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Die Figur

Der Jude war ein Fremdling in England, ein Fremdling auch in der englischen Literatur des sechzehnten Jahrhunderts. Der Seltenheit seines Auftretens im englischen Leben entspricht die Seltenheit seines Auftretens in der Literatur und auf der Bühne. Er wird, von den bereits erwähnten Fällen abgesehen, nur noch da und dort als Neben- und Chargenfigur gezeigt. Bald ist Italien, wie in dem lateinisch überlieferten Stück »Macchiavellus« eines unbekannten Autors, bald die Türkei, wie in einem Stück »Selimus« (manchmal dem bekannten Bühnenautor Robert Greene zugeschrieben) der Schauplatz seines Auftretens. Dieser »Selimus« ist ein paar Jahre vor dem »Kaufmann von Venedig« entstanden, »Macchiavellus« einige Jahre später. Zu Beginn des neuen Jahrhunderts gibt es dann noch einige weitere Judenfiguren im englischen Drama, aber sie sind entweder nach dem Rezept des Shylock gearbeitet, oder sie bleiben farblos. Es lohnt nicht die Mühe, diese schon konventionell gewordenen Figuren neben die Shakespeares zu stellen. Es mischt sich in ihnen Abenteuerliches, Anstößiges und Abstoßendes, ohne zu überzeugenden Menschenbildern zusammenzuwachsen.

Dies aber ist die Dämonie der Shylockfigur, daß in ihr Jahrhunderte alte Erinnerungs- und Vorstellungsreihen auf eine realistische Ebene gehoben werden, daß in sie das Licht einer scharf umrissenen Gestalt einbricht. Shylock ist in einem romantischen Schauspiel eine realistische Figur, die einzige, die von der Romantik der Gefühle und des fröhlichen Wohllebens unberührt bleibt. Er ist eben der Fremde. Er ist eben der Jude. Um dies zu realisieren, hat Shakespeare die ganze dichterische Präzisionsarbeit geleistet, zu der nur ein Genie seines Grades fähig war. Man kann die Hammerschläge dieser Arbeit Szene für Szene verfolgen. Wie entsteht der Jude?

Schon wie ihn der Dichter ins Stück einführt, ist monumental: »Dreitausend Dukaten – gut«. Dann: »Auf drei Monate – gut«, weiter »Antonio Bürge sein soll – gut«. Und zusammenfassend: »Dreitausend Dukaten, auf drei Monate, und Antonio Bürge«. Shylock ist mit diesen Satzfetzen das Echo Bassanios, das geschäftsmäßig notierende Echo. Die ersten Worte nennen eine Zahl, eine Summe. Im Zeichen der Zahl und des Geldes wird Shylock auf die Bühne geführt. Das soll sein Innerstes nach außen kehren. Es soll den rechnenden, händlerischen, vertrags- und geschäftskundigen Juden kennzeichnen.

Gleich darauf kritisiert er die »Bonität« des Bürgen Antonio: »Seine Mittel stehen auf Hoffnung … Schiffe sind nur Bretter, Matrosen sind nur Menschen; es gibt Landratten und Wasserratten, Landdiebe und Wasserdiebe … und dann haben wir die Gefahr von Wind, Wellen und Klippen.« Damit zieht er einen dicken Trennungsstrich zwischen sein unromantisches Gewerbe des Geldverleihens und das romantische des Großreeders Antonio. Shakespeare braucht den Kommentar dazu nicht Wort werden zu lassen: der jüdische Kaufmann wagt nichts, der christliche alles! Und wie fremd und befremdend mag die Entromantisierung der Schiffahrt durch Shylock auf die damaligen Engländer gewirkt haben, da sie gerade in dem ersten Rausch ihrer Herrschaft über die Meere gelebt haben! Shylock, der rauschlose Nüchterne, bittet sich Bedenkzeit aus, ob er den reichen Antonio als Bürgen akzeptieren soll.

