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Wenn der Ewige Jude als mythologische »Kolossalfigur« auf das Menschenbild Shylocks seinen Schatten wirft, sozusagen aus der Zeitlosigkeit heraus, so bekommt dieser seine zeitliche Färbung am unzweideutigsten durch den Beruf, den er ausübt. Der mittelalterliche Jude ist »der« Wucherer.
Es ist eine alte Streitfrage, ob die Juden erst durch das Mittelalter zu Wucherern geworden sind oder ob der Wucher ein ihnen eingeborener Beruf und ein typisch jüdisches Laster von jeher gewesen ist. Es steht fest, daß bis an die Grenze des zwölften Jahrhunderts die in Europa eintreffenden Juden weder ausschließlich noch vorwiegend den Beruf des Geldverleihens auf Zinsen und der Pfandleihe ausgeübt haben. Bis dahin waren sie, von der Zerstörung ihres Staates an gerechnet, ein Handelsvolk, das jede Art von Warenhandel und daneben auch Handwerk und Landwirtschaft betrieben hat. Ein Handelsvolk wurden sie, weil sie in das Mittelalter als Träger einer alten, schon in der Antike entstandenen kommerziellen Tradition eingetreten sind. So haben sie in dem vorwiegend bäuerlichen und ritterlichen, entweder seßhaften oder nur zu Kriegszügen mobilen Europa eine Lücke ausgefüllt.
Erst seit den Kreuzzügen haben sich die Juden mehr und mehr dem reinen Geldhandel zugewandt. Die Gründe dafür wurden bereits erwähnt. Der wahrhaft »Wandernde Jude« wurde identisch mit dem Geld besitzenden »Wucherer«, so wie die mobilste Ware, das Geld, einen nicht seßhaften Besitzer nahezu verlangte – in einer Zeit, in der das Geld rar und die Naturalwirtschaft noch Tradition war.
Es ist daher ein rein theoretischer und auch tendenziöser Streit, ob das Geldgeschäft den Juden angeboren oder anerzogen oder vielleicht sogar aufgedrängt worden ist. Unbestreitbar waren die Kinder Israel einmal ein Volk von Hirten und Ackerbauern. Wie anders hätte sonst die Agrargesetzgebung des Pentateuch entstehen können! Ebenso sicher ist, daß die Juden durch das babylonische Exil und später durch ihre freiwillig-unfreiwilligen Wanderungen aus dem zu engen Mutterland, sowie schließlich durch ihre Zerstreuung als Flüchtlinge oder Sklaven zu einem Stadtvolk geworden sind.
Der Gang der Geschichte, der etwa mit der Zeit Alexanders des Großen einsetzt, hat sie zu begehrten Kolonisatoren in Vorderasien und am ganzen Mittelmeer gemacht. Alexander selbst hat sie in seine Stadt Alexandrien als Bürger gezogen. Und auf den Reisen des Paulus erscheinen sie überall als handwerkliche Stadtbewohner. Sie waren kein Landvolk mehr. Sie konnten es auch nicht mehr werden, da ihnen die römisch-christliche Gesetzgebung den Landerwerb und auch das Halten von Sklaven bald erschwerte, bald unmöglich machte.
Vom Warenhandel zum Geldhandel ist nur ein kleiner Schritt. Er wird im Mittelalter erleichtert, ja erzwungen durch ungezählte Beschränkungen und Erschwerungen jüdischer Handelsniederlassung. Religiöse Vorurteile bestimmen die weltliche Existenz. Die in ihren Rechten beeinträchtigten Juden greifen nach der einzigen Macht, die ihnen geblieben ist, nach der Macht des Geldes. Wie Küstenvölker das Talent zum Seefahren, so haben sie das Talent zum Geldhandel in sich entdeckt und entwickelt. Hätte ihnen das Mittelalter den Landbesitz und die Arbeit ihrer Hände gelassen, so wären sie im Laufe der Jahrhunderte gewiß wieder ein Ackervolk geworden, wie es ihre Vorfahren mindestens ein Jahrtausend lang gewesen waren. Als Handwerker waren sie bis über das Mittelalter hinaus ohnedies geschätzt. Von ihren geistigen Qualitäten und ihrer Berufung zu wissenschaftlicher und künstlerischer Arbeit braucht hier nicht die Rede zu sein. Ihre Geschichte ist voll davon.
