Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Shakespeare zwischen Mythos und Geschichte

Der wuchernde, hassende, räch- und vergeltungssüchtige und endlich der nach Christenblut dürstende und also mordlustige Jude ist das Produkt der Dämonie, die das ganze Mittelalter beherrscht und noch weit über seine Dauer hinaus geblüht und gewirkt hat. »Omnia, quae visibiliter fiunt in hoc mundo, possunt fieri per daemones« (jedes sichtbare Ereignis dieser Welt kann durch Dämonen hervorgerufen sein) – das war eine Lehrmeinung, nicht nur von Augustinus (354 bis 430), sondern auch noch von Thomas von Aquin (1225-1274). Dämonie, das heißt Teufelswerk, und Häresie, das heißt Ketzertum in all seinen Erscheinungsformen, also auch in der jüdischen, waren für die mittelalterliche Anschauung so gut wie identisch. Und wo es an dieser Identität, infolge anderer Erfahrungen, gemangelt haben sollte, da wurde sie auf mythologischem Weg her- und sogar dargestellt. Ein Opfer dieses Prozesses sind die Juden geworden.

Man darf, wie bereits angedeutet, das Anschauungs- und Denkproblem, vor das die Juden den mittelalterlichen Menschen stellten, nicht gering einschätzen. Exaktes Denken war dem Mittelalter fremd. Es ist ihm nicht einmal zuzumuten, daß es etwa die wichtigen Wirtschaftsfunktionen der Juden für den Warenaustausch und Geldverkehr erkennen sollte. Sie waren eine Realität, aber eine, die vor der dämonisierten Vision ihrer Fremdheit sich ins Nichts auflöste und die Meinung zurückließ, daß die Juden als Kaufleute nicht nur nicht unentbehrlich, sondern sogar Eindringlinge, Eroberer, Feinde – eine primitiv plausible Steigerung! – seien. So hat sich die antike Gleichung von Fremdling und Feind wiederhergestellt und, unter Einwirkung der Kirche, auch die Glaubensfremdheit sich mit der Glaubensfeindschaft identifiziert. Damit war der ideelle Raum für die jüdische Existenz vernichtet und die Voraussetzung geschaffen, sie im Dämonischen anzusiedeln. Es war eine Überführung im moralischen und kriminellen Sinn. Es war eine Ausstoßung, die sich in den mörderischen Judenverfolgungen immer neu, aber nach altem Brauch, dokumentiert hat.

Das Außenseiterische der Juden war der grundsätzliche Boden für das Werden und Wachsen des Mythos. Dieser hat die Irrealität, die man bei ihnen suchte, an die Stelle der Realität gesetzt, die man nicht sah und sehen wollte oder konnte. Er hat eine Vorstellungsreihe von den Juden geschaffen, in der eine dämonologische Vorstellung die andere aus sich herausstellte, vergrößerte und verzerrte. Der Wucher oder das Zinsnehmen der Juden war noch eine Realität, wenn auch durch Ursachen bedingt, die großenteils außerhalb des Willens der Juden lagen. Aber schon mit der Deutung des Wuchers und mit den daraus gezogenen Folgerungen beginnt die dämonisierende Legende. In den übrigen Vorstellungsschichten aber steigt eine grandiose und groteske Unwirklichkeit auf, eine umdüsterte oder grell überbelichtete Welt – Heimat des heimatlosen Fremdlings.

Die mittelalterliche Kirche hatte in ihrem allumfassenden Weltbild auch dem Judentum seinen Platz angewiesen: es sollte als Zeuge seiner eigenen Schuld und der Herrlichkeit des christlichen Erlösers weiterleben bis zum Jüngsten Tag. Die Kirche war also, wenn auch in der Praxis für die Bekehrung der Juden, so doch in der Theorie nicht für ihre Ausrottung.