Eine Einladung Bassanios, Shylock möge mit ihm und seinen Freunden essen, gibt diesem Anlaß, die Kluft zwischen sich und den Christen noch deutlicher, gleichsam noch intimer zu machen: »Ich will mit euch handeln und wandeln, mit euch stehen und gehen, und was dergleichen mehr ist; aber ich will nicht mit euch essen, mit euch trinken, noch mit euch beten.«

Die jüdischen Speisegebote haben schon in der Antike Anlaß zu Mißtrauen gegeben und zur Verachtung der Juden durch die Heiden wesentlich beigetragen. Eine sehr banale und wenigstens scheinbar logische Schlußfolgerung spielt dabei mit: wer nicht mit mir ißt, der kann nicht mein Freund sein. Auch die frühe christliche Welt hat bereits aus der Weigerung der Juden, mit den Andersgläubigen zu essen, judenfeindliche Konsequenzen gezogen. Durch fränkische Konzilbeschlüsse und Erlasse geistlicher Oberen wurde den Christen verboten, bei Juden zu essen, da diese ja auch nicht bei ihnen zu essen bereit wären. Daß die Hebräer zudem das Schweinefleisch verabscheuten, das bei den europäischen Völkern des Nordens ein Symbol der Sättigung und des Wohllebens war, war vollends »anrüchig«. Lanzelot Gobbo, Shylocks Diener, macht allerhand witzige Bemerkungen über diesen dankbaren Gegenstand. Und Shylock selbst sagt, wiederum zu Bassanios Einladung: »Ja, um Schinken zu riechen, von der Behausung zu essen, wo euer Prophet, der Nazarener, den Teufel hineinbeschwor.«

So wird in wenigen Augenblicken, noch bevor Antonio die Bühne betreten hat, der Jude und das Jüdische mit einer sich überstürzenden Realistik belegt. Antonio erscheint – und sogleich fällt das Wort: »Ich hass' ihn, weil er von den Christen ist.« Damit wird zur Fremdheit die Feindschaft zwischen Jude und Christ hinzugefügt – eine Steigerung. Schuld an der Feindschaft ist, nach der mittelalterlichen Anschauung, der dem Juden eingeborene Christenhaß. Davon, wie Antonio gegen Shylock fühlt und handelt, ist erst später in der Unterhaltung die Rede. Diese erste Szene ist ein genialer Wurf. Sie kreist Shylock aus der menschlichen, aus der christlichen Gesellschaft aus, als ob er auf einen anderen Planeten gehörte.

Aus dieser anderen Welt klingt alles herüber, was Shylock nachher sagt und vorschlägt. Und Antonio weiß ihm nichts Schmeichelhafteres nachzureden als: »Der Hebräer wird noch ein Christ, er wendet sich zur Güte.« Denn – ein Jude kann nicht gütig sein! Darum ahnt Bassanio Schlimmes: »Ich mag nicht Freundlichkeit bei tückischem Gemüte.«

Der Jude ist nun von der Bühne verschwunden. Aber ein plastisches Bild von ihm ist ins Leben der Dichtung getreten. Er ist durch die eine Szene neu rezipiert: aus dem tatsächlichen Exil nach London zurückgeholt, aber in ein um so schlimmeres seelisches Exil hineingestoßen.

Was folgt, ist fast nur noch Kommentar oder Folgerung oder Steigerung oder Übertreibung. Übertreibung zumal ist, was der witzige Lanzelot über Shylock sagt, und noch mehr, was seine Tochter Jessica ihm antut und wie er darauf reagiert. Sein Mangel an Liebe zu ihr und ihr noch größerer Mangel an Liebe zum Vater – das ist vielleicht das Unjüdischste, was Shakespeare seinem Shylock angedichtet hat. Hier weist es sich aus, daß er keine Juden gekannt hat, wenigstens nicht intim. Sonst hätte ihm die Heiligkeit der Gefühle zwischen jüdischen Eltern und Kindern kaum entgangen sein können. Es ist überhaupt ein nicht zu übersehender Beweis für den Mangel an Wissen über das jüdische Volk, daß alle jüdischen Figuren der englischen Literatur, die wir namhaft gemacht haben, unbeweibt sind, ohne Familie oder wenigstens ohne Familienleben, was übrigens nicht nur der jüdischen, sondern auch der englischen Psyche widerspricht. Es ist auch ein Zeichen dafür, daß die englischen Dichter den Juden weniger im menschlichen als im gespenstischen Licht, im Zustand der Unbehaustheit, gesehen haben.

