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Die Juden im mittelalterlichen England

Die mittelalterlichen Bewohner der britischen Insel waren so wenig »judenfreundlich« wie ihre Zeitgenossen auf dem Festland. Man darf sogar annehmen, daß der Weg der Juden in England, der mit Wilhelm dem Eroberer ins Licht der Geschichte führt, besonders hart gewesen ist, denn die Geschichte des englischen und schottischen Volkes war an Gewalttat, Umsturz und Bedrückung überreich. Immer und überall aber sind im besonderen Maße die Juden ihr Opfer geworden.

Die englischen Könige und Herren haben sich gegen sie nicht anders verhalten als die Herrscher im ganzen mittelalterlichen Europa. Sie haben ihnen Rechte gegeben und Privilegien, die sie ihnen zu gelegener Zeit wieder genommen haben – nebst den Früchten ihrer Arbeit und oft genug auch nebst der Freiheit und dem Leben. Auch die englische Staatsgeschichte kennt Judenschutzbriefe, Judensteuern, Judenkopfgeld. Die Einnahmen aus der Sonderveranlagung der Juden müssen, obwohl ihre Zahl kaum jemals mehr als zwanzigtausend betragen hat, sehr hoch gewesen sein. Zwischen 1187 und 1201 hat es sogar für sie ein eigenes Departement in der königlichen Finanzverwaltung gegeben: das Scaccarium Aaronis.

Auch plötzliche Ausbrüche und systematische Verfolgungen fehlen in der englischen Geschichte nicht. Berühmt ist das Judenmassaker vom 3. September 1189, dem Krönungstag von Richard Löwenherz, der freilich die Hauptschuldigen, soweit sie zu fassen waren, verhaften ließ.

Der besondere Charakter der englischen Geschichte liegt darin, daß die Juden im Jahre 1290 des Landes verwiesen worden sind und daß es ihnen bis zum Jahre 1652 verschlossen geblieben ist. Die Insel war also schon zwei Jahrhunderte vor der iberischen Halbinsel ein Land ohne Juden.

Die Zeit vor der Austreibung war besonders drückend. Die Juden selbst hatten, wie auch schon bei früheren Gelegenheiten, um die Erlaubnis gebeten, das Land verlassen zu dürfen. König Eduard I. erhob eine exorbitante Kopfsteuer und verbot ihnen, sich in einer Stadt oder Landschaft seines Reiches neu anzusiedeln. Seine Mutter Eleanor, eine Protektorin der judenfeindlichen und bekehrungssüchtigen Dominikaner und überhaupt eine eifervolle und streitbare Tochter der Kirche, vertrieb sie schon 1275 aus ihrer Stadt Cambridge. Auch ist überliefert, daß sie es sich angelegen sein ließ, den Haß der englischen Kaufleute gegen die jüdischen Konkurrenten zu schüren.

Ein Vorfall, der den Stolz der Kirche aufs tiefste verletzen mußte, hat nicht wenig dazu beigetragen, die Situation für die Juden unhaltbar zu machen. Ein Dominikaner, Robert of Reading, dem Werk der Judenbekehrung leidenschaftlich ergeben, widmete sich dem Studium der hebräischen Schriften, um aus ihnen die Irrtümer der Juden widerlegen zu können. Statt dessen aber geriet er selbst unter den Einfluß der jüdischen Lehre und trat zu ihr über. Er war ein hinreißender Prediger, sein Verlust daher besonders schmerzlich. Der Haß und die Wut der Dominikaner wurden durch diesen Triumph des Judentums, den man übrigens den Reizen einer schönen Jüdin zuschrieb, die Robert of Readings Frau wurde, ins Maßlose aufgestachelt.

Einige Jahre später zirkulierten, im Mittelalter ein üblicher Vorgang, gekippte Münzen im Reich Eduards. Daraufhin wurden alle Juden, Frauen und Kinder nicht ausgeschlossen, eingekerkert. Die Untersuchung entlarvte auch viele christliche Münzverbrecher. Aber 293 Juden wurden als die Alleinschuldigen mit dem Tode bestraft. Das geschah 1278 auf 1279. Der König war klug genug, das Unternehmen gegen die Juden zu durchschauen, und gerecht genug, eine Wiederholung solchen Verfahrens gegen sie wegen angeblicher Münzverbrechen durch ein Gesetz vom Mai 1279 zu verbieten. Aber schon im Monat vorher war die Beschuldigung erhoben worden, die Juden von Northampton hätten am Karfreitag ein Christenkind ermordet. Eine Anzahl Juden mußte es büßen: ihre Leiber wurden von Pferden auseinandergerissen und an den Galgen gehängt. Aber schon war die ganze Judenheit Englands zum Galgen verurteilt. Sie war verloren.

Gerüchte tauchten auf, das Kreuz oder die Mutter Gottes oder die Kirche überhaupt seien von Juden gelästert worden. Wiederum verurteilte der König die »Schuldigen« zum Tode. In dieser gespannten Situation haben sich die Dominikaner im Wettstreit mit den Franziskanern durch Bekehrungspredigten besonders hervorgetan. Natürlich vorwiegend aus Glaubenseifer, daneben aber auch in der Absicht, ihre ungläubigen und unwilligen Zuhörer zu Äußerungen aufzureizen, die als Lästerungen gedeutet werden konnten. Die Juden saßen wieder einmal im danielischen glühenden Ofen. Verderben oder Bekehrung, ein Drittes gab es nicht.