Je mehr die Juden gewuchert haben, desto mehr wurden sie selbst besteuert, gebrandschatzt und ausgeraubt. Und je mehr dies geschah, desto hemmungsloser haben sie gewuchert. Wer sich davor scheut, die christlichen Völker des Mittelalters als gewohnheitsmäßige Gewalttäter gegen Schutz- und Rechtlose anzusehen, der müßte auch Bedenken tragen, in den Juden ein Volk gewerbsmäßiger, einem eingeborenen Hang folgender Wucherer zu sehen. Das Mittelalter hat sie in diesem abstoßenden Beruf wie in einem Käfig gefangen gehalten.
Die Bitterkeit des jüdischen Wuchererschicksals während des Mittelalters wird erst recht deutlich, wenn man sich seiner theoretisch-juristischen Grundlegung erinnert. Das kanonische Recht entwickelte für alle Gläubigen ein allgemeines Zinsverbot. Papst Leo der Große (440-461) hat den Klerikern das Zinsnehmen verboten und es als Übung der Laien scharf getadelt. Der Ertrag aus Zinsen – das Wort Wucher heißt ursprünglich nichts anderes als Ertrag oder Frucht der Arbeit (althochdeutsch: wuohhar; gotisch: wokrs) – wurde als schimpflicher Gewinn angesehen.
Augustinus argumentiert in seinem die mittelalterlich-christliche Welt vorausbauenden Fundamentalwerk »De civitate dei« (XX, 4) bereits echt scholastisch gegen den Zins: Das Geld sei seiner Natur nach zum Kauf da, es werde durch den Gebrauch nicht schlechter – die Zeit aber sei ein allgemeines Gut, das man nicht noch besonders bezahlen könne … Unter Karl dem Großen versuchte die Kirche, vom Kaiser aufgefordert, das Verbot des Zinsnehmens auch für Laien geltend zu machen. Von da an hört es nicht mehr auf, die geistlichen und weltlichen Oberen der gesamten Christenheit zu beschäftigen.
Denn es wurde zu keiner Zeit allgemein beachtet. Die wirtschaftlichen Bedürfnisse der christlichen Völker waren mit der religiösen Forderung nicht in Einklang zu bringen. Die Gesetzgebung der mittelalterlichen Kirche hat daher das Zinsnehmen weder im kleinen noch im großen verhindert, ihm aber den Stempel des Sünd- und Lasterhaften endgültig aufgeprägt, der um so stärker aus dem Zeitbild heraustrat, je mehr heimlich gewuchert wurde – insbesondere von den weltlichen und geistlichen Grundbesitzern, die viele interessante Wege zur Umgehung des notorischen Verbotes gefunden haben.
Unter diesen Umständen fiel den Juden, die außerhalb des kanonischen Rechtes standen, das beneficium turpe zu, Zinsen nehmen zu dürfen. Sie wurden in einer Zeit des verbotenen und trotzdem allgemein geübten Wuchers seine rechtmäßigen und gebrandmarkten Vertreter. Mit dem Gewinn wuchs ihnen alle Schmach und Verachtung des Gewerbes zu. Sie wurden dadurch Exponenten der Unchristlichkeit.
Die Rache des Mittelalters traf nicht nur die zinsnehmenden oder auch nach dem heutigen Sinn des Wortes wirklich Wucher treibenden Juden, sie traf nicht nur das ganze jüdische Volk, sondern auch die jüdische Lehre. Sie brachte diese in einen Gegensatz zu der christlichen, die das Zinsnehmen verbot.
