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Es wurde schon gesagt und erklärt: Aus dem Schicksal und Menschenschlag der Marranen mußten ungewöhnliche, bis zum Verwegenen und Abenteuerlichen gesteigerte Individuen hervorgehen. Der Kampf um den Glauben, um das ideelle und materielle Erbe der Väter, um eine das Jüdische und Spanische in sich begreifende Tradition – dieser Kampf hat Kämpfer geschaffen. Er hat einseitige Zweckmenschen erzogen, die darin geübt waren, als unterdrückte Herren zu leben und als siegreiche Besiegte.
Sie sind – als »heimlich Judaisierende« – in die Kerker der Inquisition gegangen und haben gleichzeitig in geheimem Verkehr mit römischen Kardinälen gestanden, die judenfreundlich waren. Sie durften nicht auswandern und ließen die Macht ihres Geldes und ihrer Verbindungen über alle Grenzen spielen. Ihre Haltung war mosaischen Geistes, aber auch der Tanz um das goldene Kalb war ihnen nicht fremd.
Dieser Menschenklasse und diesem Schicksal gehört Joseph Mendez-Nassi an. Er entstammt einer der reichsten und angesehensten der von Spanien nach Portugal ausgewanderten jüdischen Familien, die hier, um nicht nochmals wandern zu müssen, Scheinchristen geworden sind. Nassi bedeutet Fürst. Die Familie Mendez hatte vermöge ihrer alten Tradition, ihres Reichtums und ihres kulturellen Niveaus unter den Juden fürstlichen Rang.
Josephs spanischer Name lautete Joao (Johann) Miguez. Sein Vater, Leibarzt des Königs von Portugal, muß früh gestorben sein. Sein Onkel Francisco, der Bruder seiner Mutter, war der Chef des großen Bankhauses Mendez in Lissabon, das seit 1512 eine Filiale in Antwerpen unterhielt, die sein Onkel Diogo leitete. Ein anderer Mendez, mit dem Vornamen Hector (vielleicht war er, durch die Mutter, ebenfalls ein Onkel Josephs oder aber sein Großvater), der als ungeheuer reich galt, hat einmal dem König von Portugal auf die Frage, wie groß denn eigentlich sein Vermögen sei, die schöne, bezeichnende Antwort gegeben: »So groß wie die Almosen, die ich gegeben habe in meinem Leben.«
Francisco Mendez starb früh. Darauf siedelte – 1535 – seine Witwe Grazia Mendez, eine geborene Benveniste, mit der ganzen Familie einschließlich Joaos nach Antwerpen über. Grazia Mendez, der nach dem Tode ihres Mannes zusammen mit ihrem Schwager Diogo die Leitung des ganzen großen Familienunternehmens oblag, war eine der edelsten und bedeutendsten Frauen, die das Judentum je hervorgebracht hat. Man nannte sie später die »neue Esther«. Sie darf wohl als die Erzieherin Joaos gelten, obwohl sie nur etwa fünf Jahre älter war als er. Er heiratete später ihre einzige Tochter Reyna.
Bei der Übersiedlung von Lissabon nach Antwerpen hielt sich die Reisegesellschaft der Familie Mendez mehrere Monate in England auf. Die Firma hatte dort, in London und in einigen anderen Hafenstädten Agenten, und es ist wohl auch wahrscheinlich, obwohl es keine Überlieferungen gibt, daß Grazia sich bemüht hat, ihre geschäftlichen und jüdisch-geistigen Verbindungen mit England zu befestigen und auszubauen.
Auch Diogo, der Antwerpener Onkel Joaos, starb früh – im Jahre 1542 oder 1543. Nun trat Joao neben Grazia in die Leitung des Geschäftes ein. Er war ein schöner, geistig beweglicher, von Unternehmungslust überschäumender Jüngling. Die damalige Statthalterin der Niederlande, die früh verwitwete Königin Maria von Ungarn, Schwester Karls V., wandte ihm und seiner Tante ihre besondere Gunst zu. Sie schützte auch die Familie, deren jüdische Herkunft und Gesinnung natürlich kein Geheimnis war, vor dem Zugriff der Inquisition, mit der ja in den Niederlanden jener Zeit nicht zu spaßen war. Maria, der Erasmus und Luther Schriften widmen durften, neigte zur humanistischen Richtung. Sie war freiheitsliebend und tolerant gesinnt.
