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Die Blutschuld

Der Fluch des Himmels, der auf Ahasver liegt, die Laster der Erde: Wucher, Haß, Rachgier und Vergeltungssucht als jüdische Eigenschaften gebrandmarkt – dies ist schon Verdammung genug durch den Mythos des Mittelalters. Aber zum Wesen des Mythos gehört der Exzeß und das Extrem. Das Bild vom Juden trägt noch nicht genug Elemente des Abscheus. Der Mythos sucht und findet das abscheulichste Kapitalverbrechen, um es dem Juden aufzubürden: den Mord. Und wiederum genügt nicht der einfache Mord. Es muß die grauenhafteste Art des Mordes sein, der Kindermord, und die hemmungsloseste, der Massenmord (in der Pestzeit). Damit ist dem mythischen Judenbild das Mörderische schlechthin einverleibt, das Werwölfische.

Es tritt bei Shylock in seiner Gier nach dem Fleisch und Blut des Feindes, des Christen, auf. Schon in der Erwähnung des englischen Wuchererstückes durch Stephen Gosson wird »the bloody mind«, die Blutgier der Wucherer genannt. Barabas, der Jude von Malta, begeht zahllose Mordtaten an Christen – durch Gift, Pulver und ähnliche Dinge. Auch spukt um ihn noch die Ritualmordlegende; wenn sein Name einmal fällt, fragt einer: »What, has he crucified a child?« – Hat er etwa ein Kind gekreuzigt? – Zacharias und Zadoch, die Juden von Rom, wollen in ihren Mordplänen nicht Kinder, nicht unschuldige Mädchen, nicht Kranke und Gesunde verschonen. So häuft das Mittelalter, das in die englische Judenliteratur hineinwirkt, Leichen über Leichen um die Erscheinung des Juden, um seine Schuld mythisch zu vollenden. Von dieser Blutrünstigkeit hat auch Shylock nicht freibleiben dürfen. Shakespeare hat immerhin diese Blutrünstigkeit gemildert, indem er sie psychologisch fundierte und sie in den Rahmen eines Vertrags, der dem Juden das Pfund Christenfleisch zuspricht, spannte.

Freilich wird dadurch die Unheimlichkeit des Mordmotivs in seiner Wirkung eher verstärkt als abgeschwächt. In Shylock tritt ja sozusagen ein »Großstadtjude« auf, ein behauster Mann, der Vertreter eines in Venedig zugelassenen Gewerbes, ein Mann des Kredits und der Verträge, und nicht mehr ein wilder Libertiner und Abenteurer, wie der Jude von Malta oder die von Rom. Und selbst er, der schon so viele Geschäfte mit Christen gemacht hat und noch viele machen will, benutzt die Gelegenheit eines von einem Christen leichtsinnig abgeschlossenen Vertrags, um seine »Gier« nach Christenfleisch und Christenblut zu befriedigen. Er macht also Gesetz und Vertrag zu Instrumenten seines Blutdurstes. Sogar dieser bereits besänftigte Jude zückt mit eigener Hand das Messer und kann es kaum erwarten, Christenblut fließen zu sehen, das Blut eines Edlen der Christenheit.

Dies heißt: Der Jude ist unter allen Umständen auch ein Christenmörder. Und indem die Handlung des Dramas sich bis zu der Frage steigert: Darf der Jude schneiden (morden) oder nicht? indem ferner die Todesbereitschaft Antonios zu einem wesentlichen Element seines (christlichen) Charakters gemacht wird, wird das Mörderische zum Element des (jüdischen) Charakters Shylock. Shakespeare, der große Andeuter, hat es nicht nötig, an die Legenden vom Ritualmord ausdrücklich zu erinnern. Um so nachdrücklicher und überwältigender sammelt sich die Erinnerung an alle dunklen Mythen des Mittelalters über den Christenmord der Juden im Bild des Messer zückenden Shylock. Fast könnte man in der Öffentlichkeit seines Vorhabens noch eine Steigerung gegenüber der Heimlichkeit der vom Mythos überlieferten Christenmorde erblicken.

 

Blut ist dem Mittelalter eine, im buchstäblichen und übertragenen Sinn, geläufige Sache – ein Element des Heldischen und des Heiligen, also der Ausdruck der zwei stärksten Triebe, von denen die ritterlich-christliche Zeit bewegt war. Er personifiziert sich am tiefsten in den Gestalten der Märtyrer, weil diese das Heldische und Heilige in sich vereinigen. Aber auch der ritterliche Held des Mittelalters, der auf dem Schlachtfeld sein Blut vergießt, ist nicht vollkommen, wenn ihn nicht ein paar Strahlen des heiligen Glanzes verschönen, und er wird zum Idol, wenn er sein Blut für eine oder gar die heilige Sache, die Eroberung des Heiligen Grabes, vergießt.