Eduard stiftete, wie auch schon sein Vorgänger Heinrich III., ein »house of converts«, in dem jüdische Täuflinge Unterkunft finden sollten. Er zeigte überhaupt einigen guten Willen, seine jüdischen Steuerzahler vor dem schlimmsten zu bewahren.

Aber der Eifer und öffentliche Einfluß der Dominikaner war nicht mehr zu bändigen. Sie wandten sich an den Papst mit der Beschuldigung, daß die Juden die Christen zum Besuch ihres Gottesdienstes verleiteten, sie veranlaßten, vor den Thorarollen das Knie zu beugen, und sie überhaupt zur Annahme jüdischer Gebräuche zu bewegen versuchten. Der Papst erließ ein Sendschreiben gegen die ihm gemeldeten jüdischen Übergriffe. Im Jahre 1287 brachte eine Kirchenversammlung zu Exeter die kanonischen Bestimmungen gegen die Juden erneut in Erinnerung. Wiederum ließ der König alle Juden verhaften. Diesmal ohne kriminellen Vorwand. Nach Zahlung eines entsprechenden Lösegeldes wurden sie wieder freigelassen. Wahrscheinlich hat die Aufbringung dieser Summe die Leistungsfähigkeit der Juden erschöpft. Sie waren zur Austreibung reif.

Ihre Zahl soll etwa sechzehntausend betragen haben. Ein Teil davon ist der Raublust von Schiffskapitänen zum Opfer gefallen. Die anderen haben sich in alle Welt zerstreut. Sie haben kaum Spuren ihrer englischen Herkunft hinterlassen. Der Erinnerung an sie hängt etwas Schattenhaftes an, etwas Unwirkliches, etwas Gespenstisches.

 

Judenaustreibungen hat es während des Mittelalters und später immer und überall gegeben, aber keine war, von der spanischen abgesehen, so endgültig für Jahrhunderte wie die in England. Meist folgte in den anderen Ländern auf die Austreibung binnen kurzem die Wiederzulassung, wenn nicht gar eine ausdrückliche Rückberufung. Dies hatte natürlich immer wirtschaftliche Gründe. Der Schluß liegt nahe, daß es solche Gründe im mittelalterlichen England nicht gab. Es kommt hinzu, daß die Juden in den Jahrhunderten ihrer Niederlassung von den englischen Königen in einem sogar für das Mittelalter beispiellosen Umfang ausgebeutet und zur Ausbeutung der Untertanen gezwungen worden waren. Sie waren die erbarmungslos behandelten und handelnden Träger des Wuchers in jeder Form.

Die Bewohner der Insel waren, soweit die Geschichte zurückreicht, an Eindringlinge gewöhnt und vollends an solche, denen sie Boden und Macht überlassen, also weichen und sich unterwerfen mußten. Kein Zweifel, daß von diesen geschichtlichen Erlebnissen im Unterbewußtsein des Volkes eine Abneigung gegen fremde, fremdstämmige Zuwanderer zurückgeblieben ist und somit der Wunsch nach Distanzierung und eine Abwehrstellung gegen die Assimilierung der Fremden. Kein Zweifel auch, daß dies auf das Verhalten des Volkes gegen die mit königlichen Privilegien ausgestattete Minorität der Juden abfärben mußte.

Es ist unerläßlich, den Akt der Austreibung auch von der staatspolitischen Situation des damaligen englischen Reiches zu betrachten. Seit Heinrich III. kämpften König und Stände den stillen aber zähen Kampf um die Verteilung der Macht. Heinrich hat im Zusammenhang mit einer rein dynastischen Außenpolitik Verpflichtungen übernommen, die von der Reichsversammlung nicht gut geheißen wurden. Die damals angenommenen »Provisions of Oxford«, vom König beschworen, hatten bereits zur Folge, daß viele Fremde, gleich welchen Volkes und Standes, die Insel verlassen mußten. Schon dies war eine Art von Austreibung, der Versuch einer Reinigung des Staates von fremden Elementen und Einflüssen.

Das England des dreizehnten Jahrhunderts bemühte sich um eine zunehmend konstitutionelle Ordnung der Finanzrechte im königlichen Parlament. Die Juden, ganz der Willkür der Krone ausgeliefert, waren ein Element der Unordnung. Sie in den ständischen Aufbau einzugliedern, dazu war die Zeit nicht reif. Somit empfahl sich ihre Ausgliederung. Ohnedies begann damals die erste Blüte des englischen Handels, und in London mehrten sich die Niederlassungen ausländischer Handelsgesellschaften. Dies mußte das Gefühl entstehen und wachsen lassen, daß die Juden überzählig waren. Sie waren Geldgeber und Pfandleiher, auch Güter- und Metallhändler. Kein Wunder, daß der Haß und der Druck gegen sie von allen Seiten sich verstärkten und radikale Maßnahmen provozierten. Schon nach der Rückkehr von seinem Kreuzzug ließ König Eduard die kanonischen Bestimmungen gegen das Zinsnehmen durch das Parlament auf die Juden ausdehnen (1275). Damit war ihrer Existenz als gewerbsmäßige Geldgeber der Boden entzogen. Sie waren überflüssig geworden.