Wie aber verhält es sich in Wirklichkeit mit dem biblischen Zinsverbot? Die Kirche berief sich auf den Satz der Vulgata (Lukas 6/35): »Mutuum date, nihil inde sperantes!« (Nach Luther: »… und leihet, daß ihr nichts dafür hoffet.«) Das Gleichnis von den anvertrauten Pfunden, das sich bei Lukas findet, paraphrasiert dieses Zinsverbot in nicht ganz eindeutiger Weise. Man kann ihm sowohl eine kapitalistische, wie auch eine antikapitalistische Tendenz unterschieben. Mehr als jene Stelle bei Lukas ist über das Zinsverbot bei den Evangelisten nicht zu finden.
Seine kapitale Quelle ist das Alte Testament. Im zweiten Buch Moses 22/24 heißt es (nach Luther): »Wenn du Geld leihest einem aus meinem Volk, der arm ist bei dir, sollst du ihn nicht zu Schaden bringen und keinen Wucher auf ihn treiben.« In den beiden folgenden Versen: »Wenn du von deinem Nächsten ein Kleid zum Pfande nimmst, sollst du es ihm wiedergeben, ehe die Sonne untergehet; denn sein Kleid ist seine einige Decke seiner Haut, darin er schläft.« Moses III, 25 heißt es im Vers 35/36: »Wenn dein Bruder verarmet und neben dir abnimmt, so sollst du ihn aufnehmen als einen Fremdling oder Gast, daß er lebe neben dir, und sollst nicht Wucher von ihm nehmen, noch Übersatz …« Und endlich Moses V, 23/20,21: »Du sollst von deinem Bruder nicht Wucher nehmen, weder mit Geld, noch mit Speise, noch mit allem, damit man wuchern kann. Von dem Fremden magst du Wucher nehmen, aber nicht von deinem Bruder …«
Zu diesen Stellen ist zu bemerken: Wo Luther das Wort Wucher gebraucht, ist es im allgemeinen Sinn des Zinsnehmens zu verstehen, was schon aus dem Gegensatz der Worte Wucher und Übersatz hervorgeht. Ferner: Der deutsche Ausdruck: »Wucher nehmen« entspricht einem hebräischen Verbum, das, nach der Auffassung des Talmud, sowohl: Zins geben, als auch Zins nehmen bedeutet. Die Stelle Moses III hat Luther falsch übersetzt. Richtig heißt sie: »Und wenn bei dir dein Bruder verarmt und seine Hand wankt, so sollst du ihm unter die Arme greifen, auch dem Fremdling und dem Beisassen, daß er bei dir lebe.« Im Gegensatz dazu erlaubt die zitierte Stelle des Deuteronomiums, Zins vom Fremden zu nehmen. Daraus wurde gefolgert, daß die Juden von ihren Glaubensgenossen keinen Zins nehmen dürfen, dagegen wohl von den Nichtjuden. Die Vorschrift erklärt sich aber so, daß den Israeliten erlaubt war, von den fremden Kaufleuten, Zins zu nehmen, da diese ja auch von ihnen Gewinn nahmen. Sie ist eine einleuchtende Schutzvorschrift für ein ackerbautreibendes Volk gegenüber den fremden Handelsleuten, die auch ihrerseits am Zinsnehmen nicht gesetzlich gehindert waren.