Die Synthese des Ritterlichen und Heiligen war der Krieg. Er war nicht denkbar ohne das Opfer, ohne Bluthingabe und Blutweihe. Im Krieg stand das Volk unter und hinter dem Ritter als seinem Führer und Vorbild. Es war immer Krieg! Immer und überall floß Blut – christliches Blut, Opferblut, geheiligt schon durch die Tatsache der Hingabe. Denn Sterben war eine heilige Sache, die Verwirklichung des Glaubens an das Jenseits und die Bekräftigung der inneren Abwendung vom Diesseits durch die Tat. Es gab im Mittelalter keine stärkere und legitimere Realität als den Tod.

Die Juden waren vom ritterlichen Geist ausgeschlossen wie vom heiligen Geist. Sie taten keinen Heeresdienst, sie trugen keine Waffen. Sie waren unkriegerisch. Sie waren nicht nur nicht wehrhaft, sie waren auch wehrlos. Die Devise des Mittelalters aber hieß: Wehe dem Wehrlosen!

Dieses Wehe kam in furchtbaren Katastrophen über die Juden. Sie haben in zahlreichen Fällen, wenn sie sich bewaffnen konnten, tapferen Widerstand geleistet. Sie haben, insbesondere in Italien und Spanien, oft genug bewiesen, daß sie sich auf das Waffenhandwerk verstanden, ganz abgesehen davon, daß sie den Beweis dafür in ihren heroischen Freiheitskämpfen und Rebellionen gegen die syrische und römische Übermacht bereits geliefert hatten. Aber inzwischen war das Kriegerische ihrem Wesen und ihrem Schicksal fremd geworden. Sie waren ja Händler und der Händler ist kein kriegerischer Held. Dies mußte die Juden in Gegensatz nicht nur zum ritterlichen, sondern auch zum bürgerlichen Ideal bringen. Das Unblutige ihres Daseins machte sie unmittelalterlich, fremd.

So fremd, daß aus der Leere heraus, gewissermaßen aus ihrer Blutleere, aus ihrer Unbeteiligtheit am allgemeinen Blutvergießen die Blutbeschuldigung gegen sie entstehen mußte. Denn es war für das Mittelalter, in dem gelegentlich sogar die hohen geistlichen Würdenträger gestiefelt, gespornt und gepanzert das Schlachtroß bestiegen, schlechterdings unvorstellbar, daß eine Klasse von Menschen kein Blut sollte vergießen wollen. Wer kein offener Kämpfer war, mußte – ein heimlicher Mörder sein.

Vergiftung der Brunnen und Ritualmord sind nichts anderes als die Folgerungen, die das Mittelalter aus der Unheiligkeit und Unritterlichkeit der jüdischen Existenz gezogen hat, nichts anderes als die wilden Formen, in denen die Teilnahme der Juden am allgemeinen Blutvergießen sichergestellt worden ist. Und gemäß der Verwurzelung des Mittelalters im Religiösen pflanzte es auch den angeblichen Blutdurst der Juden ins Religiöse, so wie den Kämpfen, die die Christen untereinander oder gar mit den Ungläubigen geführt haben, ein religiöser Sinn unterlegt zu werden pflegte.

 

Die mittelalterliche These also lautete: die Juden sind Mörder. Die primitivste Begründung dafür lag nahe genug: Sie haben den Heiland gemordet. Gegen diesen Spruch des Weltgerichts und der Volksstimme gab es keine Berufung und keinen Gegenbeweis. Das Verfahren war geschlossen. Und da die ewig Angeklagten immer noch und immer wieder frei herumliefen, konnte das Urteil von Mal zu Mal gegen sie vollstreckt werden. Weil die »Strafe« sich verewigte, mußte dies auch mit der »Schuld« geschehen. Immer wieder ermordeten also die Juden den Heiland – in jedem Kind, das verschwand, während Juden in der Nähe waren. Jedes dieser Kinder wurde, nach dem hohen Vorbild, ein Märtyrer.

