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Zur Vorgeschichte dieses Buches

Ich habe dieses Buch in den Jahren 1936 und 1937 geschrieben – in einer Welt, die es heute nicht mehr gibt: in der ehemaligen Hauptstadt des Deutschen Reiches, Berlin, in der Welt der Nazis, der Konzentrationslager und Pogrome, der Folterungen und Morde. Kein Wunder, daß dieses Buch, wenn es jetzt erscheint, bereits eine Geschichte hinter sich hat, die zu erzählen sich lohnt.

Ich hatte gerade einen zwei Jahre währenden Kampf um die Befreiung eines älteren Bruders hinter mir, den das Nazi-Regime wegen angeblichen Landesverrats eingesperrt hatte. Der von den Nazis im April 1934 eingesetzte Volksgerichtshof üblen Angedenkens sprach meinen Bruder so gut wie frei. Ja, jener Volksgerichtshof tat sogar das Seine, um ihn vor der Gestapo zu bewahren – am 22. Dezember 1935! Ich werde diesen Tag so wie die vorausgegangenen zwei Jahre des Kampfes nie vergessen.

Nun versuchte ich, Deutschland zu verlassen. Es gelang mir nicht. In meiner äußeren und inneren Bedrängnis beschloß ich, wenn ich schon nicht aus dem verpesteten Land entkommen konnte, so doch wenigstens aus der verpesteten Zeit zu fliehen. Auf dieser »Flucht« in das Abenteuer der Literatur und der Geschichte begegnete mir – fast zwangsläufig – Shylock, das Spiegelbild des europäischen Juden, wie er niemals war, und Widerspiel alles Jüdischen, wie es wirklich war. Ich beschloß, seine Figur zu ergründen, soweit es in meinen Kräften stand. Das heißt: während die Nazis ringsum ihre blutrünstigen, barbarischen Shylockiaden inszenierten, suchte ich die Gefilde Shakespeares und der jüdischen Geschichte auf.

Wenn das eine Flucht war, so darf man es auch zugleich eine Art von Heimkehr nennen – Heimkehr in die Welt der Dichtung und des Spiels, denen die besten Kräfte meines bisherigen Lebens gewidmet waren, in die Vorwelt des jüdischen Volkes, zu dem ich selbst gehöre, und auch in das Gebiet der Jurisprudenz, der ich vor vielen Jahren eine Reihe meiner Studien- und Berufsjahre gewidmet hatte. Ja, es war in der Tat eine Rück- und Heimkehr zu fast allem, das mein Leben ausgemacht und mein Wesen gebildet hat, bevor die Nazis nach uns griffen, um uns zu vernichten.

Als das Buch fertig war, fand ich, wenn auch nicht sehr rasch, einen Verleger, einen jüdischen natürlich, denn bei anderen durfte ich ja als Jude nichts veröffentlichen. Auch so war es für uns schwierig genug, das Buch herauszubringen. Denn das Manuskript mußte einer Nazi-Stelle zur Vorzensur unterbreitet werden, die dem »Judenvogt«, dem Juden-Geßler Hinkel unterstellt war. Verleger und Autor sandten das Manuskript nicht ohne geheimes Bangen ein. Aber – es wurde zur Veröffentlichung zugelassen! Wahrscheinlich ist der Nazi-Zensor in seiner Lektüre nicht über das erste Kapitel, das von Shakespeare handelt, hinausgekommen.

Verleger und Autor veranstalteten nun eine Subskription unter den deutschen Juden, die Erfolg hatte. Dann übergab der Verleger das Manuskript einer Druckerei in Munkacz, Tschechoslowakei. Aber was sich heute so rasch erzählt, nahm damals viel Zeit in Anspruch. Und so war inzwischen das Frühjahr 1938 gekommen. Die Ungarn besetzten – von Hitler ermuntert – die Stadt Munkacz und bliesen der dortigen jüdischen Druckerei das Lebenslicht aus. Im gleichen Frühjahr war es mir endlich gelungen, Deutschland zu verlassen und mich in London niederzulassen.

Hier bot ich das Manuskript dem einen oder anderen englischen Verleger an – ohne Erfolg. Sie erklärten, es sei jetzt nicht die Zeit für solch ein Buch (denn es war ja die Zeit der »Befriedungspolitik« unseligen Angedenkens), sie wollten warten, bis die europäische »Krise« vorüber sei. Die »Krise« war im September 1939 vorüber! Nun wurde nicht nur das Interesse, sondern auch das Papier knapp. Shakespeare und die Juden – ein Buch über sie konnte warten, bis wieder Friede sein würde.

So bekam mein Manuskript seinen Teil vom Londoner Bombenregen ab. Ich selbst begab mich wieder auf eine »Flucht« – nicht aus London, sondern in eine lange Krankheit. Nun war wirklich keine Zeit für Shylock!