Die Verachtung und Brandmarkung derer, die Zins zu nehmen pflegen, kehrt an vielen Stellen des Alten Testaments wieder. Vor allem spielt auch für das christliche Zinsverbot der Psalm 15 eine Rolle, der den Zinsnehmer vor Gott verwirft. Ähnlich spricht sich der Prophet Ezechiel aus (18/13,17; 22/12), ferner der Spruchdichter Salomo (28/8). Josephus Flavius, der jüdische Geschichtsschreiber, sagt in seinen »Jüdischen Altertümern« (IV, 8/25): »Keinem Hebräer ist es gestattet, Speise oder Trank gegen Zins zu geben.«
Der Talmud nimmt es mit dem Zinsverbot nicht weniger ernst. Er erklärt das Zinsnehmen für strafbar und stellt fest, daß der Zinsnehmer sich eines fünffachen Vergehens schuldig mache, da Moses es an fünf Stellen verboten habe (Baba Mezia 61 a. b. 75 b). Der Zinsnehmer wurde – nach M. Sanhedrin III, 3. 24 a ff. – nicht zur Zeugnislegung zugelassen. Er wird als abtrünnig und als Gottesleugner gebrandmarkt. Der Talmud verbietet sogar dem Gläubiger, im Hause seines Schuldners unentgeltlich zu wohnen (Baba Mezia 64 b) oder sich von dessen Dienerschaft Arbeit tun zu lassen.
Gleich danach (71 a) heißt es: »Komm und sieh, wie blind die Zinsgläubiger sind. Wird einer beschimpft, so erhebt er sich mit aller Kraft gegen den Beleidiger. Diese aber bringen noch Zeugen dafür herbei und unterzeichnen es selbst mit ihrem Namen, daß sie Gottesleugner sind.« Mit Beziehung auf Ezechiel 18/13 heißt es, die Zinsgläubiger seien Mördern zu vergleichen.
Das jüdische Grundgesetz also und seine Interpretation läßt keinen Zweifel darüber, daß das Zinsverbot ein Teil der jüdischen Lehre und durch die christliche Kirche ihr entnommen ist. Wie sollte also der Wucher ein dem jüdischen Volk eingeborenes Laster sein? Allerdings finden Menschen und Völker, die ihren Boden zu verlassen und zu wandern gezwungen sind, neue Sitten und Laster auf den fremden Wegen, die sie gehen müssen.
Auch die Juden haben bereits in den ersten christlichen Jahrhunderten, in denen der äußere und innere Druck unaufhaltsam gewachsen ist, sich dem Handel und Geldgeschäft zugewandt. Es war die einzige Form, in der sich die Zersprengten, Verachteten und Verfolgten gegen die immer kompakter werdende Majorität und Macht des Christentums wehren und behaupten konnten. So findet sich in der Literatur der Kirchenväter bereits unter vielen anderen Anwürfen gegen sie auch der wegen ihres Wuchers, so etwa bei Hieronymus (in dem Brief an den Priester Nepotianus, Kap. 10) oder in den Reden des Johannes Chrysostomus (345? – 407), Erzbischof von Konstantinopel, und bei anderen. Hier zeigen sich die ersten Spuren der großen Tragödie eines heimatlos gewordenen Volkes, das sich jener irdischen Macht verbinden muß, die auch den Heimatlosen vor der letzten Ohnmacht bewahrt, der Macht des Geldes.
Man verkleinert die jüdische Volkstragödie, wenn man den äußeren Zwang, dem die Juden in ihrer Zerstreuung unter den Völkern preisgegeben waren, und seine Folgen übersieht oder leugnet. Die Dämonie der hoffnungslosen Minorität, in der sich die Juden an allen Orten und Enden der Welt befanden, mußte sie dazu antreiben und hat sie dazu angetrieben, sich der Dämonie des weltbeherrschenden Geldes zu verschreiben. Das war kein Angriff gegen die Welt, sondern ein unausweichliches Verteidigungsmittel gegenüber ihrer Ablehnung und Verfolgung des Judentums. Wollte dieses sich und seine Lehre behaupten, so mußte es im Geld das Mittel dazu erkennen und ergreifen. So haben die Juden als Händler jeder Art das europäische Mittelalter betreten – als Händler antiker Richtung, die nun in einer Epoche und in einer Welt, in der die antike Handels- und Geldorganisation so gut wie ganz zertrümmert war, einen Zustand der merkantilen Fortgeschrittenheit repräsentierten.