Das Religiöse kam hinzu. England war, seit der Ankunft des päpstlichen Missionars Augustinus, nicht nur ein streng christliches, sondern auch ein streng papistisches Land geworden, ein mächtiger Vorposten der Kirche im europäischen Nordwesten, dessen Sendlinge den nördlichen und zentralen Teil des Kontinents christianisierten. Notwendig mußte die religiöse Spannung zwischen diesem militanten Christentum und den Andersgläubigen scharf und explosiv sein.

Im Zusammenhang damit ist es nicht unangebracht, daran zu erinnern, daß das der Austreibung folgende Jahrhundert sowohl wirtschaftlich wie religiös zu Spannungen und Explosionen führte, die den ersten folgenschweren Einbruch sowohl in das feudalistisch-wirtschaftliche wie in das hierarchisch-kirchliche System darstellten: Wycliffe, der Reformer, trat auf, und es war noch kein volles Jahrhundert seit der Austreibung der Juden vergangen, als die Bauern aufstanden, die Lollarden predigten und eine erste europäische Auseinandersetzung zwischen Freiheit und Knechtung in jedem Sinn sich vollzog. Hätten die Juden jene zweite Hälfte des vierzehnten Jahrhunderts im England Eduards III. und Richards II. erlebt, so wären sie wahrscheinlich die Sündenböcke in jener blutigen Auseinandersetzung geworden.

 

Es erging den Juden in England »mittelalterlicher« als irgendwo sonst, und sie waren wohl auch in ihrem inneren und äußeren Leben so tief vereinsamt, daß der mittelalterliche Geist unbeschränkte Macht über sie hatte: der Herrengeist über die Reichen und der Sklaven- und Knechtsgeist über die Armen. Die Anziehungs- und Abstoßungs-Momente überlagerten sich zweifellos. Das Bild des mittelalterlichen Juden in England muß, inmitten der wirtschaftlichen und politischen Wirren der Insel, wie ein Symbol der Fremdheit gewirkt haben.

Dieser Exzeß des mittelalterlichen Judendaseins hat seine Opfer für den Blick des Inselvolks ins Gespenstische verzerrt, ins Widergöttliche und Antichristliche, ins Teuflische und Höllische. Der Haß gegen die Herren lud sich auf die Juden ab und ebenso das Mißtrauen und der Eifer der Kirchlichen gegen alles Un- und Außerkirchliche.

Es ist daher nicht zu verwundern, daß der englische Boden Judenmythen aufwachsen ließ, daß die aufgescheuchte Phantasie das Unheilige und Unheilvolle zur Legende geformt hat. In England war es, wo die erste Ritualmordbeschuldigung gegen die Juden erhoben wurde. Im Jahre 1144 sollen sie in Norwich, im Herzen Englands, einen Knaben William gekreuzigt haben, an dessen Grab viele Wunder geschehen sein sollen.

Die Entstehungszeit dieser Legende war eine der unglücklichsten Epochen der englischen Geschichte. Damals, von 1135 bis 1154, hat König Stephan regiert, ein Usurpator auf dem englischen Thron. Er lag im Krieg mit dessen rechtmäßiger Erbin, mit den Großen des Reichs und mit den Schotten. Er war der Sieger in der »Standarten-Schlacht«, die ihren Namen daher hat, daß Stephans Heer in seiner Mitte auf einem Wagen einen Schiffsmast aufgerichtet hatte, an dessen Spitze die Wimpel von drei berühmten englischen Kirchen befestigt waren. Dies beweist, welche Rolle damals das Kirchliche gespielt hat. Nichtsdestoweniger kämpfte Stephan auch gegen die geistlichen Herren, die es unter seiner Regierung, gleich den weltlichen Großen, für nötig hielten, ihre Herrensitze zu befestigen. Es war ein Wirrwarr von Kämpfen von Burg zu Burg, zwischen den Städten und dem Adel und zwischen diesem und der Krone. Der König hatte Söldner aus Flandern angeworben, die Freund und Feind schwer heimsuchten.

Ein Chroniken-Schreiber berichtet: »Die weltlichen Herren besetzten ihre Burgen mit teuflischem Volk und bedrückten Bürger und Bauern, und peinigten jedermann, um Geld zu erpressen. Sie brandschatzten Städte und zündeten sie nachher an. Man konnte einen ganzen Tag lang reisen, ohne eine Seele zu finden. Die Städte waren verlassen, die Felder ohne Bebauung. Nie hat ein Land größeres Elend gelitten. Sah man in einer Stadt zwei oder drei Reiter aus der Ferne herankommen, so machten sich die Bewohner aus Furcht vor Räubern davon … die Leute behaupteten öffentlich, daß Christus und seine Heiligen schliefen.«

Der Bauern und Bürger bemächtigte sich eine apokalyptische Stimmung. Erwachsene und Kinder verschwanden – man wußte nicht, wohin. Also riet man auf die Juden als Mörder, da sie als gnadenlos und als Kreaturen des Teufels galten. So mag, so muß wohl die erste Ritualmordlegende entstanden sein, die rasch andere nach sich zog. Im gleichen Jahrhundert tauchte sie in Gloucester, St. Edmundsbury und Winchester auf. Sie ist nach Frankreich hinübergewandert und von da über den ganzen Kontinent. Das Gift wurde wie eine Medizin hingenommen, denn es schuf neue Heilige. Es ging in den Glauben und in die Gläubigkeit ein. Beweise waren ohne Belang. Glaube hat nichts mit Glaubhaftigkeit zu tun.

