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England blüht und Spanien welkt. Das stellt sich, je näher man der Jahrhundertwende kommt, immer deutlicher heraus. Die Königin Elisabeth steht am Anfang ihres siebenten Jahrzehnts. Philipp II., der einst um ihre Hand angehalten und den sie nachher besiegt hat, ist der kranke Herrscher eines kranken Reichs. Elisabeth und ihr Werk werden ihn überleben.
Doch auch um sie wird es langsam dämmrig. Ein kaltes Licht geht noch von Thron und Krone aus. In Schottland wartet schon der mißliebige Erbe, der enthaupteten Maria Stuart kleinlicher Sohn. Und in England selbst warten so viele auf Elisabeths Tod: die Katholiken, die ihr Heil von Rom erwarten, die Puritaner, denen die Königin als Haupt der Staatskirche noch zu papistisch und zu weltfreudig ist, auch andere Sektierer und Verschwörer. Unter diesen vor allem die Spione und Kreaturen des unversöhnlichen Philipp, die nicht nur persönliche und militärische Geheimnisse auskundschaften, sondern auch Mittel und Wege suchen, die ketzerische Königin zu beseitigen.
Ein Komplott nach dem anderen wird entdeckt. Der Tower bekommt Bewohner. Tyburn, die Richtstätte, sieht viel blutige Arbeit. Nicht jeder ist schuldig, der sein Leben lassen muß. Aber jeder Verurteilte zieht andere Opfer nach sich. Denn die Folter öffnet die Lippen zu fast jedem gewünschten Geständnis. Ob es wahr oder unwahr ist, spielt keine Rolle: Nieder mit den Feinden Elisabeths!
Sie selbst ist nicht ängstlich. Sich um sie zu ängstigen und zu bemühen, ist das Gewerbe ihrer Ratgeber, Höflinge und Günstlinge. Unter ihnen steht, als ihr Liebling und als politischer Spürhund, der junge Earl of Essex in der vordersten Reihe.
Er war ein letzter Ritter und Romantiker an dem Hof und in dem Land, in dem es damals schon von scharfen Realisten und Rechnern wimmelte. Er hielt sich für einen Staatsmann und Feldherrn, aber er war nur ein plänesüchtiger Troubadour und Soldat, der strahlende Liebling der Königin und des Volkes von London, im Grunde eine noch mittelalterliche Erscheinung, dem das Leben wie eine Kette von Turnieren und Festen dahinging. Am Ende stand der Block, auf dem er für eine knabenhaft angezettelte Verschwörung seinen Kopf endgültig verlor.
Vorläufig aber – im Jahre 1594 – trug ihn noch die Gunst der Königin über die Stürme der Politik hinweg, in die sein Ehrgeiz ihn immer wieder hineintrieb. Schon jetzt jedoch war seine Politik nicht die Politik Elisabeths. Essex wollte Krieg mit Spanien, noch einmal nach der Besiegung der Armada, eine Generalabrechnung mit diesem Erzfeind, gegen den er sich bereits zu Wasser und zu Land heldisch, wenn auch nicht strategisch bewährt hatte. Aber Krieg kostet Geld. Und Elisabeth war sparsam. Nebst ihrem alten Staatskanzler Lord Burleigh und seinem ihm nacheifernden und nachreifenden Sohn, dem Robert Cecil, dachte sie so gut wie Essex daran, mit dem Spanier noch manches Hühnchen zu rupfen. Für sie war die Diplomatie auch Krieg, nur mit anderen als kriegerischen Mitteln. Die Königin und ihre Berater waren anschlägig genug, um nie verlegen um solche Mittel zu sein. Eines davon liegt auf unserer Fährte.
Im Jahre 1580 war der portugiesische Königsthron verwaist. Zwei Jahre vorher hatte der schwärmerische Jüngling Sebastiano in einem bald legendär gewordenen afrikanischen Feldzug gegen die Ungläubigen sein Heer und sein Leben verloren. Auch dieser Kriegszug spielt in der Geschichte der Marranen eine Rolle, denn er wurde von ihnen finanziert gegen die Zusage, daß sie zehn Jahre lang ihrer Vermögen nicht beraubt und an der Auswanderung nicht behindert werden sollten. Als Sebastianos Heer in der Schlacht bei Al-Kasr Al-Kabir vernichtet war, wurden viele portugiesische Edelleute in Fez als Sklaven feilgeboten und hier von ehemals aus Portugal geflohenen Juden gekauft.
Nach Sebastiano versuchte sein schon vergreister Oheim, der Kardinal Henrique, der übrigens auch Großinquisitor von Portugal war, das Land zu regieren und die Erbfolge zu regeln. Beides mißlang. Als er 1580 starb, herrschte in Portugal eine heillose Verwirrung. An Kronprätendenten war kein Mangel. Abgesehen davon, daß die »governadores«, die Machthaber und Großen der Provinzen, nach unbeschränkter Herrschaft strebten, traten Abenteurer auf und gaben sich für den aus Afrika zurückgekehrten Sebastiano aus, an dessen Tod das Volk nicht glauben wollte. Daneben erschienen zwei ernsthafte Thronanwärter auf dem Plan: König Philipp II., dessen Haus mit der ausgestorbenen portugiesischen Königsfamilie vielfältig versippt und verschwägert war, und ein Kleriker Don Antonio, Prior von Crato, ein Enkel des drittletzten Königs.