Die stärkste Übertreibung aber legt der Dichter in das Wort Rache. Shylock spricht es als sein Programm aus und droht dem abwesenden Antonio: »Ich will ihn peinigen, ich will ihn martern«, oder: »Ich will sein Herz haben.« Dann weist er seinen Glaubensgenossen an: »Geh, geh, Tubal, und triff mich bei unserer Synagoge! Geh, guter Tubal! Bei unserer Synagoge, Tubal!« Durch die wiederholte Erwähnung der Synagoge an dieser Stelle sind die Gemeinschaft der Juden und vor allem der jüdische Glaube und Ritus in Shylocks böses Vorhaben, in das Vorhaben der Rache hineingezogen. Von seiner Rachgier hingerissen, richtet Shylock seinen Sinn auf das jüdische Gotteshaus. Was will er dort? Natürlich beten mit Tubal! Zu wem? Natürlich zum jüdischen »Gott der Rache«! Und worum wird er beten? Natürlich um Beistand für sein Werk der Rache! So wird, wenn auch nur beiläufig, die Beteiligung und Mitverantwortlichkeit der jüdischen Glaubensgemeinschaft, des ganzen Volkes der Juden an dem schlimmen Handel Shylocks angedeutet. Und so steht denn später mit diesem das ganze Judentum vor Gericht.

Dem entspricht auch, deutbar bis ins bitter Ironische, das Ansinnen, das vor Gericht der Doge an den Kläger richtet, nicht nur auf die Buße, sondern auch, »gerührt von Lieb' und Menschlichkeit«, auf die Hälfte der Darlehenssumme zu verzichten, da Antonio durch den Verlust seiner Schiffe schwer zu Schaden gekommen sei. Kann dieser »Vergleichsvorschlag« ernstlich dem Geldverleiher Shylock gemacht werden, den Antonio auf Schritt und Tritt mit seinem Haß und Hohn, mit Verachtung und Beschimpfung verfolgt hat? Er ist etwas Außergewöhnliches, er ist fast das Verlangen nach einer »Judensteuer« zu Gunsten des »königlichen Kaufmanns«. Die stillschweigende Voraussetzung dafür ist: das Judentum, förmlich die »Synagoge«, die in dem Prozeß die wahren Angeklagten sind, angeklagt der Geldgier, des Christenhasses und des Verlangens nach Christenblut, müssen ein Übriges tun, um sich von diesen Anklagen zu reinigen.

Shylock besteht auf seinem Schein und wird um sein Recht auf die Buße, das ein Unrecht ist, aber auch um sein wirkliches Recht auf die Rückzahlung des Darlehens geprellt. Jenseits des ordentlichen Verfahrens, das schon so wenig ordentlich verlaufen ist, beginnt ein wahres Kesseltreiben gegen den Juden, das gewalttätige Absprechen seines Vermögens und Glaubens. Es beginnt, in nuce, eine Judenverfolgung! Wo soviel Jüdisches einer Figur eingeprägt ist wie einer Münze, die einen Wertmesser darstellt, da darf auch die Kehrseite nicht fehlen, nämlich das Gewohnheitsrecht der christlichen Welt, mit den Juden nach blanker Willkür zu verfahren. Der Abgang Shylocks von der Bühne vollzieht sich unter der unausgesprochenen Losung: Wehe dem Juden!

 

Das war, ohne Übertreibung gesagt, nicht mehr als recht und billig in den Augen des Publikums, das Shakespeare hatte. Denn erst diese »Judenverfolgung« stellt das Gleichgewicht gegenüber der »jüdischen Unmenschlichkeit« wieder her. Diese war mythisch und im Grunde konventionell bedingt, jene war die psychologische Konsequenz.