Den reichen Marranen in Antwerpen saß Kaiser Karls ewiges Geldbedürfnis im Nacken. Einmal wollte er in seiner Frömmigkeit und Geldnot alle jüdischer Gesinnung verdächtigen Kaufleute aus der Stadt ausweisen. Aber der Rat petitionierte heftig dagegen, da die Stadt ohnehin durch den Eifer der Inquisition große Einbußen erlitt. Karl fand andere Wege zum Gold der heimlichen Juden. So bezichtigte er Diogo Mendez unmittelbar nach dessen Tod des heimlichen Judaisierens und ließ das Vermögen des Verstorbenen beschlagnahmen. Aber die kluge und dank ihrer Klugheit bei ihrem Bruder einflußreiche Statthalterin sprang den Erben bei. Sie mußten allerdings Opfer bringen. Karl empfing von der Firma Mendez ein großes, unverzinsliches Darlehen auf zwei Jahre. Es wurde sogar zurückbezahlt.
Joao mag in diesen Händeln, obwohl kaum mehr als zwanzig Jahre alt, sein diplomatisches Geschick geübt und auch schon bewährt haben. Man begann an den Börsen und in den Kanzleien auf ihn aufmerksam zu werden und von ihm zu sprechen. Als er, kaum daß die kaiserliche Schuld beglichen war, mit Grazia Mendez, der ganzen Familie und dem ganzen Vermögen nach Venedig übersiedelte, hinterließ er im europäischen Nordwesten bereits eine Legende, Geschichten und Gerüchte seiner Schlauheit, seines Zweckbewußtseins, seiner Erfolge.
Venedig war für die Familie und die Firma Mendez ein lockendes Ziel, nicht so sehr wegen der großen geschäftlichen Möglichkeiten, als vielmehr wegen der Hoffnung, in Italien offen zum Judentum zurückkehren zu können. Aber wie weltlich auch Stadt und Staat gesinnt waren, auch hier arbeitete die Inquisition mit ihren großen und scharfen Mitteln gegen die Marranen. Grazia Mendez war überdies in Venedig vom Unglück verfolgt. Ihre jüngere Schwester Reyna, die mit dem Antwerpener Mendez, Diogo, verheiratet gewesen war, lehnte sich gegen die Vormundschaft Grazias auf, denunzierte sie sogar bei der Signoria und erreichte ihre Verhaftung.
Diese erfolgte unter dem Verdacht, daß Grazia die Absicht habe, mit ihrem ganzen Vermögen nach der Türkei, also zum Erbfeind, überzusiedeln. Der Verdacht war begründet, denn in der Tat gingen Grazias und Joaos Pläne dahin, ihre Firma in Konstantinopel zu etablieren und damit die völlige und endliche Glaubensfreiheit sich und den Ihrigen zu sichern.
Joao, in Italien angekommen, geriet in einen Rausch von Unternehmungslust. Es gelang ihm, mit dem Hof des Sultans Suleiman II. durch Vermittlung des jüdischen Leibarztes Moses Hamon in Verbindung zu treten und das diplomatische Eingreifen zu Gunsten Grazias zu erreichen. Sie wurde freigelassen. Inzwischen aber war er unermüdlich tätig, um die Beziehungen seiner Firma über die Länder des Südens und Ostens auszudehnen. Er machte Reisen, er machte Geschäfte, er machte Pläne. Er lieh dem König von Frankreich, durch die Filiale seines Geschäftes in Lyon, 150 000 Golddukaten und er zog immer mehr marranische Glaubensbrüder an sich. Sein Darlehen an Franz II. von Frankreich stellt sein erstes Eingreifen in die große Politik dar, denn Franz war ja der Gegner Karls V., und dieser hinwiederum war Repräsentant des klassischen Landes der Inquisition.
Zwar stand der Weg nach dem Osten und in die Glaubensfreiheit offen, aber inzwischen waren die Interessen des Hauses Mendez in Italien so vielfältig geworden, daß die Übersiedlung aufgeschoben werden mußte. Grazia Mendez siedelte von Venedig, wo sie die Kerker der Republik kennengelernt hatte, nach Ferrara über. Auch hier entstand eine Filiale des Geschäftes. Dank der Toleranz des damals regierenden Herzogs Ercole II. konnte die Familie sich hier endlich offen zum Judentum bekennen.
Grazia Mendez entfaltete in Ferrara eine Wohltätigkeit größten Stiles im Interesse der notleidenden Juden der ganzen Welt und wurde überdies der Mittelpunkt und die Mäzenin eines bedeutenden Kreises von jüdischen Gelehrten, Dichtern und Druckern. Joao richtete zu jener Zeit als Repräsentant von mehreren hundert italienischen Juden und Marranen an die Signoria von Venedig die Bitte, ihnen eine Insel im Mittelmeer zu jüdischen Siedlungszwecken zu überlassen. Die Signoria lehnte ab. Sie sollte es bereuen.