Dieser Don Antonio wäre zweifellos der nächstberechtigte Prätendent gewesen, wenn nicht die Legitimität der Ehe, der er entsprossen war, Zweifeln begegnet wäre. Die Zweifel allerdings beschränkten sich auf die Großen des Reichs, die sich ihre Einwilligung in die Thronbesteigung möglichst teuer abkaufen lassen wollten, und auf König Philipp. Das Volk von Portugal brachte seine Sympathien dem Don Antonio entgegen, zumal der Spanier tief verhaßt war. Dieser schickte seinen Herzog Alba mit einem Heer nach Portugal.
Antonio, dem bereits als König gehuldigt worden war, stellte sich mit einem portugiesischen Volksheer dem Eindringling entgegen, das aber der spanischen Macht nicht im mindesten gewachsen war. Er verlor die Hauptstadt Lissabon und mußte danach immer mehr Boden aufgeben. Philipp wurde der Tyrann von Portugal. Alba setzte die Ansprüche seines Herrn hier mit denselben Mitteln wie in den Niederlanden durch.
Dies wäre ihm wahrscheinlich nicht so rasch oder vielleicht überhaupt nicht gelungen, wenn Don Antonio sich als König bewährt hätte. Er war in die Huldigungen des Volkes verliebt, auch in das Wohlleben und in die Pracht- und Machtentfaltung, zu der ihm die Anhänglichkeit der Städte und Provinzen verhalf. Aber er war launisch, bald zu heftig und bald zu nachgiebig, ließ sich von der Masse und einigen Günstlingen umschmeicheln und war bestrebt, möglichst viel Geld und Geldeswert an sich zu bringen. Schließlich hätte er sich von Philipp gerne seinen Thronanspruch abkaufen lassen. Doch hatte er den richtigen Zeitpunkt für dieses Geschäft verpaßt. Philipp ließ sonst nicht ungern das Geld für sich arbeiten. In Portugal hatten jedoch Alba und das Heer schon ganze Arbeit getan. Don Antonio mußte außer Landes fliehen. Ein kleines Gefolge, darunter auch einige Marranen, denen der nunmehr von dem inquisitionsbegeisterten Philipp beherrschte Boden erst recht zu heiß unter den Füßen wurde, begleitete ihn.
Er wandte sich zuerst nach Paris, wo es ihm sogar gelang, die Mobilisierung einer französischen Flotte gegen Spanien durchzusetzen. Vorübergehend konnte er auch eine Art von Seeräubertum auf der Insel Terceira aufrichten. Aber bald hatte er hier wie in der französischen Hauptstadt abgewirtschaftet und wandte sich, im Jahre 1588, dorthin, wo jeder Feind Spaniens und Philipps willkommen war, an den Hof Elisabeths.
Diese gedachte den Flüchtling als Figur in ihrem Kriegsspiel gegen den Spanier einzusetzen, ließ ihn wie einen Souverän empfangen und mit allen königlichen Ehren umgeben. Die Londoner, politisch hellhörig und entsprechend bearbeitet, huldigten dem »König Antonio«, wo er sich zeigte. Er wurde eine populäre Erscheinung in London – als königlicher Emigrant, in dessen Anwesenheit sich einerseits die Großmut Elisabeths und andererseits die Tyrannei des spanischen Widersachers zeigte.
Diesem abenteuerlichen Don Antonio, der keiner anderen als der portugiesischen Sprache mächtig war, wurde als Dolmetscher und Berater Doktor Roderigo Lopez beigeordnet.
Die Biographie des Lopez weist, was seine Herkunft und seine Jugend betrifft, große Lücken auf. Er war, als Antonio in sein Leben eintrat, ein Mann von mehr als sechzig, vielleicht schon von fast siebzig Jahren. Es ist nicht ausgeschlossen, daß er selbst bereits in England geboren ist. Denn schon im Jahre 1520 präsentierte der Gesandte des Königs Ferdinand von Aragonien und Castilien, desselben, der mit seiner Frau Isabella die Juden aus den Vereinigten Spanischen Königreichen ausgetrieben hatte, seinem Schwiegersohn, dem englischen König Heinrich VIII., einen Magister Hernando Lopez, der nach den Berichten ein berühmter Arzt gewesen ist.
Im Jahre 1550 hat es in London wiederum einen Arzt, Doktor Ferdinando Lopez gegeben, von dem bekannt war, daß er von Juden abstammte. Er hatte sich wegen »unmoralischen Verhaltens« vor Gericht zu verantworten, worunter man sich natürlich nicht einen Verstoß gegen die heute geltende ärztliche Moral vorzustellen braucht. Denn damals konnte die Ausübung der Heilkunst besonders mit den kirchlichen Anschauungen leicht in Widerspruch geraten. Dieser Lopez muß die Gunst der Hofkreise besessen haben, denn sie verwandten sich für ihn nach seiner Verurteilung beim Lord Mayor of London. Später aber wurde er landverwiesen.