Man würde Shakespeare unterschätzen, wenn man in der Häufung des dem Juden zugefügten Unrechts nicht auch eine nachträgliche Begründung des von Shylock gezeigten Hasses sehen wollte. Damit wird schon ein Schritt über den mittelalterlichen Vorstellungskreis hinaus getan. Es wird nicht nur gezeigt, wie man mit Shylock vor dem Prozeß verfahren ist, sondern auch wie man mit ihm danach verfährt. Der Prozeß und Shylock stehen zwischen Unrecht und Unrecht, zwischen der maßlosen Aufreizung durch die christliche Welt und ihrer Rache. Das Verhalten des Juden wird als Produkt des christlichen Verhaltens gegen ihn erklärt. Die christliche Gemeinschaft wird für mitschuldig an seinem Wesen und Charakter befunden.

Wie Shakespeare darüber hinaus den Juden zum Ankläger jener Gemeinschaft macht, darüber wird noch zu sprechen sein. Um dies vorzubereiten, um ihm den pathetischen Hintergrund zu geben, kreist der Dichter Shylock aus der christlichen Welt aus. Er verleiht ihm die letzten Konsequenzen des Jüdischen.

Die Basis, von der aus sich diese Entwicklung vollzieht, ist der in der Auftrittsszene knapp gesammelte »Geldkomplex« Shylocks. Aber gleich darauf erklimmt er eine höhere Stufe. Dann nämlich, wenn Antonio ihn um das Darlehen angeht. Da bekommen Shylocks Haß und auch seine Verachtung für den verschwenderischen Christen die Oberhand und alsbald das Bedürfnis nach Rache. Denn, wie seltsam, er gibt das Darlehen, ohne Zinsen zu verlangen. Er kann in diesem Stadium kaum hoffen, daß Antonio mit der Rückzahlung in Verzug gerät. Ein so reicher, so angesehener Venezianer mit so vielen und so guten Verbindungen! Und trotzdem geht er mit ihm einen Vertrag ein, der einen Geldgewinn für ihn, den »Wucherer«, ausschließt. Nur in der vagen Hoffnung, ein Exempel statuieren, vielleicht doch über Leichtsinn und Hochmut triumphieren zu können, sich zum Herrn über jenen Herrn des Geldes zu machen – er, der Sklave des Geldes!

Und erst recht vor den Richtern lehnt er die Rückzahlung des Darlehens, auch Zinsen, ja sogar das Mehrfache des Kapitals, das man ihm anbietet, rundweg ab. Das Geld hat die Macht über ihn verloren. Er verschmäht das beste Geschäft seines Lebens, die Gelegenheit zu einem fast gigantischen Wuchergewinn. Er hätte ja auch schon seinen Triumph über den Gegner, den Feind des Zinsnehmens, wenn er ihn so über alle Vorstellung und Absicht hinaus bewuchern könnte. Aber nein, das will er nicht mehr, das verschmäht er. Er will etwas anderes, er will mehr: Antonios Blut. Er will das Recht der Christen gegen den Christen wenden. Die Messerschärfe dieses Rechts will er diesen spüren und auskosten lassen. Das ist, sowohl von Shylocks wie auch von der christlichen Anschauungswelt aus gesehen, eine revolutionäre Tat. Haß ist ein elementareres Gefühl als Geldgier. Geld ist dem Juden nicht alles!

Aber erhöht ihn das? Mit gezücktem Messer steht er vor Gericht, um das blutige Handwerk an dem durch das Recht scheinbar wehrlos gemachten Gegner zu vollziehen. Er hört keine Einwände, keine Ermahnungen, keine Warnungen. Er hat sich schrecklich verwandelt. Er ist nur noch Haß, Rache, Blutdurst. Aus dem kleinen Rechner ist ein großes Tier, eine grausame Bestie geworden. Was weiß ein Tier von Geld, Gewinn oder gar von Gnade? Ein Tier weiß nur von Hunger und Blut. Aus einem gedrückten und bedrückten Menschenschicksal tritt die Dämonie heraus, die entfesselte Wildheit der Abwehr. Nicht mehr Shylock ist jetzt der Wucherer, sondern das Schicksal selbst: das Judenschicksal wuchert mit dem Haß und der Rache, die sich in Shylock angesammelt haben.