Nun aber war das Mittelalter bei all seinem Mangel an Fähigkeit und Geneigtheit zu realistischer Beobachtung von einer außerordentlichen Kraft des Erlebens, und zwar des Erlebens mit symbolisierender Tendenz. Wie der mittelalterliche Mensch seinen Kaiser oder Herzog, den Krieg oder die Pest, eine Hochzeit oder eine Prozession, die Ritter oder die frommen Prediger, aber auch einen Gerichts- oder Markttag erlebt hat, mit welcher Eindringlichkeit oder Erhebungsfähigkeit, das ist, trotz der bildnerischen Zeugnisse, für den heutigen Menschen kaum noch vorstellbar. Dabei war die mittelalterliche Welt so reich an Schichtung und Gliederung wie an Verwirrung des Geschichteten und Gegliederten. Einer – ein Mensch, Vorgang oder Zustand – trug das All in sich, war also Träger eines Gleichnisses und doch von prallster Körperhaftigkeit – Gegenstand und Anlaß des maßlosesten Erstaunens oder Erschreckens, der unergründlichsten Ehrfurcht oder Furcht, des Segens oder des Fluchs. Der mittelalterliche Mensch erlebte das Physische metaphysisch, und das heißt, auf den Menschen des einfachen Volkes angewandt, in einer zugleich kompakten und bizarren Übersteigerung.

Der Jude – vor solchem Blick und solcher Einstellung, die keine Realität und daher auch keine Mitte kennt – als was für ein Monstrum muß er erschienen sein! Je näher, desto weniger war er der »Nächste«, desto mehr der »Andere«, der Undurchsichtige – Träger von mehr als dem, was durch seine Gestalt und sein Verhalten ausgedrückt war. Der mittelalterliche Mensch war vor eine für ihn fast unlösbare Aufgabe gestellt, da er den Juden seiner Erkenntnis, seinem Gefühl und seiner Gemeinschaft einverleiben sollte. Das Ergebnis war eine heillose, gnadenlose Verwirrung der Erkenntnisse, Gefühle und Gliederungen.

Daran war auch die politische Stellung, genauer, die Stellungslosigkeit der Juden schuld. Die mittelalterliche Entwicklung des Staates ging vom Weltreich zum Territorialstaat, aus der ideologischen Weite in die konkrete Enge. Welchen Gegensatz zu dieser Entwicklung bot die Existenz der Juden! Seit 1236 waren diejenigen, die zum »Reichs- und Hausgut« gehörten, durch den Akt des Hohenstaufen Friedrichs II., »Kammerknechte« des Kaisers. Schon vom folgenden Jahrhundert an wurden sie beliebte Streit- und Handelsobjekte zwischen Kaiser und Fürsten, Kaiser und Bischöfen, Fürsten, Bischöfen und Städten oder Ständen. In wessen Bereich sie wohnten, dem gehörten sie nicht immer. Oft genug besaßen sie eine Art von Exterritorialität oder eine Reichsunmittelbarkeit, die ihre Fremdheit nur noch unterstrichen, ihr Ausgestoßensein nur noch potenziert haben. Sie wurden verkauft, verschenkt, verpachtet, wenigstens soweit es ihre Steuerkraft und sonstige Ausbeutbarkeit betraf. In diesem Verfahren waren die englischen Könige den Hohenstaufen schon vorausgegangen.

In die mittelalterliche Sinnlichkeit und Sinngebung gesetzt, hat dies alles dazu beigetragen, dem Juden den Körper zu nehmen, trotz seiner Nähe ihn zum mythischen Geschöpf zu machen. Je weniger und je zerbrechlichere Rechte er hatte, desto mehr und desto dunklere Mächte wurden mit ihm im Bund gesehen – auch aus der unterbewußten Erkenntnis heraus, daß er ohne deren Hilfe zugrunde gehen oder längst zugrunde gegangen sein müßte.