Etwa ein Jahrhundert nach der Ritualmordlegende tritt zuerst in England die Kunde von einer Figur auf, die seitdem wahrhaft figürlich für das Judentum geworden ist: der »Wandering Jew«, der nachmalige Ewige Jude – Ahasver. Roger of Wendover, ein Mönch der Abtei St. Albans, berichtet in seinen »Flores Historiarum« (1235), ein Erzbischof von Armenien habe einige Jahre vorher das Kloster besucht und von jenem Cartaphilus, Türhüter des Pontius Pilatus, erzählt, den der Fluch des von ihm mißhandelten Heilands zum ewigen Leben und Wandern verdammt habe und der nun, Christ geworden, als frommer Einsiedler in Armenien lebe. Matthew Paris, Schüler und Nachfolger von Roger of Wendover und der bedeutendste englische Chronikenschreiber jenes Jahrhunderts, hat die Geschichte übernommen. Sie ging alsbald in französische und belgische Chroniken über, auch in ein italienisches Gedicht des gleichen Jahrhunderts und durchwandert von nun an die Zeiten.

Die Geschichtlichkeit des geistlichen Berichterstatters aus dem Orient, der übrigens auch erzählt haben soll, in seiner Diözese seien auf einem Berg die Überreste der Arche Noahs zu sehen, ist natürlich nicht zu erweisen. Daher ist es möglich und sogar wahrscheinlich, daß die Figur des Wandernden Juden in England selbst entstanden ist. Ihr Auftauchen fällt in die Regierungszeit Heinrichs III. (1216-1272), dessen furchtbare Ausbeutermethoden die englischen Juden zum ersten Male veranlaßt haben, um die Erlaubnis zur Auswanderung zu bitten. Sie waren damals innerhalb des Königreichs – aufgescheucht und verfolgt, mißhandelt und am Leben bedroht – in unaufhörlicher Bewegung, wahrhafte »Wandering Jews«!

In die Mythen und frühesten Dichtungen aller Völker ist die Erinnerung an Menschen, Schichten oder Stämme eingestreut, die sich der Gemeinschaft neu eingefügt oder sich von ihr durch Wanderung getrennt haben; das deutsche Nibelungenlied etwa bezeugt solche Erinnerungen. Auch die Ausweisung der Juden aus England hat ihre Spuren der Erinnerung im Volk hinterlassen. Die Ausgetriebenen haben im Leben des Volkes weiter ihr Spiel getrieben. Mythen von den Andersartigen und Fremden, besonders nachhaltig bei einem Inselvolk, sind nicht nur geblieben, sondern haben sich, durch keine Realität kontrolliert, erst recht befestigt und vor allem vergrößert. Judenschicksal und Judenart sind auf der Insel »saga« geworden, mythologische Nachrede aus nekrologischer und nekromantischer Phantasie heraus.

Unter anderem haben sich in den der Ausweisung folgenden Jahrhunderten und teilweise bis in die Gegenwart eine Reihe von sprachlichen Erinnerungen an die Juden erhalten – so etwa »Jew's ear«, Judenohr, oder »worth a Jew's eye«, soviel wert wie ein Judenauge, nämlich nichts – in Erinnerung daran, daß den Juden mit Verstümmelung gedroht wurde (und nicht nur gedroht), wenn sie die ihnen auferlegten Geldtribute nicht zahlten. Auch sonst gebraucht die englische Sprache das Wort »Jew« sowohl als Haupt- wie auch als Tätigkeitswort, um einen Wucherer oder einen Ungläubigen oder deren Handlungen zu bezeichnen. Davon sind auch bei Shakespeare einige Spuren zu finden.

In der mittelalterlichen Literatur Englands hat sich die Erinnerung an die vertriebenen Juden so schroff wie nur möglich ausgewirkt. Im vierzehnten Jahrhundert hat kein Geringerer als Geoffrey Chaucer, den man den »Vater der englischen Literatur« und den »Morgenstern der englischen Dichtung« nennt, der Ritualmordlegende ein weithin wirksames literarisches Denkmal gesetzt. In seinem Hauptwerk, den »Canterbury Tales«, läßt er eine Gesellschaft von Wallfahrern nach Canterbury sich in der Herberge zum »Heroldsrock« zusammenfinden und die Verabredung treffen, daß jeder, während sie gemeinsam ihrem heiligen Ziel zureiten, eine Geschichte erzählen soll, um den Weg zu verkürzen.

Chaucer (1340-1400), ein in Italien und anderen Ländern gereister Mann, folgt in dieser Rahmenerzählung dem Vorbild des Decamerone, dem sie auch darin gleicht, daß die vorgetragenen Geschichten an Derbheit und Frivolität nichts zu wünschen übrig lassen. Eine, von der Priorin erzählt, durchbricht die Reihe der gepfefferten Abenteuer und behandelt einen von Juden aus religiösen Gründen verübten Kindermord.