Man muß hier an Barabas, Marlowes »Juden von Malta«, denken. Dem laufen Mund und Herz über von grauenhaften Freveln, die er getan hat, tut oder tun wird. Er ist ein Delinquent von größtem Format. Aber wie klein steht die äußerliche Addition all seiner Delikte neben der seelischen Potenzierung, die sich in der Situation Shylocks vollzieht! Dort Massenmord, hier nur ein Pfund Fleisch! Aber das Grauenhafte des Verlangens nach diesem, im Rahmen und im Namen des Rechts, wird zum Inbegriff des Unmenschlichen, des Grausam-Tierischen, des Werwölfischen. Es wirkt, durch Shakespeares Ungnade sowohl mit dem Juden als auch mit der Welt der Christen, so elementar, als ob seit Jahrhunderten alle Juden immer nur dieses eine Verlangen in sich getragen hätten: aus Christenleibern ein Pfund Fleisch zu schneiden – und nun, endlich, endlich, wird dieses Verlangen Wort und Anspruch! Der Judenmythos erhebt sich aus der Tiefe der Zeiten, wird Gestalt und Person. Der Judenmythos aus dem Mittelalter bekommt Gesicht, Umriß und Name: Shylock!

Aber – er hat falsch »getippt«. Die Schärfe des Rechts, die er zu einem blutigen Hand-Werk hat mißbrauchen wollen, wendet sich gegen ihn. Darf ein Geldverleiher statt auf Zinsen auf große Rache sinnen? Er hat die Grenzen seiner Existenz überschritten und diese dadurch verloren. Alles hat er verloren, auch seinen Glauben, auch sich selbst. Dies ist die dichterisch-mythische Gerechtigkeit – jenseits der juristischen.

Nichts bleibt nach Verlust der Tochter, des Geldes und des Glaubens von dem Juden übrig. Der Jude ist nicht mehr. Er kann, er muß Christ werden. Seltsame Strafe für den Juden – hart für ihn, der so ganz Jude war. Aber ist sie nicht seltsamer und härter für das Christentum, das sein Reich dem Shylock öffnen muß? Nein – denn schlecht ist dieser, weil und solange er Jude ist. Wird er Christ, so ist er der Gnade teilhaftig, deren Evangelium ihm Porzia vorher verkündet hat. Er wird nicht mehr wuchern, nicht mehr hassen, sich nicht mehr rächen wollen. Denn: der Christ ist gut, der Jude ist schlecht; der Rechtsgläubige ist rein, der Un- oder Falschgläubige ist unrein. Das ist die These, unter der die – psychologisch und juristisch so unhaltbare – Entscheidung des Dogen steht.

Mythisch ist das Judentum, aus dem Shylock gekommen ist, mythisch das Christentum, in das er entlassen wird. Die schwarze und die weiße Magie stehen sich gegenüber. Die Wirklichkeit hat mit beiden nichts zu tun.

Die Wirklichkeit kommt im Schicksal und in der Person Jessicas, der Tochter Shylocks, zu ihrem Recht, buchstäblich zu ihrer Richtung und Richtigkeit. Was ist mit Jessica? Ist sie nicht dieses Vaters und dieses Glaubens und Volkes Tochter? Aber man merkt es ihr nicht im mindesten an. Sie könnte eine Schwester Nerissas und, was sie dann auch sicher wird, eine verspielte Freundin Porzias sein. Ihr braucht sich nicht erst das Fegefeuer des Gerichts aufzutun, um ihren Eintritt in den Himmel des Christentums zu ermöglichen. Für sie gilt: einen Christen lieben heißt das Christentum lieben. Dazu ist keine Wandlung und Verwandlung nötig. Sie ist schon als Jüdin Christin. Aber nicht etwa dank ihrer besonderen Vorzüge! Denn sie hat alle Fehler ihrer Jugend und ihres Geschlechtes. Ist es nicht so, als ob hier Shakespeare mit leichter, leiser Hand das Tor des Ghettos habe öffnen und die Schranken zwischen Juden und Christen ins Nichts deuten wollen? Seine ganze dichterische Nachsicht wendet sich der Judentochter zu. Aber auch davon fällt ein Schatten auf Shylock. Armer Vater!

