit wie jedes einzelnen Volkes steht der Mythos. In ihm ist der Geist der Menschheit gesammelt, ehe er Geschichte geworden ist. Er ist vorausgedichtete Geschichte. Er ist auch vorausgeschehene Dichtung.
Der Mythos vom jüdischen Menschen und vom jüdischen Volk ist mit ihrer Geschichte aufgezeichnet in den Büchern der Kinder Israels und Judas. In ihnen setzt sich wie in keinem anderen Dokument dieser Erde das Mythische unmittelbar in Geschichte und in Gesetz um. Die Bücher des jüdischen Volkes sind das größte Beispiel dafür, wie der Mythos, in die Lehre eines Volkes tretend, die Existenz dieses Volkes unter den Horizont der Ewigkeit stellt. Die Urkraft des jüdischen Mythos hat seinen Inhalt zum Heiligen, seine Form zum Gebet gewandelt. Das ist die geheimnisvolle Leistung, die wie ein Gewölbe über der Existenz des jüdischen Volkes steht, vom Urbeginn bis zum Ende.
Kraft dieses Übermaßes ihrer mythischen Tradition hat das Volk der Juden seine staatlich-politische Existenz überdauern können. Der Geist, der im Staat am Ende einen kaum noch gemäßen und würdigen Ausdruck gefunden hatte, hat sich von seiner örtlichen Heimat losgelöst und ist sich selbst Heimat geworden. So kehrte der jüdische Mythos am Ende einer Volks- und Staatsgeschichte wieder ganz zu sich selbst zurück und begann seinen Traum von neuem. Der Ausdruck und die Frucht dieses einmaligen Zustandes liegt in dem nachbiblischen Schrifttum der Juden, hervorgegangen aus gemeindlich religiösem Geist.
So sieht es der Blick von innen nach außen. Aber der Blick von außen nach innen sah unter der Allweltlichkeit des jüdischen Mythos eine Allerweltlichkeit der jüdischen Existenz entstehen, unter der Intensität der jüdischen Lehre eine Extensität des jüdischen Lebens. So ist, nach außen hin, ein Gegensatz zur Realität des jüdischen Mythos entstanden.
Die Juden traten unter der Herrschaft des Heidentums in die europäische Welt. Die Juden waren seine Widersacher, also Verleugner der europäischen Welt. Es ist daher nur logisch, daß sie die Opfer der europäisch-heidnischen Mythologie wurden.
Das hätte mit dem Sieg des Christentums anders werden können, wenn dieses nicht im Judentum als dem Träger der Mutter-Religion eine Gefahr für sich hätte sehen müssen. Die jüdische Lehre hat auf die des Heidentums zuerst eine nicht geringere Anziehungskraft ausgeübt als die christliche. Deshalb wuchs die Christlichkeit notwendig in einen Gegensatz zur Jüdischkeit hinein, der sich vor allem in der Notwendigkeit exponierte, dem Judentum die Legalität gegenüber seiner eigenen Vergangenheit und Leistung abzusprechen. So ist im Gegensatz zum jüdischen, also das Judentum begründenden Mythos, der europäische Mythos vom Juden entstanden. Seine Anfänge liegen im Heidnischen, fortgesetzt aber und verwaltet hat ihn das Mittelalter – die Zeit, die Europa unter das Dach des christlichen Glaubens gebracht hat.
Der Mythos von den Juden, den von Gott selbst aus Heimat und Staat Ausgestoßenen, mit der Ursünde an Gott belasteten Menschen, sammelt in der jüdischen Existenz und Gestalt alle Vorstellungen, die jenseits der christlichen Heilswahrheiten liegen. Er ist der Mythos vom Unchristen, vom Antichrist. Er ist die dämonologische Ergänzung der christlichen Welt des Heils und des Lichts. Während sich die Dämonenlehre des europäischen Heidentums, gebändigt und besänftigt, im Christentum aufklärte, hat dieses das Wirre und Wüste dem Judentum überantwortet, insbesondere auch das Blutopfer, das aus heidnischer Quelle gekommen war. Damit war die tragische Fremdheit des Juden in der europäischen Welt für ein Jahrtausend und länger endgültig statuiert.
Bei Josephus Flavius, in seiner Schrift »Contra Apionem«, heißt es einmal:
»Wir bewohnen weder eine am Meer gelegene Gegend, noch lieben wir den Handel; daher haben wir auch nicht die daraus entstehenden Berührungen mit den anderen.«
Späte Nachricht über einen frühen Zustand der Juden! Als sie niedergeschrieben wurde, stimmte sie schon nicht mehr ganz. Denn in der zweiten Hälfte des ersten Jahrhunderts hat es schon in der ganzen damals bekannten Welt Juden als Sklaven oder als Kolonisten gegeben. Das Gros des Volkes saß allerdings noch im Innern des kleinen Palästina, in einer nicht am Meer gelegenen Gegend, und liebte noch nicht den Handel. Es ernährte sich vorwiegend vom Ackerbau und vom Handwerk. Erst durch die nationalen Kämpfe und Aufstände im zweiten und im vierten Jahrhundert ist es aus dem heimatlichen Boden ausgerottet worden.
Das Zitat aus Josephus steht hier, um den erschütternden Gegensatz zwischen der jüdischen Existenz in der Heimat und der späteren in der Welt zu illustrieren. Die »Berührungen mit den Andern« haben die Juden allmählich verändert. Was entstand, war dem »Mythos vom Juden« dienlich. In alle Winde und unter alle Völker zerstreut, wie sie waren, konnte auch das Wesen der Juden zerstreut und zerstört werden.
Das Wandern und Suchen, das am Anfang ihrer Geschichte steht, steht nun auch am Anfang ihrer Geschichtslosigkeit. Aus mythischem Segen wird der mythische Fluch. Diesen hat das christliche Mittelalter vollstreckt. Was sich in ihm gesammelt hat, ist zwar nicht begründet, aber es wird veranlaßt durch die mittelalterliche Existenz der Juden als eines Volkes ohne Volkskörper. An die Stelle dieses Volkskörpers ist der Körper des Einzelnen, die Gestalt des Einzelnen getreten. Das Mittelalter hat sie figürlich gemacht.
So hat sie Shakespeare übernommen und ihr den Namen Shylock gegeben.
So lange Shylock als Figur wirkt, wird in ihm auch der Mythos vom Juden wirken. Denn in diesem ist die Unzerstörbarkeit der Figur, ist die Magie ihrer Wirkung begründet. Der Mythos ist es, der die zeitgebundene Psychologie der dramatischen Person Shylock über die Zeiten hinweg konserviert und ihre Gültigkeit sicherstellt. Die Psychologie vergeht, der Mythos sät und erntet Dichtung.