Da es sich um das neben und vor Shakespeares »Kaufmann von Venedig« bedeutendste Werk der englischen Literatur handelt, das sich mit den Juden befaßt und da sich in ihm die Erinnerung an das vertriebene Volk bezeichnend und bedeutend widerspiegelt, fügen wir hier die Erzählung der Priorin ein (Übersetzung von Wilhelm Hertzberg, Hildburghausen, 1866):

In Asien war einst ein großer Ort,
Es wohnten unter Christen Juden drin,
Der Landesherr erhielt sie selber dort,
Aus schnöder Sucht nach schändlichem Gewinn;
Sie haßten Christi Volk in ihrem Sinn. Dieser Vers ist falsch übersetzt. Im Urtext geht es nicht um den Haß der Juden gegen die Christen, sondern um die Sünden des Landesherrn, die Christus und seiner Kirche verhaßt sind.
Man konnt' durch ihre Straßen gehen und reiten,
Die frei und offen war an beiden Seiten.

Und unten am entfernt'sten Ende stand
Ein kleines Schulhaus, wo sich eine Schar
Von Christenkindern stets zusammenfand.
Sie lernten in der Schule Jahr für Jahr,
Was dort zu lernen Landessitte war,
Singen und Lesen; so wie allerwegen
In solchem Alter kleine Kinder pflegen.

Ein Witwensohn war unter ihnen auch
(Ein Schülerchen, erst sieben Jahre alt),
Der Tag für Tag nach seinem steten Brauch
Zur Schule ging, und wo er die Gestalt
Der Mutter Gottes sah, aufs Knie alsbald
Sich niederließ, ›Ave Maria‹ sang
Und ruhig dann fortsetzte seinen Gang.

So lernte durch der Mutter Unterricht
Das Söhnlein, Christi Mutter zu verehren,
Die Segensreiche; er vergaß es nicht,
Unschuldige Kinder lassen leicht sich lehren.
Ich kann mich nicht dabei des Bilds erwehren
Vom heiligen Nikolas, der auch so jung
Schon Christo brachte seine Huldigung.

Und als das Kind saß auf der Schule Bank,
Aus seinem Büchlein still zu buchstabieren
Und hörte, wie man ›Alma Mater‹ sang –
Die Kinder lernten grad antiphonieren –
Da hat es, nah und näher rückend, ihren
Textworten und der Weise aufgepaßt,
Bis es den ersten Vers im Kopf gefaßt.

Nicht wußt' er, was bedeutet das Latein,
Da er so jung und zart von Alter war,
Doch bat er einstmals die Gesellen sein,
Daß sie des Liedes Sinn ihm machten klar
Sowie, weshalb es im Gebrauche war;
Bat sie auf bloßen Knien, ihn zu belehren,
Zu übersetzen es und zu erklären.

Und sein Gesell, der älter war als er,
Sagt: ›Wie ich hörte, ist das Lied ersehn,
Um unsere heilige Jungfrau hold und hehr
Zu grüßen und um Hilfe anzuflehen,
Daß sie im Tod uns würdige beizustehen.
Mehr kann ich Dir nicht von der Sache sagen;
Ich bin in der Grammatik schwach beschlagen.‹

›Und ist dann der Gesang gemacht zum Preis
Der Mutter Gottes‹ sprach die fromme Seele,
›So will ich drauf verwenden allen Fleiß,
Vor Weihnacht es zu können sonder Fehle,
Ob man mich auch um meine Fibel schmäle:
Wenn sie mich dreimal in der Stunde schlagen,
Ich will's der Lieben Frau zu Ehren tragen.‹

Und sein Gesell prägt heimlich ihm zu Haus
Es täglich ein, bis nichts ihm mehr entfallen.
Dann sang er frei und keck das Lied heraus
Von Wort zu Wort mit seinen Noten allen.
Zweimal an jedem Tag ließ er's erschallen,
Wenn er zur Schul' und wenn nach Haus er ging,
Sein ganzes Herz an Christi Mutter hing.

Wenn, wie gesagt, dann durch die Judenstadt
Der Knabe hin und her nahm seinen Gang,
So ward er nie des munteren Liedes satt:
›O Alma Redemptoris‹ war sein Sang.
Die süße Liebe so sein Herz durchdrang
Zu Christi Mutter, daß zu ihr zu flehen
Sein Lied nie abließ, wo er mochte gehen.

Und unser Erzfeind, Drache Satanas,
Dess' Wespen nisten in der Juden Brust,
Schwoll auf und sprach: ›Hebräer Volk! ist das
Ein Schimpf, den du ertragen kannst und mußt,
Daß solch ein Knabe ganz nach Herzenslust
Hingeht und sich zu singen darf erlauben,
Wodurch verhöhnt wird unser heil'ger Glauben?‹

Die Juden sind drauf übereingekommen
Zu dieses unschuldvollen Kindes Mord.
Sie haben einen Mörder angenommen,
Der stand an einer Gasse dunklem Ort,
Packt, als das Kind vorbei ging, es sofort
Und hielt es fest; dann schnitt der jüd'sche Bube
Den Hals ihm ab und warf's in eine Grube.