Wie die Deszendenz Roderigos von den beiden genannten Trägern des Namens Lopez beschaffen war, ist nicht mehr zu ermitteln; es steht nicht einmal fest, ob sie überhaupt vorhanden ist. Träger des Namens Lopez, die Marranen waren, sind im England des sechzehnten Jahrhunderts nicht selten. Roderigo ist etwa zwischen 1520 und 1530 geboren, hat wahrscheinlich an italienischen Universitäten studiert und in Italien auch mit der Ausübung der Heilkunst begonnen. Wann er nach London gekommen oder zurückgekehrt ist, steht wiederum nicht fest; er scheint sich aber im Jahre 1559 endgültig dort niedergelassen zu haben.
Man weiß auch, daß er im Jahre 1569 als Mitglied des »Royal College of Physicians« aufgefordert wurde, die Vorlesung über Anatomie für dieses Jahr zu halten. Im Jahre 1575 erscheint sein Name auf der Liste der wichtigsten Londoner Ärzte. Damals war er Arzt am St. Bartholomew's Hospital und Hausarzt des mächtigen Staatssekretärs Walsingham. Durch seine Frau Sarah war er mit dem reichen Marranen Dunstan Anes verwandt, der der Bankier des Don Antonio war. Sie hatten auch reiche Verwandte in Antwerpen und arme in anderen Städten der Niederlande, die Lopez unterstützte.
Das Ehepaar hatte zwei Töchter und zwei Söhne, deren einer das Winchester College besuchte. Auch von einem in London lebenden Bruder Roderigos, einem Luis Lopez, der wahrscheinlich ein Agent der Firma Mendez war, ist gelegentlich die Rede. Roderigo war Angehöriger der englischen Staatskirche. Ob er innerlich der jüdischen Lehre treu geblieben ist, also das übliche marranische Doppelleben in religiöser Hinsicht geführt hat, weiß man nicht.
Die Urteile seiner Kollegen über ihn lauten im allgemeinen nicht günstig. Aber das besagt nicht viel, weil seine außergewöhnlichen Erfolge ihren Neid herausfordern mußten. Auf das Vorsatzblatt eines medizinischen Werkes im Besitz von Gabriel Harvey, dem bekannten Arzt und Schriftsteller aus der Zeit und dem Kreis Shakespeares, hatte dieser folgende Bemerkung über Lopez eingetragen: »Er ist keiner der gebildetsten oder erfahrensten Hofärzte, aber er macht großes Aufheben von sich selbst als dem besten, und durch eine Art jüdischer Praktik (im elisabethanischen Englisch: practic) ist er zu großem Vermögen gekommen und zu einigem Ansehen sowohl bei der Königin selbst wie auch bei einigen der vornehmsten Männer und Frauen.«
Der Mann, dem Lopez den letzten und steilsten Anstieg seiner Laufbahn verdankte, hat nicht wenig dazu beigetragen, das Mißtrauen und die Abneigung gegen seine Person zu wecken und zu vergrößern. Es war Lord Leicester, dessen Charakterbild im Urteil seiner Zeitgenossen so wenig geschwankt hat, wie es in der Geschichte schwankt. Dieser ehemalige Bewerber um die Hand Maria Stuarts und spätere intime Günstling Elisabeths, war der Held vieler Skandalgeschichten und die öffentliche Meinung hat ihm – meist mit Recht – eine Reihe von Übeltaten zugeschrieben. In einem 1584 erschienenen Pamphlet »Leicester's Commonwealth« erscheint auch der Name Roderigos. Er wird »Lopez the Jew« genannt und als besonders geschickt im Umgang mit Giften bezeichnet. (Man kann nicht umhin, dabei an die Vergiftungsorgien des Juden Barabas bei Marlowe zu denken.)
Leicester also zog Lopez nicht nur als Arzt, sondern auch als Vertrauten in seine Nähe. Er hat ihn, da er zu seiner Haus- und Hofhaltung gehörte, auch des öfteren auf sein Gut Kenilworth kommen lassen, das nicht weit von Shakespeares Geburtsort entfernt war. Von Stratford pflegte die »Earl of Leicester's Company of servants and players« – jene Schauspielertruppe, der später, nach der einen Theorie, Shakespeare angehört hat – auf dem Gut zu erscheinen, um vor ihrem Patron zu spielen. Mag sein, daß sich der junge William schon damals dieser Truppe genähert, nützlich gemacht und sie aus Neugier, Leidenschaft und Betätigungsdrang nach Kenilworth begleitet hat. Es liegt also auch im Bereich der Möglichkeit, daß er schon damals Gelegenheit hatte, Roderigo Lopez zu sehen oder gar kennen zu lernen – Lopez, den Juden.
Im Jahre 1586 wurde diesem das Glück zuteil, der Leibarzt der Königin zu werden. Er hatte diese hohe Auszeichnung nicht nur Leicesters Protektion, sondern auch den Empfehlungen des Staatskanzlers Burleigh und des Staatssekretärs Walsingham zu verdanken.
Diese beiden haben schon früh den Wert sei es der politischen Talente, sei es der politisch wichtigen Verbindungen Roderigos erkannt. Auf ihre Veranlassung trat er mit bekannten und verwandten Marranen in Spanien, Portugal und den Niederlanden in Korrespondenz, um über die politischen und militärischen Pläne und insbesondere über die Rüstungen des Feindes Nachrichten zu bekommen. Später hat man ihm vorgeworfen, er habe damals schon ein doppeltes Spiel getrieben und auch englische Staatsgeheimnisse nach Spanien gemeldet.