Die nachtalmudische rabbinische Literatur und Lehre konnte nicht anders, als dem neuen Zustand des Volkes Rechnung tragen. Sie konnte dem Zinsnehmen durch die Juden nicht mehr entgegentreten, so wie ein Jahrtausend später die reformierte Christlichkeit und auch die Kirche selbst sich gezwungen sahen, das Zinsverbot preiszugeben. In beiden Fällen hat sich die Wirtschaft über die Lehre hinweggesetzt. Aber dieses Jahrtausend, um das die innerjüdische Entwicklung, die Geldwirtschaft betreffend, der Christenheit voraus war, wird zu einem tragischen Element für das Judentum: es verkörpert einen noch fremden Wirtschaftsgedanken. Es ist unzeitgemäß, indem es die tragische Rolle des Geldlieferanten übernimmt.
Und sogleich ist der evangelistisch beschwingte Mythos am Werk, um diese Rolle ins Metaphysische zu wenden, ins Gottwidrige und Teuflische. Die dreißig Silberlinge des Judas werden dem jüdischen Charakterbild zugerechnet, als ob die Treue der anderen Jünger nicht ebenso gut in die Rechnung gehörte. Was der eine getan hat, gilt als jüdisch, was die elf anderen getan oder gelitten haben, als christlich. Mit diesem primitiv erdichteten Fluch beladen, greift der jüdische Handel in dem mittelalterlichen Europa um sich. Jeder niedere oder hohe Zinsfuß, den die Juden nehmen, stellt immer wieder jene dreißig Silberlinge des Judas dar. Damit hat der Mythos vom mittelalterlichen Juden die Augen aufgeschlagen und seinen Weg angetreten.
Shylock ist ein Zeuge dieses Weges.
»Viele haben den Zinswucher mit geistreichen Reden angegriffen. Sie führen an, es sei eine Schande, daß der Teufel Gottes Anteil, nämlich den Zehnten, haben soll; ferner, daß der Wucherer der größte Sabbathschänder sei, da sein Pflug auch am Sonntag ackere.«
So heißt es in Francis Bacons 1625 veröffentlichtem Essay »Vom Wucher«. Die Erwähnung des Zehnten bezieht sich darauf, daß unter der Regierung Heinrichs VIII. der Zinsfuß auf zehn Prozent festgesetzt worden war. Das hat die Kritik und Auflehnung der judaistisch frommen englischen Puritaner herausgefordert. Der Zehnte der Bibel und die Sabbath-Heiligung sind die neuen Argumente gegen den Zins überhaupt und gegen den Zinsfuß von zehn Prozent im besonderen, die den anderen Geist der Zeit gegenüber der oben angeführten scholastischen Argumentation des Augustinus zum Ausdruck bringen.
Bacon selbst, der große Zeitgenosse Shakespeares, verteidigt den Wucher, das heißt das Zinsnehmen, und schlägt die Festsetzung zweier Zinssätze vor, eines allgemeingültigen von fünf Prozent und eines höheren, für den eine besondere staatliche Konzession und auch eine Abgabe an den Staat vorgesehen werden sollte. Es war also zur Zeit Bacons und Shakespeares keine Rede mehr von der Verabscheuung des Zinsnehmens durch die weltliche und staatliche Macht, auch nicht durch die religiöse, denn Calvin selbst, der Vater des Puritanertums, hatte sich für die Zulässigkeit des Zinsverkehrs ausgesprochen. Die Juden hatten gesiegt. Unter Eduard VI., dem Sohn Heinrichs VIII., war allerdings noch einmal ein Zinsverbot ergangen. Aber es blieb, in seinem nun schon grotesken Widerspruch zu den Bedürfnissen der englischen Wirtschaft, so gut wie unbeachtet.