 

Der »königliche« Antonio ist der Gegenspieler Shylocks. Der Dichter macht ihn zur Idealfigur, zu einem Menschen ohne Eigennutz, ohne böse Gedanken, ohne Hintergedanken, zu einer Verkörperung von nichts als Liebe, Güte und Treue. Freilich: des Venezianers Liebe und Güte hört vor Shylock auf. Den verfolgt und mißhandelt er, der Mann voll Liebe und Güte. Aber er verfolgt und mißhandelt in ihm ja den Haß und die Härte. Der dramatische und theatralische Gegensatz ist so effektvoll wie nur möglich. Die antithetische Wirkung ist vollkommen.

Um so extremer stellt sich die Situation Shylocks dar. In ihm und um ihn ist die bare Lieblosigkeit. Es kann ein vollkommeneres Bild des Außenseitertums nicht geben. Aber das Bild lebt. Es strotzt von Leben. Dieses Leben kommt jedoch nicht aus der Figur Shylock allein, man möchte fast sagen: es kommt überhaupt nicht aus ihr, sondern es sammelt sich nur in ihr, wie das Wasser in einer Schleuse, die ihm das Gefälle zu geben hat. Denn das Leben des Menschenbildes Shylock kommt fast ausschließlich aus der Vorstellung und der Version, die Shakespeare vom Volk der Juden hat.

Wenn man sich hier nochmals Falstaffs erinnert: er sprüht von individuellen Zügen, er ist ein Kerl von ganz eigener Art, mit keinem anderen Lebewesen zu vergleichen und zu verwechseln. Um ihn herum sind allerhand Gestalten, die ihm so oder so verwandt sind und innerlich nahe, aber doch nicht in dem Grad, daß sie auch nur im mindesten wären wie er. Falstaff leuchtet aus eigenem Licht, ein Wunder von Individualität, das Wunder der Persönlichkeit, das um so größer erscheint, je verwunderlicher die Kleinen sind, die es umgeben.

Shylock hat keinen seinesgleichen neben sich. Der einzige Jude, der außer ihm auf der Bühne erscheint, Tubal, ist beinahe farb- und wesenlos. Ein Pünktchen Farbe, ein Fädchen Wesen hat er: das bißchen Schadenfreude. Sie wirkt wie ein Almosen, von der Figur des Shylock gespendet. Shylock ist allein. Denn er soll »der« Jude sein, der Ausdruck von allem Jüdischen. Ein Schatten steht hinter ihm – Roderigo Lopez, dessen Gebeine schon in der Grube bleichen. Er ist eine Erinnerung, ein Phantom. Über ihn greift Shakespeare hinweg in die Vorstellungen, die in seinem Publikum vom Wesen des jüdischen Volkes leben, fortleben. Es ist etwas Posthumes in und um Shylock. Etwas Geisterhaftes, Gespenstisches. Etwas tief Unzeitgemäßes und daher Unheimliches.

Bei Marlowe steht der Jude ebenfalls allein. Aber er ist mit so viel Vorleben, mit so viel Biographie und Selbstkommentar versehen, daß er eine Individualität wird, wenn auch eine rein theatralische, ein Kulissenreißer. Er führt mit Vorliebe seinen Stamm, sein Volk, seinen Glauben im Mund. Er bramarbasiert mit ihnen, droht, trumpft auf. Er ist das militante Gespenst eines jüdischen Obermenschen.