Seine Bestellung als Dolmetscher und Berater Don Antonios, des »Königs«, wurde von der Königin selbst verfügt. Sie hatte nicht nur Vertrauen zu ihrem Leibarzt, sondern auch menschliche Sympathie für ihn. Er hatte ihr Ohr. Dies mag mit der Grund dafür gewesen sein, weshalb Essex, dessen Arzt er ebenfalls war, die neue politische Funktion Roderigos aufrichtig begrüßte. Lopez schien in der Tat geeignet für das diplomatisch-politische Amt wie kein anderer. Er beherrschte fünf Sprachen, kannte das Festland und hatte ausgezeichnete Verbindungen dorthin. Dazu kam: in den Abkömmlingen der vertriebenen oder zur Taufe gezwungenen Sephardim pflegte auch dann, wenn sie vom Judentum abgefallen waren, der Haß gegen das Land und gegen den Thron fortzuleben, die ihren Vätern und Vätersvätern so übel mitgespielt hatten. Man konnte den Arzt daher geradezu als Bundesgenossen Don Antonios betrachten.
Dieser und seine Anwesenheit in England spielten in den Träumen und Plänen des Essex und seiner Freunde, kurz gesagt: der jungen Hofclique, die im Gegensatz zu dem Kreis der älteren Thronberater stand, eine große Rolle. Und diese Clique von jungen tatendurstigen und ruhmsüchtigen Edelleuten wiederum beherrschte durch ihr Temperament und den Glanz ihres Auftretens die Straße und die öffentliche Meinung der Hauptstadt. Sie hielten das allgemeine Interesse an der Person Don Antonios geflissentlich wach, sorgten dafür, daß sein Erscheinen in der Öffentlichkeit gebührend beachtet und gefeiert wurde und ließen natürlich auch dem Begleiter Lopez alle Ehre widerfahren. Sie wollten Zündstoff zusammentragen und in vielen kleinen Explosionen einen Generalausbruch gegen Spanien oder Spaniens gegen England vorbereiten – den Skeptikern und »Pazifisten« des Burleigh-Kreises und sogar der Königin zum Trotz.
Don Antonio war nur eine Attrappe, aber gerade daher zu allerhand politischen Effekten gut zu gebrauchen. Und Essex war ein Freund von Effekten. Einer hat ihm ja schließlich den Kopf gekostet.
Lopez hatte allen Grund, mit sich und seiner Mission zufrieden zu sein. Nach seinem Aufstieg als Arzt und Vertrauter hoher und höchster Kreise winkten ihm nun auch Erfolge als Politiker. Jedenfalls stand er mit im Vordergrund der politischen Bühne. Das Kombinieren und Konspirieren machte dem beweglichen Mann Vergnügen. Darin bewährte oder entlarvte sich das marranische Erbe. Aber war es nicht auch in der Tat schön für ihn, den Fremdling und Juden, der schon an der Schwelle des Grabes stand, zu den »Wissenden« und Mitwissern von Staatsgeheimnissen zu gehören? Bald der unersättlich neugierigen Königin berichten zu können, was der schöne und stürmische Jüngling Essex denkt, sagt und plant, und bald diesen ins Bild zu setzen, wie die Königin leuchtende Augen bekommen oder den Mund verzogen oder die Stirn gerunzelt oder hell aufgelacht oder einen ihrer derben Männerflüche ausgestoßen habe! Das war für einen alternden Arzt und Familienvater, der am Rande der großen Welt lebte, eine Stellung, die sich schon durch sich selbst lohnte.
Lopez war mutig genug, bereits im Jahre 1589 der Königin zuzureden, sie möchte eine Expedition nach Lissabon zu Gunsten Don Antonios ausrüsten. Dieser sei, so argumentierte er, in der portugiesischen Hauptstadt so beliebt und der Tyrann Philipp so verhaßt, daß englische Truppen nur zu erscheinen brauchten, um die Tore der Stadt offen zu finden und Schulter an Schulter mit dem portugiesischen Volk die Spanier zu verjagen. Es ist nach den Berichten als ein persönlicher Erfolg des Leibarztes zu betrachten, daß die sparsame und vorsichtige Königin zu diesem Überfall die Mittel bereitstellte. Es gehörte zu ihren Pfiffigkeiten, daß sie ihrem Liebling Essex verbot, an der Expedition teilzunehmen. Aber er ging gegen ihren Willen mit.
Und so erschien er denn, der strahlende Jüngling, eines Tages an der Spitze einer kleinen, viel zu kleinen Streitmacht vor Lissabon, um der antispanischen Partei Gelegenheit zu einem Aufstand zu geben. Aber nichts dergleichen geschah. Eine Herausforderung, die der Troubadour über die Wälle schickte, zu einem ritterlichen Zweikampf, den er für die Farben und die Ehre seiner jungfräulichen Herrin, der englischen Majestät, ausfechten wollte, blieb ohne Gehör und Antwort. In Lissabon ging der finstere Geist des Herzogs Alba und seines Herrn um und hatte den ritterlichen und sonstigen freien Regungen des Volkes ein radikales Ende bereitet. Essex mußte nach seiner erfolglosen Rückkehr einen zerknirschten Fußfall vor Elisabeth tun.