Nichts bezeichnet den Übergang aus den mittelalterlichen Anschauungen in die neuzeitlichen besser als der zur grauen Theorie gewordene Streit um den »Wucher«. Dessen Zeuge ist Shylock – sowohl für die englische wie für die venezianische Welt, die beide ohne »Wucher« und Wucher unvorstellbar gewesen wären. Shylock als Figur wird in seiner tiefsten psychologischen Spannung erst ganz deutlich und deutbar, wenn man ihn vor der kapitalistischen Kulisse des sechzehnten Jahrhunderts sieht.
In dessen erster Hälfte war der mächtigste Fürst der damaligen Welt, Karl V., einer der größten Geldentleiher (und Zinszahler) aller Jahrhunderte. Er hat Darlehen aufgenommen, wo und von wem er sie bekommen konnte: in Spanien und in den Niederlanden, in Deutschland und in Italien – von Christen und von Juden. Er hat es freilich mit der Zinszahlung so wenig genau genommen wie mit der Rückzahlung des Kapitals. Er hat aus der Fülle seiner Macht und Gunst gezahlt. Was für eine nebensächliche Rolle mußten überhaupt damals Zins und Wucher im moralischen Sinn spielen, da fast jeder wichtige politische Akt und fast jedes wichtige politische Amt erkauft wurden? Schon die Wahl Karls zum deutschen Kaiser war eine der groteskesten Geld- und Korruptionskomödien der europäischen Geschichte und steht hinter denen der spätrömischen Kaiserzeit kaum zurück. Die Kurfürsten, ihre Ober- und Unterbeamten, ihre Freunde, Ratgeber und Verwandten haben sich wieder und wieder von dem spanischen und von dem französischen Kandidaten bestechen lassen.
Aber halten wir uns an Beispiele aus Shakespeares Heimat! Der erste Ratgeber und Kanzler des König Heinrichs VIII., der bau- und prunkfreudige Kardinal Wolsey, hat in den Wahl- und Paktverhandlungen mit Spanien und Frankreich Pfründe und Renten und Güter zusammengerafft, wiederum wo und von wem er sie bekommen konnte. Und gar die große Königin Elisabeth, deren Großvater Heinrich VII. ein nicht nur erwerbstüchtiger, sondern auch erwerbsgieriger Herrscher war, während sein Sohn Heinrich VIII. eher etwas von einem »nouveau riche« hatte – Elisabeth selbst war eine zugleich kühle und kühne Rechnerin. Sie hat mit der Vergebung von Pachtverträgen, von Ein- und Ausfuhrmonopolen und mit ähnlichen Transaktionen, ganz zu schweigen von ihrem Anteil an der Beute aus den Raubfahrten ihrer großen Seeleute, einen Wucher überlebensgroßen Stiles getrieben.
Auch von unten her waren die Völker wahrhaft durchwuchert. Soweit die Scheu vor dem Recht und der Macht der zinsgegnerischen Kirche wirkte, hatte man schon im Mittelalter im Rentenkauf und in anderen Vertragsformen Möglichkeiten genug gefunden, das kanonische Zinsverbot zu umgehen, um nicht nur tatsächliche Wirtschaftsbedürfnisse, sondern auch den allgemeinen Geldhunger zu befriedigen. Nicht umsonst hat schon Dante den Wucher verdammt und Luther gegen ihn gewettert. Zwischen Dante und Luther hatte sich eine Entwicklung vollzogen und war auf ihrem Höhepunkt oder Tiefstand angelangt, die Habsucht und Wucher zu einem Zentralproblem der Zeit gemacht hat.