 

Auch in diesem hier beschriebenen Sinn ist Shylock ein Repräsentant des Mittelalters, nicht nur der Jude aus dem Ghetto, sondern der Outsider schlechthin mit allem Geheimnis seines Draußenstehens und Vondraußenkommens. Der Dichter hat aus diesem Herkommen, aus dieser mittelalterlichen Attitüde des Juden, die stärksten dramatischen und dichterischen Wirkungen geholt. Shylock tritt vor das Gericht in einer Verfassung und Haltung, als ob er und seinesgleichen nicht schon Jahrhunderte lang in der europäischen Welt lebten, sondern als ob er eben oder erst kürzlich in sie eingetreten wäre. Die Schauer der Fremdheit sind um ihn, aber auch das Pathos ihrer Unbedingtheit und ihrer Unabänderlichkeit. So wie Shylock tritt der große Unbekannte und fast auch Unbenannte (der »reiche Jude« oder der »Wucherer«) in eine andere – sei es fröhliche oder fromme – Welt.

Hier wird es vollends klar, warum der Dichter den Juden Shylock nicht mit vielen jüdischen Details ausstattet, weder mit solchen der so naheliegenden Beziehung zum biblischen Judentum, noch mit solchen der Biographie. Shakespeares Realismus war wählerisch, war visionär. Der Dichter hatte die Vision vom mittelalterlichen Judentum. Shakespeares Jude ist mythosgetreu! Shakespeares Realismus zeigt sich darin, daß er eine für ihn selbst und für sein Publikum historische Erscheinung als das hinstellt, was drei Jahrhunderte der Erfahrungslosigkeit und die vorhergehenden Jahrhunderte der mythischen Verwandlung aus dem Juden gemacht und von ihm übriggelassen haben: ein tönendes Bild, ein sprechendes Gleichnis, ein wirklichkeitsarmes Geschöpf der Legende.

Aus dieser seiner Haltung gegenüber dem Juden zieht der Dichter, wie gesagt, den größten Gewinn. Aus ihr gewinnt er den Aufschwung aus der theatralischen Szenerie in eine fast apokalyptisch zu nennende Situation. Sie heißt: Der Jude vor Gericht.

Gewiß, die schon vorliegende Rechtsfabel hat das Stoffliche und den Anlaß dazu geliefert. Aber Shakespeare selbst hat alles dazu getan, um Stoff und Anlaß mit Kontrasten auszustatten, die diesem Gericht seine Außerordentlichkeit, ja seine Figürlichkeit sichern: Venedig und der Doge, die vornehme Welt und Antonio, das Evangelium der Gnade und Porzia, das Recht von gestern und seine Auslegung von heute. Zu all diesem ist der Jude der Kontrast.

Man muß sich daran erinnern, was die Institution des Gerichts und der Vorgang des Rechtsprechens dem Mittelalter und auch noch der Zeit Shakespeares bedeutet hat. Gericht – das war für den mittelalterlichen Menschen an das göttliche Vorbild gebunden. Gott ist »der« Richter. Vor das Gericht treten, hieß nicht bloß in die Öffentlichkeit treten, sondern in eine geweihte Situation. Jeder Gerichtstag galt als Symbol des Jüngsten Gerichts.

Wenn der Jude vor Gericht tritt, so löst das zwei sehr gegensätzliche Gefühle aus. Das eine: der Jude gehört vors Gericht! Das andere: wie kann er es wagen, das Gericht in die Schranken zu fordern? Der überrealistische Sinn der Situation ist nicht zu verkennen, zumal der Jude mit einem unmenschlichen Ansinnen kommt – er, der nicht einmal Anspruch auf Gnade, geschweige denn auf das Recht hat (oder nicht einmal auf Recht, geschweige denn auf die Gnade)!