Da der unglückliche Ausgang dieser Unternehmung dem Leibarzt in der Gunst der Königin keinen Abbruch tat, darf man annehmen, daß es ihr um mehr als um einen kleinen Raubzug und Schreckschuß gar nicht zu tun gewesen war. Lopez setzte im Einverständnis mit der Königin sowie mit Burleigh und Essex seine spanische, portugiesische und niederländische Korrespondenz fort, wenn auch nach anfänglichem Widerstand, und blieb weiterhin das Faktotum des Königs ohne Thron und der elisabethanischen Höflinge und Machthaber.
Don Antonio war aber von vielen Emigranten umgeben, deren wahre politische Gesinnung, je länger der Zustand der Emigration dauerte, um so schwerer zu durchschauen war. Und andererseits mehrten sich gerade in den Jahren nach 1590 die Bemühungen des Königs Philipp, nicht nur den lästigen Don Antonio, sondern auch vor allem die verhaßte Königin durch bezahlte Kreaturen aus dem Weg räumen zu lassen. Zwischen dieser bösen Sorte von Menschen und jener zweifelhaften Gruppe, die sich durch Don Antonio gedeckt fühlte, spannen sich allerhand Fäden an. In diese verstrickte sich, aus einem übertriebenen Gefühl der Sicherheit heraus, der Briefschreiber Roderigo Lopez.
Daß er mit den Leuten Don Antonios vertrauten Verkehr hatte und mit ihnen Hand in Hand arbeitete, versteht sich von selbst. Aber ihre Hände waren nicht rein. Da war etwa ein Mann namens Estevan Ferrera Da Gama, auch Domingo Ferrandis genannt, ein, wie es hieß, »Gentleman von gutem Ruf«. Er hatte als Partisan Antonios sein ganzes Vermögen verloren. Nun aber machte er den Vermittler zwischen Lopez und dem spanischen Vize-Hof in Brüssel und galt sogar in den eingeweihten Kreisen der Spionage und Konspiration als Vertrauensmann Philipps. Oder da war Emanuel Luis Tinoco, auch Francisco de Thorres oder Theores genannt. Er war, nach dem zweiten Namen zu schließen, ein Marrane. Er hatte an einer Raubfahrt Don Antonios nach Marokko teilgenommen und war in Gefangenschaft geraten, aus der er nach vier Jahren durch die Hilfe Elisabeths befreit wurde. Seine Frau hielt sich in Portugal auf und war also den Spaniern preisgegeben.
Tinoco, ein ausgemachter Schurke, wußte immerhin, was er seiner Frau schuldig war. Er stellte sich der spanischen Spionage zur Verfügung. Ein intimer Freund Roderigos war Manuel de Andrada, von dem es hieß, daß er in der Giftmischerei besonders erfahren sei und von dem man, auch in Regierungskreisen, wußte, daß er des öfteren Reisen nach den Niederlanden und nach Spanien machte. Und endlich kam noch eines Tages ein zweiter Antonio an, Antonio Perez, nach diesem Namen zu schließen ebenfalls ein Marrane, vordem in hohen Diensten Philipps und nun – in wessen Diensten er jetzt stand, war zweifelhaft. Jedenfalls fügte er sich ins Gefolge des »Königs« ein.
Man brauchte diese Liste, die sich leicht noch erweitern ließe, nur aufmerksam zu lesen, um zu wissen, daß unter diesen Großen und Größen, die nichts zu verlieren und alles zu gewinnen hatten, Roderigo Lopez, der gealterte und nun auch kränkelnde Mann, ein verlorenes Schaf war. Er konnte nicht mehr zurück. Er schrieb und bekam Briefe, er fertigte Boten nach dem Ausland ab und empfing Boten aus dem Ausland. Er wurde in einer Emigrantengroteske die tragische Figur.
Von König Philipp weiß man, daß er wenig geschlafen und um so mehr gebetet und gearbeitet hat. Er kümmerte sich um alle Bagatellen, auch um solche höchst unwürdiger Art, etwa um die Spionage und um die Komplotte in England. Jedenfalls steht fest, daß er mit Lopez (oder dieser mit ihm) Verbindung aufgenommen hat und daß Verhandlungen über den Preis für die Vergiftung Elisabeths und Don Antonios zwischen beiden hin- und hergegangen sind. Lopez verlangte für die abscheuliche Tat, die der König von ihm erwartete, 50/nbsp;000 escudas oder 18 800 englische Pfund, nach dem damaligen Geldwert eine erstaunliche Summe. Philipp war bereit, sie zu zahlen. Aber Lopez verlangte sein Geld im voraus. Dazu war Philipp nicht bereit.
Um ihn seiner besonderen Gnade zu versichern, schickte der spanische König dem englischen Hofarzt einen mit kostbaren Edelsteinen besetzten Ring. Was tat Lopez? Er bot ihn der Königin an, ohne die Herkunft zu verschweigen! Sie lehnte ab, freilich »with gracious words« – mit freundlichen Worten. Er machte ihr auch Andeutungen darüber, was man mit ihm und gegen sie vorhabe. Sie verbot ihm, ihr von derlei ärgerlichen Dingen zu sprechen. Er besaß nach wie vor ihr unbegrenztes Vertrauen.