Sie warfen, sag ich, ihn in ein Gemach,
Wo sie der Reinigung des Leibes pflegen.
Oh ruchlos Volk, du ahmst Herodes nach
Noch heut'; und bringt die deine Bosheit Segen?
Der Mord kommt doch heraus; nichts hilft dagegen.
Zumal um Gottes Ehre zu verbreiten,
Schreit laut das Blut ob eurer Schändlichkeiten.

O Märtyrer, du in Jungfräulichkeit
Gefestigt sing und geh zu jeder Frist
Jetzt in des weißen Himmelslamms Geleit,
Von dem Johannes, der Evangelist,
In Patmos schrieb: ›Wer im Gefolge ist
Des weißen Lamms und singt ein neues Lied,
Den reizt kein fleischlich Weib, wo er's auch sieht.‹

Die arme Witwe harrt die ganze Nacht
Auf ihren Kleinen; doch blieb stets er fort,
Und angstvoll sucht sie, als der Tag erwacht,
Mit schreckensbleichem Antlitz hier und dort
Ihn in der ganzen Schule und im ganzen Ort,
Bis durch Erspäh'n sie soviel festgesetzt:
Man sah ihn in der Judenstadt zuletzt.

Die Brust erfüllt mit mütterlichem Leid,
Geht sie, wie halb um den Verstand gebracht,
An jeden Platz, wo sie die Möglichkeit,
Ihr Kindlein aufzufinden sich gedacht.
Und zu der Gottesmutter Huld und Macht
Fleht sie empor, bis es zuletzt so kam,
Daß sie den Weg zum Judenviertel nahm.

Sie fleht und fragt mit ängstlichem Verlangen
Bei jedes Juden Haus auf ihrem Pfade
Um Auskunft, ob ihr Kind vorbeigegangen.
Sie sagten nein, doch gab ihr Jesus' Gnade
Es in den Sinn, nahe dem Platze gerade
Nach ihrem Sohn die Stimme zu erheben,
Wo man ihn in die Grube warf daneben.

O großer Gott, zum Herold deines Ruhmes
Machst du der Unschuld Mund. Sieh deine Macht!
Der glänzende Rubin des Märtyrtumes,
Der Keuschheit edler Demant und Smaragd,
Wie er zerschnitt'nen Halses lag im Schaff,
Hat ›Alma Redemptoris‹ er gesungen.
So laut, daß ringsherum der Platz erklungen.

Die Christen all, die durch die Straße gingen,
Sie standen still und wunderten sich sehr.
Sie schickten zum Profoß vor allen Dingen.
Der kam auch sonder Weile gleich daher,
Pries Jesus Christ, den Himmelskönig hehr
Und seine Mutter, sie, der Menschheit Segen,
Und ließ die Juden gleich in Fesseln legen.

Man hob den Knaben auf mit Klaggeschrei,
Der immerfort sein Lied noch sang, und trug
Ihn fort zu der benachbarten Abtei
In ehrenvollem feierlichem Zug.
Ohnmächtig an der Bahre niederschlug
Die Mutter; kaum wollt's dem Volk gelingen
Die zweite Rahel von ihm fortzubringen.

Und schmachvoll unter Martern ließ sofort
Nun der Profoß zum Tod die Juden führen,
So viele wußten um den Mord.
Nichts konnte bei der Freveltat ihn rühren:
Wer Böses tut, soll böse Folgen spüren.
Sie wurden erst geschleift von wilden Pferden,
Um dann nach dem Gesetz gehängt zu werden.

Solang die Messe währt, steht am Altar
Die Bahre offen mit dem frommen Knaben;
Worauf der Abt mit seiner Mönche Schar
Sich eilig anschickt, um ihn zu begraben.
Und als sie ihm die heil'ge Sprengung gaben,
Vernahm man, wie das Kind mit lautem Klang
›O Alma Redemptoris‹ wieder sang.

Der Abt, ein heiliger Mann, wie Mönche sind,
Und, sind sie's nicht, sein sollten sicherlich,
Fing zu beschwören an das kleine Kind
Und sprach: ›O holdes Kind, ich bitte dich
Beim heiligen dreieinigen Gotte, sprich:
Wie kannst du singen, da die Kehle dein
Zerschnitten ist nach allem Augenschein?‹

›Der Hals ist bis zum Wirbel mir zerschnitten,
Und ging es mir, wie's anderen Wesen geht,
So hätt ich lange schon den Tod erlitten.
Doch Jesus Christus, wie geschrieben steht,
Will, daß sein Ruhm in Ewigkeit besteht.
Um seiner Mutter Huldigung zu bringen,
Kann ich noch laut und klar ›O Alma‹ singen.

Die Mutter Gottes, sie, der Gnaden Quelle,
Liebt' ich nach Kräften all mein Leben lang,
Und als ich stand an meines Lebens Schwelle,
Da kam sie und gebot mir, den Gesang
Noch anzustimmen auf dem Todesgang,
Wie ihr gehört: ich sang; da war es schier,
Als legt' ein Korn sie auf die Zunge mir.