 

Shylocks Worte gegen die Sklaverei haben im Mittelalter einen sehr realen Boden. Wie die Kirche die Juden in ihr Weltbild eingeordnet hat, ist bereits gesagt. Auch ist schon daran erinnert, daß auf der Höhe des Mittelalters Kaiser Friedrich II. sie der weltlich-staatlichen Ordnung als Kammerknechte unterstellt hat. Und in der Tat haben die Juden im Mittelalter und darüber hinaus, ohne daß die Person des besitzenden Herrn immer ganz eindeutig festgestanden hätte, als Leibeigene gegolten. Die Rechtskonstruktion ging dahin, daß sie ins Leibeigentum des römischen Reiches geraten waren, als Kriegsgefangene und verkäufliche Sklaven, und daß also die Erben des römischen Reiches, also die Beherrscher der mittelalterlichen europäischen Welt als Rechtsnachfolger der Römer über sie als ihr Eigentum verfügen konnten. Im mittelalterlichen Bewußtsein war diese Rechtskonstruktion zur Volksanschauung geworden.

Überdies sind die Juden in der späten Antike, nämlich nach der Zerstörung ihres Tempels und Staates, die die Sklavenmärkte mit jüdischer Menschenware füllte, bald in großer Zahl als »Freigelassene« aufgetreten, als Halbbürger, die ihre Befreiung aus der Sklaverei der Gunst ihrer Herren verdankten. Horaz sagt in einer seiner Satiren: »Credat Judaeus Apella, non ego« (das mag der Jude Apella glauben, nicht ich). Apella war ein unter Freigelassenen besonders häufiger Name und diente zur Bezeichnung eines Juden schlechthin, wahrscheinlich mit einer verächtlichen Nebenbedeutung. Dieses Halbbürgertum hat auf der Grenze zwischen Mittelalter und Neuzeit durch neue Wanderschaft und neuen Zuzug der Juden ein aktuelles Gesicht bekommen und hat auch die neue Wissenschaft und die Gesetzgebung beschäftigt.

Gerade in Venedig ist im Jahre 1568, also in der elisabethanischen Zeit, ein Traktat »De Judaeis et aliis infidelibus« des Rechtsgelehrten Marquardus de Susannis erschienen, der von der »Schlechtigkeit« der Juden ausgeht und mit der Erörterung der Frage einsetzt, ob Judesein als Delikt aufzufassen sei. Daraus entwickelt er eine ganze Systematik über das Nicht- oder Halbbürgertum der Juden. Auf dieser Schrift fußen eine Reihe anderer Versuche der Kodifikation des Judenrechts. Diese Literatur beeinflußte die Gesinnung und die Stimmung der ganzen Zeit. Mochte England auch so gut wie frei sein von Juden, so interessierte es sich doch für sie und es hatte Teil an den allgemeinen Anschauungen der Zeit. Und so darf man wohl behaupten, daß Shakespeare einen »Freigelassenen«, einen libertinus (die übertragene Bedeutung des Wortes war übrigens durch seine Anwendung auf die Gegner Calvins populär geworden) vor den Richter von Venedig die Sache der Sklaven führen läßt. Das kann in der Zeit Shakespeares, in der der englische Menschenhandel für die Kolonien zu blühen begann, als Ausdruck einer rebellischen Gesinnung gedeutet werden.

 

Es entspricht der Staats- und Rechtsauffassung Shakespeares, daß der Rebell und Frondeur nicht Recht bekommt und Recht behält, daß er an der festen Begründung und Überlegenheit des Staates scheitern muß. Auch zwischen Staat und Gesellschaft gibt es einen »bond«, einen »Schein«, der sich im herrschenden Recht ausdrückt. Das Wort vom herrschenden Recht ist doppelsinnig. Es bezeichnet nicht nur das geltende Recht, sondern auch das der Herrschaft, das Recht des Imperiums und das Recht der herrschenden Gesellschaft. Wer nicht zu ihnen gehört, muß sich diesem Recht fügen. Und da dieses und die es stützende und von ihm gestützte Gesellschaft im Falle Shylock auch noch den Fortschritt repräsentiert, so befindet sich der Kläger in tieferem als dem buchstäblichen Sinn im Unrecht, nämlich im mythischen Sinn.