Bei all diesen Affären trat die ehemalige Hauptperson Don Antonio, der »König«, mehr und mehr in den Hintergrund. Wie wenig klug er auch war, mußte er doch allmählich das Spiel um den portugiesischen Thron verloren geben. Das konnte er nicht verwinden. Die Mitschuld daran gab er seinem Berater Lopez und ließ es ihn fühlen. Im Jahre 1593 entzweiten sie sich. In seinem Ärger über die Undankbarkeit Antonios soll Lopez geäußert haben, der König werde bei seiner nächsten Erkrankung sterben. Sind diese Worte wirklich gefallen, so beweisen sie nichts als eine senil schwatzhafte Unbesonnenheit. Ein gefährlicher Spion und Verschwörer jedenfalls läßt sich eine solche Drohung nicht entschlüpfen.
Essex setzte immer noch Hoffnungen auf Antonio. Ein Jahr vorher, 1592, hatte er Lopez überredet, Briefe an seine spanischen Bekannten zu senden, um Beweise für spanische Kriegsvorbereitungen in die Hand zu bekommen. Er hatte den Ehrgeiz, besser unterrichtet zu sein als die offizielle englische Diplomatie und der Königin gelegentlich mit politischen Eröffnungen zu kommen, die ihr die Burleigh-Leute, also die verantwortlichen Staatsmänner, schuldig geblieben waren. Die in seinem Dienst stehenden Stiefbrüder Bacon – der ältere Nicholas und der jüngere, später so groß gewordene Francis – hatten zu diesem Zweck einen kostspieligen Nachrichtendienst aus dem Ausland eingerichtet. Von der im Auftrage des Essex eingeleiteten neuen Korrespondenz mit Spanien erzählte Lopez auch der Königin, die wiederum mit Essex darüber sprach. Dieser war wütend.
Nach der endgültigen Entfremdung zwischen Antonio und Lopez wurde von der Essex-Clique eine öffentliche Kampagne gegen den Leibarzt inszeniert. Wo ihn die jungen Herren trafen, verspotteten und beschimpften sie ihn, nannten ihn verächtlich »The Jew« und ergingen sich in gehässigen Anspielungen auf sein ganzes Leben: ähnlich wie – Antonio gegenüber Shylock! So machten sie sich einen Spaß daraus, den alten Mann in der Öffentlichkeit damit aufzuziehen, daß er mit allen Mitteln versuchte, seine beiden Töchter möglichst gut zu verheiraten. Das mindeste aber, womit sie ihn ärgerten, waren ihre höhnenden Zurufe: »A Jew, a Jew – he is a Jew.« Plötzlich war in London und in England ein Jude da, ein einziger Jude! Er wird es zu büßen haben.
Inzwischen gelang es Essex, verdächtige Briefe an Da Gama und Tinoco aufzufangen. Die beiden wurden verhaftet. Sie glaubten sich von Lopez verraten und behaupteten – nicht ohne Zutun der Folter –, in seinem Dienst zu stehen. Essex triumphierte und erstattete der Königin Bericht. Doch sie lachte ihren Liebling aus, der er im Grunde schon nicht mehr war, gestattete ihm aber immerhin, Lopez durch eine Haussuchung zu überraschen. Diese verlief resultatlos. Elisabeth spottete über Essex' schlechte Nase. Sie freute sich immer, wenn er sich politisch blamierte. Essex und seine Freunde waren außer sich. Sie setzten das Gerücht in Umlauf: »Like a Jew, he had burnt all a little before« – er habe, als schlauer Jude, kurz vorher alles verbrannt.
Essex sorgte nun erst recht dafür, daß die Folter die zwei Verhafteten noch gesprächiger machte als bisher. Dabei stellte sich heraus, daß Lopez nicht in alle Briefe, die er nach Spanien geschrieben, und nicht in alle Verhandlungen, die er mit dem Ausland und insbesondere mit Philipp geführt hatte, seinen Auftraggebern Einblick zu verschaffen pflegte. Das genügte, auch der Königin gegenüber, um Lopez in den Tower zu bringen. Hier brach er zusammen. Um der Folter zu entgehen, gestand er sogar seine angebliche Absicht ein, die Königin zu vergiften. Ende Januar 1594 war er verhaftet worden, Ende Februar fand schon der Prozeß gegen ihn statt.
Essex triumphierte. Er konnte sich als Retter der Königin aus Lebensgefahr aufspielen und den »König« Antonio als von Spanien verfolgten Märtyrer ausgeben. Er erreichte sogar, daß ihm die Königin den Vorsitz der Verhandlung übertrug. Ein Kollegium von fünfzehn Richtern wurde eigens für den Prozeß ernannt. Die Anklage, vom Kronanwalt Coke vertreten, lautete auf Hochverrat, begangen durch einen geplanten Anschlag auf das Leben der Königin. Der Prozeß fand in der Guildhall statt.
Wer damals, zur elisabethanischen Zeit, unter der Anklage des Hochverrats vor den Richter kam, wurde auch ohne Beweis verurteilt. Das »peinliche Verfahren«, die Folter, oder auch schon die Angst vor ihr zerrieb allen Widerstand im voraus. Das haben höhergestellte und bedeutendere Männer als Lopez an sich erfahren müssen. Dieser, total gebrochen, wiederholte sein Geständnis auch in der Verhandlung. Er wurde zum Tode verurteilt, sein Vermögen wurde beschlagnahmt.