Die historischen Wurzeln dieses heilig-unheiligen Mythos reichen in die Antike zurück. Schon im zweiten vorchristlichen Jahrhundert hieß es, daß der König Antiochus Epiphanes, als er in den Tempel eindrang, um ihn zu berauben, einen gemästeten Griechen vorgefunden habe, der ihn um seine Befreiung anflehte. Es hieß, die Juden pflegten alljährlich einen Griechen zu mästen, um ihn dann zum Pesach-Fest als Opferlamm zu schlachten und sein Blut zu rituellen Zwecken zu benutzen. Das war nur eine von den vielen Fabeln, die damals über den jüdischen Ritus umliefen. Die Bildlosigkeit dieses Ritus erregte in der bildfreudigen und bildreichen hellenistischen Welt das allergrößte Mißtrauen. Sie konnte es nicht begreifen, daß in einem Tempel nichts anderes verehrt werden sollte als ein unsichtbarer Gott. Darauf ist ja auch die andere Fabel zurückzuführen, im Allerheiligsten befinde sich ein goldener Eselskopf als Gegenstand der jüdischen Verehrung. Allerdings haben weder Antiochus Epiphanes, der Tempelräuber, noch Titus, der Tempelzerstörer, diesen Esel entdeckt.

»Entdeckt« aber wurde jener gemästete und zum Opfer bestimmte Grieche – einmal schon als Rechtfertigung für das Eindringen des Königs in das Allerheiligste, dann aber auch und insbesondere als Ausdruck der bitteren Feindschaft zwischen Judentum und Hellenentum. Wie Josephus Flavius berichtet, sollte der Grieche nicht nur als Opfer, sondern auch als Opferschmaus dienen. Die Hellenisten waren gegen das einzige Volk, das sich ihrem Siegeszug im ehemaligen Alexanderreich versperrte, so radikal eingestellt, daß sie es sogar der Anthropophagie beschuldigten. Der Erzvater des Kampfes gegen die Juden, der Ägypter Apion in Alexandrien, hat diese Beschuldigung übernommen.

Sie richtete sich auch gegen die ersten Christen. Da diese ihre Zusammenkünfte teils nach den Traditionen der alten Mysterienkulte, teils wegen der heidnischen Verfolgungen, geheim hielten, spann sich ein ganzer Legendenkranz um die von ihnen dabei geübten Bräuche. So wurde ihnen ebenfalls Anthropophagie nachgesagt, überdies auch die rituelle Ausübung von widernatürlichen fleischlichen Vermischungen. Unter anderem wurde behauptet, daß dem Neuling bei der Aufnahme in die christliche Gemeinde eine mit Getreidekörnern oder Mehl bedeckte Kindsleiche überreicht werde. Der Mord des Kindes geschehe, so lautet diese Legende, zur Weihe des neuen Mitgliedes, und das Blut des von der Gemeinde getöteten Kindes werde von ihr getrunken.

Die psychologische Ausdeutung dieser Legenden führt in urmythische Zusammenhänge zurück, bis zu den Gestirnmythen und bis zu dem Mythenkreis, in dem sich die Entwicklung vom Menschen- zum Tieropfer spiegelt. Die Bereitschaft Abrahams, den Isaak, oder die Agamemnons, Iphigenie zu opfern, gehören als Zeugnisse der Überwindung und des Fortschritts diesem Mythenbereich an.

Gegen die Juden und die ersten Christen wurden diese radikalen Legenden erneuert, weil ihre Anschauungen und Bräuche für die Heiden undurchdringlich und unverständlich waren. Man stellte den fremden jüdischen oder christlichen Glauben dem verabscheuungswürdigen Aberglauben und dem Rückfall in die Barbarei gleich. Dieses Motiv hat auch im christlichen Mittelalter gegenüber dem Judentum eine ausschlaggebende Rolle gespielt.

Es kommt hinzu, daß der Kirchen- und Volksglaube in einer seiner begnadeten Auswirkungen den rührenden Kult des Jesuskindes ausbildete und ausbreitete, der das Verlangen nach dem kindlichen Märtyrertum, nach kindlicher »Nachfolge Christi«, entstehen ließ.