Das entspricht auch der mittelalterlichen Existenz der Juden – ganz in dem Sinn, den der Rechtsgelehrte Marquardus in die Frage kleidet, ob Judesein ein Delikt sei oder nicht. Das jüdische Schicksal ist von dieser Frage, wenn sie auch nicht immer so schlüssig formuliert worden ist, unaufhörlich mit bestimmt worden. Geht man den Ursachen nach, so führen sie bis ins zwölfte Jahrhundert zurück. Von da an wird aus der weltlichen Rechtlosigkeit der Juden eine Art von Recht, der Schein von Recht.

Diese historische Tatsache hat auf die Shylocktragödie abgefärbt. Sie entsteht aus der Fiktion, daß dem Juden sein Recht werde – jawohl, sein »Recht«. Alle an dem Prozeß Beteiligten versichern immer wieder, daß nach strengem und gutem Recht zu verfahren sei. Der Prozeß wird aber nur nach dem Schein des Rechtes geführt und entschieden. Der Satz »Summum jus summa injuria«, dessen Nachteile in der Auslegung des Vertrages vermieden werden, trifft schließlich Shylock in seiner ganzen Schärfe. Er trifft und zerschmettert ihn als den Repräsentanten des Judentums. Die Vision, die Shakespeare von dem Nichtleben- und Nichtsterbenkönnen des Judentums hatte, ist in das Verfahren eingeflossen und macht es im höchsten historischen und symbolischen Sinn wahr. Nie ist eine Rechtsfarce, die Karikatur eines Prozesses geschrieben worden, die im letzten Grunde so realistisch ist wie diese. Der mythologische Charakter des Klägers Shylock strömt über das ganze Verfahren aus. Der Prozeß selbst wird mythisch. Denn auch der Mythos hat seinen Realismus.

Auf der Höhe des Mittelalters hat es einen Judenprozeß von internationaler Anlage und Bedeutung gegeben. Es ist nicht ausgeschlossen, das Shakespeare ihn gekannt hat. Indem wir ihn kurz schildern, stellen wir neben den Prozeß Shylock eine Parallele aus der Wirklichkeit, die an Un- und Überwirklichkeit hinter keiner Dichtung zurückbleibt.

Wiederum ist es die geistig so majestätische Figur des Kaisers Friedrich II., des »Freundes der Weisheit«, die im Mittelpunkt des Verfahrens steht. Im Sommer des Jahres 1235 hielt Friedrich, der, in Sizilien residierend, kaum noch ein Deutscher war, in Mainz seinen Reichstag ab. Damals waren in Fulda die Juden des Ritualmordes beschuldigt und daraufhin nicht nur in Fulda, sondern auch in anderen Städten blutig verfolgt worden. Die Ritualmordanklage und die Auflehnung der Juden gegen die fürchterliche Rache, die man ihnen geschworen hatte, wurden dem Kaiser vorgetragen. Die Parteien waren selbst erschienen: Christen und Juden. Jene hatten sogar die Leichen der angeblich von diesen ermordeten Kinder mitgebracht. Der Kaiser berief einen Rat von Fachleuten, um sich über das angebliche jüdische Blutritual Gewißheit zu verschaffen. Die Fachleute traten zusammen – Fürsten, Ritter, Gelehrte und Geistliche –, aber die Gewißheit blieb aus. Da erging ein neuer Beschluß des Kaisers:

»Diese, da sie Verschiedene waren, äußerten verschiedene Meinungen, und da sie sich als unfähig erwiesen, über den Fall eine befriedigende Lösung zu finden, wie es richtig gewesen wäre, so haben Wir aus Unseres Wissens geheimen Tiefen vorgesehen, daß gegen die des bewußten Vergehens beschuldigten Juden nicht einfacher zu verfahren sei als mit Hilfe solcher Männer, die Juden gewesen und zum christlichen Glauben bekehrt worden waren, die also als Gegner nicht verschweigen würden, was sie darüber gegen jene und die mosaischen Bücher oder mit Hilfe des Alten Testaments wissen konnten. Obwohl Unsere Weisheit durch die Menge der Bücher, die Unsere Erhabenheit kennen gelernt, die Unschuld der genannten Juden für erwiesen gehalten hat, so haben Wir doch zur Befriedigung nicht weniger des ungebildeten Volkes als des Rechts in Unserem vorausblickenden heilsamen Entschluß und im Einverständnis mit den Fürsten, Großen und Edlen, sowie mit den Äbten und Männern der Kirche über diesen Fall an alle Könige des abendländischen Bereiches Sonderberichte übersandt, wodurch Wir aus ihren Reichen Neugetaufte, im Judengesetz Erfahrene, in möglichst großer Anzahl vor Uns beschieden haben.«

Dieses europäische Verfahren kam wirklich in Gang. König Heinrich III. von England, übrigens des Kaisers Schwager – derselbe, der in jenen Jahren ungeheure Summen aus dem Gesamtbesitz »seiner« Juden für sich konfisziert hat – sandte zwei illustre getaufte Juden zur Verfügung des Kaisers, den er seines besonderen Interesses an dem Fall versichert. So trat – vielleicht zum ersten Mal in der Geschichte – ein europäischer weltlicher Gerichtshof zusammen, freilich nach einem sehr fragwürdigen Gesichtspunkt zusammengestellt. Trotzdem ergaben seine Untersuchungen und Beratungen, daß die jüdischen Schriften jegliches Blutopfer untersagen und daß der Talmud sogar blutige Tieropfer mit Strafen belegt. Der Kaiser erließ daraufhin für das Reichsgebiet ein strenges Verbot gegen die Ritualmordbeschuldigungen.

Also: die Juden haben Recht bekommen! Aber wie hat dieses Recht ausgesehen? Was die Fuldaer Juden anlangt, die, wie Shylock, zugleich Kläger und Beklagte waren, so hat ihnen Friedrich eine beträchtliche Geldbuße auferlegt, weil sie zu Unruhen Anlaß gegeben hätten. Und die Ritualmordbeschuldigungen haben sich in dem Jahrhundert nach diesem »Weltprozeß« gerade in Deutschland besonders gehäuft.

Dies ist das große Lehrbeispiel für mittelalterliches Judenrecht und mittelalterliche Judenprozesse. Andere, weniger feierliche Beispiele haben Shakespeare näher gelegen, vor allem die englischen Ritualmordprozesse. Die Erinnerung an sie hat sich mit der Erinnerung an die Juden über die Jahrhunderte hinweg erhalten. Auch sie waren ein Element der Judenmythologie geworden, und so lebt von ihnen und von dem ganzen Komplex des mittelalterlichen Judenrechtes etwas in dem Prozeß Shylocks weiter. Der Fall Lopez war seinem ganzen Verlauf und Ausgang nach geeignet, jene Erinnerung aufzufrischen und die Unabänderlichkeit des Judenschicksals neuerlich zu bezeugen.

Unter solchen Umständen war es für Shakespeare unmöglich, keine Satire zu schreiben. Der Shylockprozeß ist eine geworden: die genialste Rechts- und Gerichtssatire der Weltliteratur. Ihre Kulisse ist das Judenschicksal aus dem Mittelalter, das seine mythologischen Farben auf die Darstellung des Rechtslebens überträgt.

So tritt Shylock mit seinem »Schein« – ein Wort, das ebenso einen Doppelsinn enthält wie das englische »bond« (Strick oder Fessel) – aus dem historischen in einen symbolischen Raum ein. Er glaubt, das Recht in Händen zu haben. Es ist aber nur das Judenrecht.


 << zurück weiter >>