Der Ankläger betonte in der Verhandlung ausdrücklich, daß der Angeklagte ein Jude sei. In einem Bericht wird er als »a perjured and murdering villain and Jewish doctor, worse than Judas himself« bezeichnet – als meineidiger und mörderischer Bösewicht und jüdischer Doktor, schlimmer als Judas selbst. Der Kronanwalt sprach von dem Angeklagten als »that vile Jew« – diesem elenden Juden.
Die Hinrichtung in Tyburn, nach dem damaligen Brauch von unbeschreiblicher Grausamkeit, fand erst an einem der ersten Junitage statt. Die Königin nämlich hatte dem Gouverneur des Towers die Auslieferung des Delinquenten an den Nachrichter untersagt. Aber schließlich gelang es doch, ihn zum Galgen zu bringen. Der abscheuliche Akt entbehrte nicht der dramatischen Momente. Lopez machte den Versuch, zum Volk zu sprechen, aber er wurde niedergeschrieen. Als der Henker ihm den Strick um den Hals warf, rief er aus, er habe die Königin mehr geliebt als Jesus Christus. Da jauchzte der Mob: »He is a Jew, he is a Jew!«
Die Königin war von der Schuld ihres Leibarztes nichts weniger als überzeugt. Auf die Bitte seiner Angehörigen verzichtete sie auf ihr Recht, sein ganzes Vermögen zu beschlagnahmen und gab ihnen nicht nur Güter im Werte von hundert damaligen englischen Pfund, sondern dazu ein »beneficial lease« – ein einträgliches Pachtrecht – zurück. Sie reservierte ausdrücklich für sich selbst ein Schmuckstück, das »irgend ein spanischer Minister« Lopez geschenkt hatte und trug es ständig an ihrem Gürtel bis zu ihrem Todestag.
Übrigens fällt auf, daß Roderigo zu seinen Lebzeiten des öfteren in Geldnöten war – trotz seines gewiß großen ärztlichen Einkommens und der Erträgnisse aus einem Importmonopol für Anissamen und Sumach, das ihm die Königin verliehen hatte. Er kann also weder geizig noch habgierig gewesen sein. Vielmehr liegt die Vermutung nahe, daß er arme Marranen neben seinen Verwandten in den Niederlanden unterstützt hat.
Ob und wie weit Roderigo Lopez schuldig war, dies zu entscheiden ist nicht unsere Aufgabe. Aus dem oben zusammengestellten Material ergeben sich sehr gewichtige psychologische Anhaltspunkte für seine Unschuld. Der wichtigste natürlich ist, daß er keinen Grund hatte, etwas gegen die ihm so überaus gewogene Königin zu unternehmen und gar im Dienst jenes Herrschers, der als der geborene Feind des Judentums gelten mußte. War Lopez wirklich ein Verräter, so ist er auch einer am Judentum jener Zeit gewesen und die jüdische Geschichte müßte ihn noch schärfer verdammen, als es das gegen ihn eingenommene Londoner Gericht getan hat.
Seine jüdische Tragik bestand darin, daß er als »der« Jude von London, der im Licht der Öffentlichkeit stand, alle Vorurteile, alles Mißtrauen und alle Abneigung auf sich ziehen mußte, die gegen das Judentum bestanden. Seine Erfolge, sein Eifer schon mußten auffallen. Und der Eifer, mehr zu tun, als man von ihm erwartete, nämlich etwa den König Philipp zur Bezahlung des Preises für die Ermordung der Königin Elisabeth zu bewegen, um ihn dadurch nachher verächtlich und lächerlich zu machen, konnte daher rühren, daß er sich zu besonderen Leistungen verpflichtet und angespornt fühlte. Diesem Gefühl nachgegeben zu haben, das ist die Tragikomödie, deren Opfer Lopez, seine Unschuld vorausgesetzt, geworden ist, weil er ihr Held werden wollte.
Die öffentliche Meinung in London hielt ihn für schuldig. In den Jahren 1593 und 1594 gingen die wildesten Gerüchte über Anschläge gegen das Leben der Königin um und forderten Opfer. So oft man einen wahrhaft oder auch nur angeblich Schuldigen faßte, richtete und hinrichtete, wurde es als eine Entspannung empfunden. Im Falle Lopez sorgte Essex dafür, daß er nicht sobald vergessen wurde, weil er ja selbst dadurch als Retter des Vaterlandes glänzen konnte. Er brauchte diesen Ruhm notwendiger als je, denn die Spannungen und Zwischenfälle zwischen ihm und der Königin häuften sich, um so hitziger aber wurde sein Ehrgeiz, mit wichtigen Staatsaufgaben betraut zu werden, um so nervöser trieb er das Spiel um die Macht und um seine Karriere als Staatsmann und Feldherr.
Er und sein Anhang ließen es an propagandistischen Bemühungen nicht fehlen, das Interesse an der spanisch-jüdischen Verschwörung wachzuhalten. Es erschienen nicht weniger als fünf amtliche Berichte über den Prozeß, darunter je einer von dem Kronanwalt Coke und von Francis Bacon. Außerdem wurden – bestellt oder unbestellt – Pamphlete, Balladen und Karikaturen zu dem Fall herausgegeben.