Im Jahre 1553 oder 1554 siedelte die Familie Mendez endlich nach Konstantinopel über. Joao, der sich von nun an Joseph Mendez-Nassi nennt, wurde dort mit offenen Armen aufgenommen. In der türkischen Hauptstadt existierte damals die blühendste Judengemeinde der Welt, die auf dreißig- bis vierzigtausend Mitglieder geschätzt wird. Die Familie erwarb einen fürstlichen Palast – Belvedere – und richtete eine jüdische Hofhaltung ein. Grazia und Joseph gründeten Lehrhäuser, besoldeten Rabbiner und Forscher und hielten ein offenes Haus für die Juden. Ein deutscher Reisender, ein ehemaliger Angestellter des Hauses Fugger, der zu jener Zeit Konstantinopel besucht hat, berichtet, daß an der Mittagstafel in Belvedere regelmäßig achtzig Personen teilgenommen hätten.
Joseph Nassi stürzte sich in die türkische Politik. Bald befreundete er sich mit dem Kronprinzen Selim, und als zwischen diesem und seinen Brüdern noch zu Lebzeiten ihres Vaters Suleiman Streitigkeiten um die Thronfolge ausbrachen, nahm er Selims Partei. Selim siegte. Damit war Josephs Stellung am türkischen Hof gefestigt. Er wurde der offizielle Ratgeber des nunmehrigen Kronprinzen und vom Sultan zum Beg, zum Mitglied des Thronrates befördert. Seine Kenntnis der politischen Verhältnisse in Europa und sein großes diplomatisches Geschick machten ihn unentbehrlich. Die fremden Diplomaten suchten ihn sich günstig zu stimmen und mancher europäische Würdenträger und Fürst nahte sich ihm mit schmeichelhaften Handschreiben und Geschenken. So wurde der Jude Joseph Nassi als der »Große Jude« eine Figur der europäischen Politik.
Dem Einfluß seines Freundes Selim hatte er es zu verdanken, daß ihm der Sultan Suleiman die palästinensische Stadt Tiberias nebst sieben umliegenden Dörfern als Lehen gab, damit er dort Juden aus der ganzen Welt ansiedle. Damals entstanden Gerüchte, Joseph strebe danach, König der Juden zu werden. Man verglich seine Rolle mit der des biblischen Joseph am ägyptischen Hof oder auch mit der Mordechais in Persien.
Aber Nassi war bereits zu tief in das türkische Hofleben verstrickt, um sich dem Leben im Lande seiner Väter zu widmen. Er schickte einen Vertreter hin, er erließ Aufrufe an die notleidenden Juden in der ganzen Welt, sich in Tiberias anzusiedeln, und in der Tat holten Schiffe der Firma Mendez Ansiedlungslustige in mehreren italienischen Häfen ab. Sie sollten in Palästina Seidenzucht und Wollfabrikation betreiben und damit dem spanischen Handel Konkurrenz machen. Aber das Experiment mißglückte trotz der fast unbeschränkten Mittel, woran nicht zum wenigsten Nassis mangelndes Interesse schuld war. Er ließ seine Macht lieber in Konstantinopel und im Bereich der europäischen Politik spielen.
Schon einige Jahre vorher hatte er einen Strauß mit dem Papst ausgefochten, der in Ancona jüdische Flüchtlinge aus Spanien verbrennen ließ. Joseph boykottierte den Hafen von Ancona, indem er den Schiffs- und Handelsverkehr vom Osten über den Hafen von Pesaro, der nicht zum Kirchenstaat gehörte, leiten ließ. Großes Aufsehen in der europäischen Diplomatie machte, im Jahre 1568, sein Vorgehen gegen den König von Frankreich, als dieser die Rückzahlung des Darlehens von 150 000 Golddukaten unter dem Vorwand verweigerte, Joseph Nassi sei ein Ketzer und Häretiker. Mehrere Mahnbriefe, die wiederum der Sultan selbst im Interesse seines Günstlings nach Paris schreiben ließ, waren erfolglos geblieben. Da erlaubte Suleiman dem Gläubiger, in Alexandrien und anderen türkischen Häfen französische Schiffe und Waren zu beschlagnahmen, um zu seinem Gelde zu kommen.