So sing ich denn solange noch bestimmt
Zum Preis der Jungfrau hehr und gnadenreich,
Bis man das Korn mir von der Zunge nimmt.
Und weiter sprach sie zu mir noch sogleich:
›Mein Kindlein, dann nehm' ich dich in mein Reich,
Wenn man das Korn nimmt von der Zunge dein.
Erschreck dich nicht, ich will dein Beistand sein.‹

Der heilige Mönch, der Abt, zog ihm darauf
Die Zung heraus und nahm ihm aus dem Mund
Das Korn; da gab den Geist das Knäblein auf.
Und als dem Abt dies Wunder wurde kund,
Da floß manch' salzige Träne auf den Grund;
Platt fällt er selbst zu Boden hin und rührt
Kein Glied und liegt so fest wie angeschnürt.

Die Mönch' auch lagen auf dem Esterich,
Weinten und brachten Lob der Jungfrau dar.
Und bald darauf erhoben alle sich,
Nahmen den Märtyrer von seiner Bahr',
Und in ein Grab von Marmor weiß und klar
Versenkten Sie die kleine, zarte Leiche.
Gott führ uns dort zu ihm in seinem Reiche!

O junger Hugh von Lincoln, du auch bist
Von den verruchten Juden, wie bekannt,
Erschlagen worden erst vor kurzer Frist.
Bitte für uns, die wir voll Unverstand
Und Sünde sind, daß Gottes gnädige Hand
Zu uns noch möge seine Gnade mehren,
Weil wir Maria, seine Mutter, ehren.

Kein Zweifel – dieses Gedicht ist von einer echten, tiefen Frömmigkeit getragen, die sich auch darin äußert, daß der Mord an dem Knaben nicht etwa dem Ritual der Juden zugeschrieben wird, sondern ihrer Intoleranz gegenüber dem Christentum und ihrer Besessenheit vom Teufel. Der abscheuliche Vorgang – abscheulich bis zu dem Ort, an dem die Leiche verborgen wird – spielt in einer legendär-frommen Atmosphäre und das Gedicht ist nicht dazu bestimmt, die Juden zu verfluchen, sondern vielmehr den Ruhm der Mutter Gottes und der Kirche zu preisen. Es ist eine echte Legendendichtung, in gnadenvolle Stimmung und in himmlisches Licht getaucht.

Um so grauenvoller heben sich natürlich Tat und Gesinnung der Juden ab. Darin spricht sich, so naiv wie die Frömmigkeit, der mittelalterliche Abscheu gegen das Judentum aus. Das dichterische Bild ist vollkommen. Es ist von dokumentarischem Wert für die Geschichte der Juden in England.

Ungeschichtlich ist die Verlegung des Schauplatzes in den Orient, dem die Ritualmordbeschuldigung gegen die Juden fremd war. Aber diese Verlegung dient dazu, den Legendencharakter zu vertiefen. Dabei ist die Parallele nicht zu übersehen, daß der Mönch von St. Albans den Bericht über den »Wandering Jew« ebenfalls aus Asien kommen läßt. Chaucer hinwiederum hebt die Entrückung des Vorgangs in einen legendär-morgenländischen Schauplatz auf, indem er zum Schluß den Fall des Knaben Hugh von Lincoln erwähnt, der ihm in Wirklichkeit den Stoff zu seinem Gedicht geliefert hat.

In Lincoln ist nach der Überlieferung im Jahre 1255 die Leiche des achtjährigen, nachmaligen »Little St. Hugh of Lincoln«, mit Kot bedeckt, in der Dunggrube eines Juden gefunden worden. Der Knabe war der Sohn einer Witwe namens Beatrice. Sein unaufgeklärter Tod wurde den Juden zugeschrieben, von denen eine ganze Anzahl gemartert und hingerichtet wurde. Der Dichter hat die zeitliche Entfernung in eine räumliche übertragen, um das Wunder – auch mit der Leiche des kleinen Hugh sind mirakelhafte Vorgänge verbunden – frei ausschmücken zu können.

Noch eine realistische Stelle der Erzählung spielt unverkennbar auf das englische Judendasein an. »Der Landesherr erhielt sie selber dort aus schnöder Sucht nach schändlichem Gewinn« – das spielt auf die englischen Könige an, die sich den Judenschutz von ihren Schützlingen teuer haben bezahlen lassen.

Die Erzählung der frommen Priorin ist natürlich auch dadurch bezeichnend, daß sie einer geistlichen Oberin in den Mund gelegt ist und daß – ein typischer Vorgang – das kirchliche Bedürfnis nach neuen Heiligen und Märtyrern sich verquickt mit dem Bedürfnis nach Diffamierung der Juden. Insgesamt: Chaucer hat das klassische dichterische Dokument der Ritualmordlegende geschaffen, der Dichter eines Landes, aus dem die Juden bereits ein halbes Jahrhundert und länger vertrieben waren. Der Mythos war geblieben und ist in der nationalen Dichtung neu aufgeblüht.

In leicht erkennbarer stofflicher Übereinstimmung mit Chaucer behandelt eine schottische Ballade »The Jew's daughter« (Thomas Percy: Reliques of Ancient English Poetry) die Anklage gegen die Juden. Herder hat das Gedicht frei ins Deutsche übertragen und mit Recht die Bemerkung beigefügt, der Mord- und Nachtklang des Originals sei fast unübersetzbar. Auch dieses folkloristisch wichtige Dokument der Volkspoesie sei hier wiedergegeben.