Aber kaum konnte ich mich wieder einigermaßen rühren, begann ich (es war ein Unternehmen, dem ich ohne den guten Rat und Beistand englischer Freunde nicht gewachsen gewesen wäre) das Manuskript selbst ins Englische zu übersetzen und es für englische Leser zu bearbeiten. Das war, um eine private Bagatelle mit der schauerlichsten Untat der Weltgeschichte zu synchronisieren, zu der Zeit, als die Nazis Millionen Juden in Gasöfen hinmordeten. Wieder einmal, wie einst und je, aber kaltblütiger als je vorher, wurde der Jude, weil er Jude war, verbrannt.

Dann, endlich, ging der Krieg zu Ende – freilich nicht die »Krise«, von der die englischen Verleger im Frühjahr 1938 gesprochen hatten, ganz gewiß nicht die Krise für die europäischen Juden. Jetzt nahm der Londoner Verleger Victor Gollancz meine englische Version zur Veröffentlichung an.

Während ich diese Geschichte meines Buches niederschreibe, ist die englische Ausgabe noch nicht erschienen. Um so ungeduldiger wende ich mich der Aufgabe zu, eine deutsche Ausgabe vor deutsche Leser zu bringen – Juden und Christen. Für sie habe ich es vor fast zehn Jahren geschrieben, auf sie habe ich es gezielt.

Ich trete mit gutem Gewissen vor das Forum der Literatur-, Geschichts- und Rechtswissenschaft. Allerdings ist das Buch nicht für Gelehrte geschrieben. Ich habe daher, vom Literaturverzeichnis abgesehen, auf den wissenschaftlichen Apparat verzichtet. Es ist ein Buch für Laien, die einen der fürchterlichsten Auswüchse unserer Zeit, den Antisemitismus, in seinem frühen Stadium kennen und verstehen lernen wollen. Es ist ein Buch für Menschen, die den großen Dichter Shakespeare lieben, aber denen die Wahrheit noch höher steht – die Wahrheit, ohne die die Menschheit verkommen muß. Dieses Buch ist geschrieben als ein bescheidener Beitrag zur Abwendung der infernalischen Gefahr, in die der Nationalsozialismus Deutschland und die Welt gebracht hat.

Wer zum Verständnis scheinbar unverständlicher Zeiterscheinungen beiträgt, tut damit etwas zur Verständigung der Menschen untereinander. So ist dieses Buch, nach der Absicht seines Autors, durchaus kein Kampfbuch, sondern ein Versuch, zum Frieden der Welt beizutragen.

London, im Jahre 1946.
H. S.

Einleitung

Jedes bedeutende Kunstwerk hat auch geschichtliche Bedeutung. Es verzeichnet Geschichte und hat teil an der Geschichte. Shakespeares »Kaufmann von Venedig« aus diesem Blickwinkel zu betrachten, ist die Absicht dieses Buches. Shakespeare hat die ›haltbarste‹ nachbiblische Judenfigur geschaffen. Er hat in ihr notwendig über das Judentum berichtet und gerichtet. Er hat mit ihr jüdische Geschichte geschrieben und gemacht.

Dieses Buch will ihm, vom jüdischen Standpunkt aus, den Zoll dafür erstatten, indem es die Geschichte seines Shylock schreibt und erklärt. Indem es diese Geschichte schreibt, muß es den Shylock nicht nur literarisch, sondern auch historisch und mythologisch zu ergründen suchen. Ihr Spielraum ist das 16. Jahrhundert. Ihr Lebensraum aber ist das Schicksal des jüdischen Volkes von der biblischen Zeit an bis heute.

Während der Arbeit an dem Buch bin ich oft gefragt worden, ob ich ein »aktuelles« Buch zu schreiben vorhabe.

Die Antwort darauf lautet: Es ist mir nicht bekannt, daß etwa dänische Staats- und Hofmänner auch heute noch als geschwätzige Poloniusse gelten oder Mohren als eifersüchtige Othellos. Aber die Juden, auch wenn sie weder habgierig noch grausam sind, gelten immer noch als Shylocks. Richtiger: Shylock gilt für sie.

Somit ist dieses Buch aktuell.

Es wäre ein Leichtes gewesen, die folgenden Seiten mit einer Unzahl von Anmerkungen und Hinweisen zu pflastern. Ich habe davon abgesehen. Der Leser ohne wissenschaftliches Interesse würde davon nur gestört werden. Der gelehrte Leser aber wird aus dem Literaturnachweis am Schlusse des Buches die Quellen und Belege leicht herausfinden.

Berlin, im März 1937.
H. S.


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