Als nun Selim, nach dem Tod seines Vaters, den türkischen Thron bestieg, wurde Nassi am Hof und in der Politik des türkischen Reiches allmächtig. Am Krönungstage bereits ernannte der neue Sultan seinen Freund zum Herzog von Naxos und den zykladischen Inseln, eine Würde, mit der das Weinsteuer- und Weinhandels-Monopol im östlichen Teil des Mittelmeers verbunden war. Nun kam auch bald die Gelegenheit für Joseph Nassi, sich an der Republik Venedig zu rächen. Im Jahre 1570 machte er seinem Herrn den Vorschlag, die noch im venezianischen Besitz befindliche Insel Cypern zu erobern.
Der Schlag gelang. Nassis Feinde und Neider behaupteten, er habe gehofft, zum König von Cypern ernannt zu werden und habe sich schon vor der Eroberung eine Königsfahne anfertigen lassen. Überhaupt blühten im Anschluß an den Verlust der wichtigen Insel für die Christenheit die Legenden um den Herzog von Naxos auf. Unmittelbar vor dem Angriff der türkischen Flotte war in Venedig das Pulver- und Munitionsmagazin in die Luft geflogen. Man behauptete, der türkische Würdenträger habe dies durch seine venezianischen Glaubensgenossen bewerkstelligen lassen. Einen Beweis dafür gibt es nicht, natürlich auch keinen Gegenbeweis.
In den Gesandtschaftsberichten jener Zeit erscheint immer wieder der Name des fürstlichen Juden und die Vertreter der christlichen Mächte bei der Hohen Pforte gewöhnten sich daran, ihn für fast alle ihre diplomatischen Mißerfolge verantwortlich zu machen. Aber darüber hinaus wird die Person Josephs mit allen Greueltaten und antichristlichen Maßnahmen der türkischen Politik in Verbindung gebracht. Besonders die zeitgenössischen venezianischen Schriftsteller und Dichter bemühen sich, aus ihm, den einige von ihnen lateinisch Johannes Miquesius nennen, einen Sündenbock zu machen.
In den Häfen des Ostens und in den Kanzleien des Westens erzählt man sich die abenteuerlichsten Dinge über die Reichtümer, Unternehmungen, Pläne und Anschläge des großen Juden. In der Tat muß sein Reichtum phantastisch gewesen sein, denn das Haus Mendez führte im gesamten Levantehandel; es hatte auf allen Märkten seine Waren, auf allen Meeren seine Schiffe und in vielen Unternehmungen sein Kapital. Wo in aller Welt Marranen saßen, die Handel trieben, also auch in England, da nahmen sie die Verbindung mit dem berühmten Glaubensgenossen in der Türkei auf.
Aber Joseph Nassi hatte mit der Eroberung von Cypern den Gipfel seiner Macht erreicht. Der Sultan Selim starb 1574. Sein Sohn und Nachfolger Murad III. ließ Joseph zwar im Besitz aller seiner Ämter und Würden, entzog ihm aber jeden persönlichen Einfluß. Fünf Jahre später starb Joseph als kranker und stiller Mann. Er hinterließ keine Kinder. Sein Vermögen wurde zum größten Teil unter nichtigen Vorwänden eingezogen. Dieses ruhmlos tragische Ende des jüdischen Würdenträgers ließ alle Legenden über ihn wieder aufleben und fügte neue hinzu. Insbesondere rührten sich in Venedig, wo man ihn nach wie vor für den Erzfeind der Republik hielt, die Autoren und machten ihn zu einem Ausbund der Hab- und Rachsucht.
Es wäre nicht notwendig, daß Prinz Selim in Person bei Marlowe auftritt als »son of the Grand Seignior«, nämlich Suleimans, auch nicht, daß Malta im Jahre 1565, ein Jahr vor Selims Thronbesteigung, tatsächlich von den Türken belagert worden ist, und vieles andere nicht, um die Tatsache, daß Joseph Nassi das Modell zu Barabas war, zu erhärten. Marlowe hat nicht nur aus den Nachrichten geschöpft, die über den jüdischen Machthaber aus dem Osten kamen, sondern er hat wohl auch in den Niederlanden, wo er am flandrischen Feldzug der englischen Truppen teilgenommen hatte, bereits allerhand über den jungen Handels- und Hofmann gehört. Überdies war dessen Name und seine phantastische Karriere in den Londoner Handelshäusern, wie auch in den diplomatischen Zirkeln, zu denen Marlowe besondere Beziehungen hatte, zweifellos bekannt.