Es ist wahrscheinlich, daß ein wirklicher jüdischer Brauch provozierend dabei mitgewirkt hat. Die Juden begehen im Anschluß an das Buch Esther das Purimfest zur Erinnerung an die Errettung des in babylonisch-persischem Exil lebenden Volkes vor den Anschlägen Hamans. Purim ist das ausgelassenste Fest der Juden, eine Art Fasching unter ihren Festen, zu dem Mummenschanz, Komödienspiel und ähnliches gehören. Dabei wurde früher die ausgestopfte Puppe »Haman« (wie die des Judas bei den christlichen Mysterienspielen des Mittelalters) an den Galgen gehängt. Da das Purimfest in die Zeit vor Ostern fällt, lag es für mißtrauische und feindliche Augen nicht allzu fern, den Galgen in ein Kreuz und die Puppe in ein Kind umzudeuten. Und da das jüdische Pesachfest, das Fest des ungesäuerten Brotes, etwa mit den christlichen Ostern und mit Karfreitag zusammenfällt, hatte es das phantasie- und legendenfreudige Mittelalter leicht, die Verbindung herzustellen und daran zu glauben, die Juden benutzten zur Herstellung ihrer »Osterbrote« das Blut von unschuldigen Christenkindern.

In engem Zusammenhang damit steht die andere Legende, daß die Juden Hostien stehlen und sie kreuzigen oder durchstechen und das daraus fließende Blut des Heilands für ihre teuflischen, rituellen Zwecke mißbrauchen. Neben dem Blutritual, das man den Juden damit zuschreibt, spielt bei diesen Legenden auch eine den Juden unterstellte Absicht und Sehnsucht nach Selbstreinigung mit. Echt mittelalterlich: die Juden, als das unritterliche und unheilige Volk, sind unrein. Schon weil sie sich mit dem Blut des christlichen Heilands befleckt haben!

Auch die Legende von dieser Unreinheit hat eine bis in die Antike zurückgehende Entstehungsgeschichte. Nach einer alten Fabel, die Apion, der Ägypter, verbreitet hat, sind die Juden wegen unreiner, unappetitlicher Krankheiten aus Ägypten vertrieben worden. Apion, der sonst seine Abstammung gern verleugnete, weil er den Ehrgeiz hatte, als echter Hellene zu gelten, war immerhin Patriot genug, um den Auszug der Kinder Israel aus seiner Heimat als unfreiwillig hinzustellen und sie mit einer dem ägyptischen Volk widerwärtigen Unreinheit auszustatten.

Diese Legende ist ebenfalls in den mittelalterlichen Mythos vom Juden übergesiedelt und hat noch weit über das Mittelalter hinaus die seltsamsten Blüten getrieben. Noch im siebzehnten Jahrhundert findet man angebliche geheime Krankheiten der Juden aufgezählt, zu deren Heilung sie Christenblut verwenden.

Immer wieder steigt aus dem Mittelalter der Geruch des Blutes auf. Den Juden wird Blutorgiasmus angedichtet.

 

Die jüdische Lehre weiß von alledem nichts. Man braucht sie, die das Gebot »Du sollst nicht töten« aufgestellt hat, nicht einmal gegen die Anklage zu verteidigen, daß sie es erlaube, zu rituellen oder irgendwelchen anderen Zwecken Menschenblut zu vergießen. Aber um zu zeigen, wie der Mythos auf der Grundlage der Fremdheit und Feindschaft gerade das in die Legende umsetzt, was nicht da und nicht wahr ist, darf man an einigen grundlegenden Bestimmungen der mosaischen Gesetzgebung erinnern.

Moses III, 19/26 (und ähnlich schon I, 9/4) steht geschrieben: »Ihr sollt nichts mit Blut essen.« Kurz vorher heißt es in Vers 16: »Du sollst auch nicht stehen wider deines Nächsten Blut; denn Ich bin der Herr.« Hierher gehören auch die Bestimmungen, wonach die Berührung eines Toten unrein mache – besonders streng für die Priester, aber auch für alle anderen gültig (IV, 19/16). Auch die Selbstverstümmelung aus Trauer ist verboten, und sogar die natürlich blutende Frau ist unrein, so daß die Berührung mit ihr den Mann unrein macht (III, 20/18).

Also: das mosaische Gesetz kennt nicht den Blutkult. Vielmehr: es hat ihn in den heidnischen Gebräuchen der antiken Umwelt gekannt und um so radikaler verdammt und aus dem eigenen Ritual ausgeschlossen. Hätte es demnach irgendwo und irgendwann eine jüdische Gemeinschaft gegeben, die eine Verbindung des Blutes mit ihren Riten bejaht und betätigt hat, wofür aber nicht der geringste Beweis oder auch nur Verdacht vorliegt, so hätte sie sich damit selbst aus dem Judentum ausgeschlossen.


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