Die Judentochter

Der Regen, er rinnt durch Mirrilandstadt,
Rinnt ab und nieden den Po!
So tun die Knaben in Mirrilandstadt,
Zum Ballspiel rennen sie so.

Da 'naus und kam die Judentochter
Sprach: »Willst du nicht kommen hinein?« –
»Ich will nicht kommen, ich kann nicht kommen
Von allen Gespielen mein.«

Sie schält einen Apfel, war rot und weiß,
Zu locken den Knaben hinan.
Sie schält einen Apfel, war weiß und rot,
Das süße Kind er gewann.

Und aus und zog sie ein spitzig Mess'r,
Sie hatt's versteckt beiher;
Sie stach's dem jungen Knaben ins Herz,
Kein Wort sprach nimmer er mehr.

Und aus und kam das dick dick Blut,
Und aus und kam es so dünn,
Und aus und kam's Kinds Herzensblut,
Da war kein Leben mehr in.

Sie legt ihn auf ein Schlachtbrett hin,
Schlacht't ihn ein Christenschwein,
Sprach lachend: »Geh und spiele nun da
Mit allen Gespielen dein!«

Sie rollt ihn in ein'n Kasten Blei;
»Nun schlaf da!« lachend sie rief;
Sie warf ihn in einen tiefen Brunn',
War funfzig Faden tief.

Als Betglock klang und die Nacht eindrang,
Jede Mutter nun kam daheim;
Jede Mutter hat ihren herzlieben Sohn,
Nur Mutter Anne hat kein'n.

Sie rollt ihren Mantel um sich her,
Fing an zu weinen sehr,
Sie rann so schnell ins Judenkastell,
Wo keiner ach! wachte mehr;

»Mein liebster Hönne, mein guter Hönne,
Wo bist du? Antwort mir!«
»O Mutter, o renn zum Ziehbrunn tief!
Euern Sohn da findet ihr.«

Mutter Anne rann zum tiefen Brunn,
Sie fiel danieder aufs Knie!
»Mein liebster Hönne, mein guter Hönne,
O antwort, bis du hier?«

»Der Brunn ist wunder tief, o Mutter,
Der Bleikast wunder schwer;
Ein scharf spitz Messer geht durch mein Herz;
Kein Wort sprech nimmer ich mehr.

Geh heim, geh heim meine Mutter teur,
Mach mir mein Leichenkleid,
Daheim, da hinter Mirrilandstadt
Komm ich an eure Seit'.«

In der Ballade tritt die Grauenhaftigkeit des Mordes in den Vordergrund. Das Mirakel, der Ruf des toten Knaben aus dem Brunnen ist nur noch Zutat. Das Gespenstische wird dadurch gesteigert, daß die Tat von einer »Judentochter«, von einem Mädchen, verübt wird. In die Gestalt und in das Verhalten der Jüdin mischt sich etwas von jener menschenopfernden Wildheit, die aus Urzeiten her noch auf der Insel weiterlebt. Die jüdische Mörderin wirkt heidnisch, nicht jüdisch. Sie ist, ihrem innersten Befund nach, eine Hexe …

 

Die Erinnerung an die Juden, die in England die fehlende reale Anschauung ersetzen mußte, hatte sich von jeder Wirklichkeit entfernt. Sie ist rein mythologisch geworden. Die Zeit hat auch den letzten Rest von Realität des Judenbildes verzehrt. Ein paar Namen von Straßen, Plätzen und Landschaften, ein paar Worte, waren das einzige, was an das historische Dasein der Juden erinnerte. Das übrige war Phantasmagorie, in die sich die Überlieferungen aufgelöst haben, phantasmagorische Diffamierung und Verzerrung des Überlieferungsstoffes ins Hausbackene wie ins schreckhaft Unmenschliche.

Auch in den englischen Mirakelspielen waren die Stoffe mit Vorliebe dem Alten Testament entnommen, dessen Geschichten, Situationen und Figuren an kräftiger, dem volkstümlichen Geschmack entsprechender Realistik überreich sind. Von Adam bis Esther sind die biblischen Mythen und Figuren über die Mysterienbühne geschritten. Aber in der kurzschlüssigen Anschauung der damaligen Zuhörer hatte das »Volk Israel« mit den Juden überhaupt nichts zu tun. Israel stellte sich im frommen, das Judentum im unfrommen Mythos dar.

So ist es bis in die Zeit Elisabeths und Shakespeares geblieben. Im Laufe des sechzehnten Jahrhunderts aber hat sich der geschichtliche Befund des europäischen Judentums auch für England geändert. Nicht so sehr infolge des durch die Reformation und den Humanismus veränderten Weltbildes, als vielmehr durch eine neue über das Judentum hereingebrochene Katastrophe: die spanisch-portugiesische Austreibung der Juden.

In ihr gipfelt, nach den Jahrhunderten der Kreuzzüge und der Pest, das mittelalterliche Schicksal des europäischen Judentums. Aus ihr gewinnen das Bild des Juden und der Mythos vom Juden neue Farben.


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