Das Mittelalter mit seiner feudalistischen Rang- und ritterlich-romantischen Gefühlsordnung war vorüber. Schon in seiner Spätzeit hatte sich eine vorwiegend wirtschaftlich betonte Denkweise durchgesetzt: der Stolz des Ritters war der Habgier des Besitzenden gewichen, der Ehrhunger dem Geldhunger, die Lust am Abenteuer der Freude an Besitz und Genuß. Schon seit dem dreizehnten Jahrhundert war eine »Verdiesseitigung« der europäischen Christenheit unter Einschluß der Kirche im Gange, eine Verweltlichung des heiligen Glanzes, der immer deutlicher die Farbe des Goldes annahm. Die Habsucht wurde das Kardinallaster, mit dem sich schließlich die Reformation auseinandersetzte, indem sie der Wirtschaftsgesinnung eine neue Grundlage gab. Auch »Wucher« war nun nicht mehr Wucher.
In der Literatur, etwa im deutschsprachigen Bereich bei Jakob Ayrer (1540? bis 1605), Sebastian Brant (1458-1521) oder Hans Sachs (1494-1576), hat sich der allgemein erhobene Vorwurf gegen das Volkslaster des übertriebenen Wuchers die Gestalt und den Namen des Juden zum Ziel genommen. Auch die wuchernden Christen wurden »Juden« genannt. Sebastian Brant sagt in seinem »Narrenschiff« den wucherischen Christen nach, daß sie auf die Juden schimpften, um ihre Konkurrenz im Wuchern loszuwerden.
So war es auf dem von Juden besiedelten oder durchwanderten Festland. Aber in England, der Insel ohne Juden, stand es mit dem Wucher nicht anders und nicht besser. Im elisabethanischen Drama wimmelt es von Wucherern. Sie sind geradezu stehende Figuren des Volksdramas und beweisen daher, daß Geiz, Habgier und wucherische Gesinnung beim niederen und mittleren Volk der Insel oft genug anzutreffen waren.
Im Gesamtwerk Shakespeares ist Shylock die einzige wuchernde Figur. Und – er wuchert im Drama überhaupt nicht! Er leiht die zur Zeit Shakespeares besonders hohe Summe von dreitausend Dukaten ohne Zinsen aus. Man geht kaum fehl, wenn man diesen Verzicht Shylocks auf Zinsgewinn für keinen Zufall hält und auch nicht für etwas Nebensächliches. Dem Dichter liegt nichts daran, den Wucher zum Gegenstand der Satire zu machen. Vielleicht weil er selbst Geld auf Zinsen ausgeliehen hat.
Um so auffallender, daß er den wirklichen Schuldner Bassanio und den Bürgen Antonio wie unschuldsvolle Lämmer behandelt und mit allen Mitteln idealisiert. Diese dichterische Manier Shakespeares wirkt schon fast wie eine Flucht vor den eigenen Erfahrungen, vor der eigenen Wirklichkeit. Und vollends kann man es eine Flucht in eine Art von Alibi nennen, daß er als einzige Wuchererfigur einen Juden zeigt, einen der Erfahrungswelt seines Publikums entrückten Vertreter des in England so in Blüte stehenden Lasters. Es liegt darin viel zarte Rücksichtnahme auf seine Umwelt, erst recht darin, daß er den königlichen Kaufmann Antonio so geld-, welt- und zeitfremd schildert, während in Wirklichkeit die Großkaufleute des damaligen London und Venedig gute und harte Rechner waren. Antonio ist daher, von Shakespeares Zeit und Shakespeares Leben aus gesehen, eine vollkommene Wunsch- und Traumerscheinung.
Um so schärfer tritt der Jude mit der ganzen mittelalterlichen Mitgift seines Stammes und Gewerbes in Erscheinung. Trotzdem aber verkörpert er die wahre Gesinnung der ganzen damaligen Zeit, die grausam und hart in Dingen des Geldes war. Das ist eine merkwürdige Verlagerung der Gewichte. Sie ist nicht ohne apologetische Tendenz gegenüber der christlichen Welt, und sie klagt die jüdische an.
Der Jude ist der Sündenbock der Zeit. Er wird in die Wüste geschickt. Und Schlimmeres als die Schuld des Zinsnehmens verfolgt ihn.