Die Politik Josephs, als eines grimmigen Feindes von Spanien – die türkischen Galeeren waren im Mittelmeer hinter den spanischen Schiffen her, wie in den nördlichen Gewässern die englischen Kaperer – mußte in London besonders interessieren. Übrigens hatte er die Aufständischen in Flandern, deren Bundesgenosse die englische Macht war, mit Rat und Geld unterstützt.
Der Herzog von Naxos ist im Jahre 1579 gestorben. Im gleichen Jahr erschien in London ein theaterfeindliches Buch, »The School of Abuse« (Die Schule des Mißbrauchs), des puritanischen Schriftstellers und Predigers Stephen Gosson, ehemals Schauspieler und Stückeschreiber, worin ein Stück, »The Jew«, erwähnt wird. Gosson sagt von diesem Bühnenwerk, dem er eine moralische Berechtigung zuerkennt, es schildere »die Habgier weltlicher Wählender« – im elisabethanischen Englisch: chusers – »und den Blutdurst von Wucherern«. Das könnte, zumal in der Formulierung eines sittenstrengen Puritaners, auch als moralisierende Inhaltsangabe für den »Kaufmann von Venedig« passieren.
Da das erwähnte Stück den Titel »The Jew« führt, darf als sicher angenommen werden, daß ein jüdischer Wucherer darin auftritt. Außerdem hat Shakespeare das Motiv vom blutdürstigen Haß eines jüdischen Wucherers bekanntlich in eine seltsame Liebeshandlung eingebaut: alles dreht sich um die Wahl des richtigen Kästchens, wodurch die Braut demjenigen zugedacht wird, der, im Gegensatz zu den übrigen »weltlichen« Freiern, von einer geradezu unweltlichen Opferbereitschaft erfüllt ist – wenn man ihn und die anderen ausschließlich und oberflächlich nach ihrem »Wählen« beurteilt. Es ist also nicht undenkbar, daß »The Jew« Shakespeares Vorlage war und, in dem Fall, eines der vielen Stücke, die er durch seine Bearbeitung in den Rang der Dichtung erhoben hat. Leider findet sich von diesem Stück außer dem Titel keine Spur mehr in der englischen Literatur.
Zwischen Ende August 1594 und Anfang Mai des folgenden Jahres, etwa zwei Jahre vor der Entstehungszeit von Shakespeares »Kaufmann«, wurde ein Stück mit dem Titel »The Venesyon comodye« (Die Venezianische Komödie) von der Truppe »The Admiral's Men« elf- oder zwölfmal in London aufgeführt. Aller Wahrscheinlichkeit nach steht diese Komödie, von der wiederum nur der Titel überliefert ist, in irgend einem Zusammenhang mit einerseits dem von Stephen Gosson erwähnten Stück, »The Jew«, und andererseits dem shakespearischen Drama.
Ein viertes Stück, »The Jew of Venice«, vom damals bekannten Bühnenautor Thomas Dekker (circa 1572-1632), darf man nicht außer acht lassen, da es vermutlich auch viel Gemeinsames mit den drei oben erwähnten Dramen hatte. Es liegt aber auch hier kein Text mehr vor und die übrigen Daten sind noch unbestimmter als in den anderen Fällen, so daß man nicht einmal weiß, ob Dekkers Stück vor oder nach Shakespeares entstanden ist.
Der einzige gut markierte Weg führt also zu Marlowes »Jude von Malta« zurück: dessen Barabas-Figur war Shakespeare bekannt, als er seinen Juden schuf. Er folgt aber der Spur einer Fabel, die ein bürgerliches Rechtsgeschäft zur Voraussetzung hat und keine von den Haupt- und Staatsaktionen, die sich um Marlowes Barabas herum entwickeln. Er wählt also eine – lucus a non lucendo – bürgerliche Judenfigur. Seine dichterisch-realistische Unbestechlichkeit sieht den Juden zunächst klein und gedrückt, ja unterdrückt, den christlichen Widersacher groß und übermütig. Der Weltkaufmann Barabas verwandelt sich in den christlichen »königlichen« Kaufmann Antonio. Shakespeare hat ein untrügliches Gefühl für die Verteilung der Rollen zwischen Christ und Jude.
Die nahen Quellen Shakespeares für seinen Shylock sind damit beleuchtet. Die zeitgenössische Geschichte hat ihm aber noch eine Figur nahegebracht, die man zwar nicht als Modell, aber als veranlassende oder auslösende Figur bezeichnen darf.
Es ist der Leibarzt der Königin Elisabeth – Roderigo Lopez.