Ein Blatt zeigt Lopez im Vordergrund, wie er, den Talmud in der linken Hand, mit der erhobenen Rechten einem Spanier schwört, daß er die Königin vergiften wolle. Im Hintergrund hängt einer am Galgen. Aus Lopez' Mund kommt ein Spruchband mit dem Text »Quid dabitis?« (Was werdet ihr zahlen?), während über dem Galgen die Worte stehen: »Proditorum finis funis« – das Ende der Verräter ist das Seil.
So erreichte man, daß der Fall des jüdischen Leibarztes, Giftmischers und Verräters in den Gassen und Kneipen, in den Kanzleien und Kontoren Londons in jenem Sommer 1594 die cause célèbre blieb. Eine Welle von Haß und Abscheu gegen die Juden und gegen die Spanier – Lopez' Name stand für beide – überfiel die Stadt, in der weder Juden noch Spanier lebten oder in der sie so gut wie unsichtbar waren. Im Judenhaß lebte die ganze mittelalterliche Vorstellungswelt, die ganze Judenmythologie wieder auf und im Spanierhaß nicht nur die Feindschaft gegen den papistischen Gegner, sondern auch die Erinnerung an die erst ein knappes Menschenalter zurückliegende Zeit, da unter Maria der Blutigen, der katholischen Halbschwester Elisabeths und Gattin Philipps, Spanier die Londoner Straßen und die glaubensfesten englischen Protestanten die Londoner Kerker gefüllt haben.
Mitten in diesem Aufruhr der Gefühle, in denen sich Königstreue mit Glaubenshaß, Patriotismus mit Feindschaft gegen alle Fremden mischten, stand die unglückselige Figur des nun schon von Hintertreppen-Romantik umschimmerten Roderigo Lopez.
Wie sollte sich das Theater, »Spiegel und abgekürzte Chronik der Zeit«, diesen Stimmungen und dieser Konjunktur verschließen? War nicht Barabas, der Jude von Malta, ebenfalls ein spanischer Jude, ein Arzt, Giftmischer und Verschwörer? Marlowes Drama wurde wieder auf den Spielplan gesetzt und erlebte zwischen Februar und Juni 1594 eine ganze Reihe von Aufführungen. Wieviel aktuelle Anspielungen die Komödianten, die darin ja nach Hamlets Aussage groß waren, in den Dialog eingestreut haben mögen, kann man sich vorstellen.
Und der »Kaufmann von Venedig«? Die Shakespeare-Wissenschaft pflegt die Entstehung des Stückes in die Jahre 1596 bis 1598 zu verlegen – aus guten, wenn auch nicht völlig durchschlagenden Gründen. Es ist wirklich nur eine »Verlegung«, denn entstanden ist diese Dichtung, sei es nun in ihrer ersten Fassung – vielleicht jene von Henslowe verzeichnete verschwundene »Venezianische Komödie« – oder auch nur in der Konzeption, im Jahre 1594, im Jahr des Falles Lopez. Dies leugnen, heißt den Dichter von der Erde weg in die Wolken versetzen, heißt seine Größe von oben statt von unten her aufbauen.
In Shakespeares Drama nach Spuren des Falles Lopez zu suchen, ist ein müßiges Unterfangen. Aber immerhin drängt sich die Tatsache auf, daß der Dichter den Gegenspieler des Juden Antonio genannt, also diesem »königlichen Kaufmann« den Namen des portugiesischen »Königs« gegeben hat. In den später noch zu nennenden Vorlagen älteren Datums ist dieser Name nicht zu finden. Dann kommt im »Kaufmann« eine Stelle vor, deren Beziehung sich ebenfalls aufdrängt. In der ersten Szene des ersten Aktes sagt der geschwätzige Graziano vor seinem Abgang:
»Thanks, i'faith; for silence is only commendable
In a neat's tongue dried and a maid not vendible.«
Das übersetzt Schlegel sehr wenig überzeugend:
»Dank, fürwahr! Denn Schweigen ist bloß zu empfehlen
An geräucherten Zungen und jungfräulichen Seelen.«
Richtiger übersetzt Hans Rothe:
»Ja, Schweigsamkeit paßt nur – wird es dir klar jetzt?
Für geräucherte Zungen oder Töchter, die man nicht absetzt!«
So übersetzt könnte das leicht eine Anspielung auf den um die Verheiratung seiner Töchter so eifrig bemühten Lopez sein. An diesem einen Ton, wie auch an den späteren Äußerungen desselben Graziano im Gerichtssaal, möchte man die Musik erkennen – nicht die, welche Shakespeare in seinem Stücke macht, sondern die, welche man von ihm, mit Bezug auf den Fall Lopez, erwartet hat. Seine Größe zeigt sich aber darin, daß er sich über den aktuellen Anlaß und die Londoner Zeitstimmung erhoben hat, indem er aus ihnen ein überzeitliches, mythisches Menschenbildnis gewonnen hat. Er war eben kein Pamphletist.
Das Werk eines Pamphletisten aber – in der Lopez- und, wie wir sie nun auch nennen können, Shylock-Zeit entstanden – wird zeigen, wie die Aufregung um den jüdischen Leibarzt einen anderen zeitgenössischen Schriftsteller geringeren, wenn auch nicht geringen Ranges beeinflußt hat.