Wie anders Shylock! Er spricht nur gelegentlich von seinem Glauben. Er erwähnt nur gelegentlich seine Frau Lea. Sonst hat er kein Privatleben und kein privates Gesicht. Nicht einmal eine echte Liebe zu seiner Tochter wagt ihm Shakespeare – man möchte fast sagen – anzuhängen. Ganz nackt bleibt der arme Jude. Er ist nichts als Jude, Nichts-als-Jude, umwittert vom Geheimnis seines Volkes.

Im »Kaufmann von Venedig« dokumentiert sich bekanntlich eine erstaunliche Orts- und Milieukenntnis des Dichters in Bezug auf die Stadt und ihre Umgebung. Es war ihm auch nicht unbekannt, daß es in Venedig eine zahlreiche Judengemeinde gab, worüber einige Andeutungen fallen. Um so erstaunlicher ist es, daß er der jüdischen Sphäre nicht ein paar weitere Figuren, ein paar kleine und andere Shylocks, abringt oder zugesteht. Seine Phantasie hätte den Mangel an Erfahrung leicht ausgleichen können. Aber er will die Einmaligkeit der Figur auf jede Weise betonen. Etwa so, wie er im Venedig Othellos nur diesen einen Mohren auftreten läßt. Der Mohr und der Jude – beide stehen gegen eine Stadt, gegen eine Welt, gegen die Welt.

Die Folge dieser Vereinsamung und Vereinzelung ist, daß alles, was Shylock ist, sagt, tut, für und gegen alle Juden, für und gegen das Judentum wirkt. So wie es bei Lopez war: als er sich die Ungnade des Königs Antonio und der Essex-Clique zugezogen hatte, da war er plötzlich »der« Jude.

Allein also tritt Shylock vor das Gericht. Hier ist kein Realismus zu spüren. Kein Tubal, kein Chus ist bei ihm. Warum nicht wenigstens Tubal, dessen finanzielle Hilfe er doch in Anspruch genommen hat? Und geht es denn nicht um eine für die Juden von Venedig hochwichtige Sache, wenn ein Glaubensgenosse den vornehmen Antonio mit einer so radikalen Klage vors Gericht fordert? Nein, und nochmals: Shylock ist im Gegensatz zu seinem mächtigen Gegner ganz auf sich gestellt. Sind dadurch die Gewichte nicht schon ungleich verteilt? Sie sind es im dramatischen Sinne nicht. Shylock wirkt gerade durch seine Einsamkeit und Einmaligkeit. Er ist eben nicht »ein« Jude, sondern »der« Jude. In seinem Alleinsein drückt sich die Dämonie nicht nur seiner Person, sondern auch seines (Juden-) Schicksals aus. Dadurch und darin wird er zum Symbol – wie aus Stein gemeißelt, wie aus dunklen Elementen gemacht, Mensch gewordener Mythos.

Richard Burbage, Shakespeares Kollege und Kompagnon in der zuerst Leicester'schen, später königlichen Schauspielertruppe, mag der erste Shylock-Darsteller gewesen sein. Wenn er es war, kann man nicht annehmen, daß ihm die Rolle auf den Leib geschrieben sei, denn er hat sonst Lear, Richard III., Othello und Hamlet gespielt, vielleicht auch Romeo. Das bedeutet: die Kunst der Verwandlung hat auf der elisabethanischen Bühne in hoher Blüte gestanden. Die Herrschaft über und die Unterwerfung unter die Magie des Wortes sowie die Lust an der Maske haben triumphiert. (Wie anders wären sonst Kinder als Erwachsenen-Darsteller oder Männer und Knaben als Darsteller der Frauenrollen möglich gewesen?)

Wie mag nun Burbage als Shylock ausgesehen haben? Um dies zu wissen, brauchen wir kein Bild und keine Beschreibung, denn seine Maske und seine Haltung war bedingt durch die Juden- und insbesondere Judas-Darstellung in den mittelalterlichen Spielen, wovon es bildliche Darstellungen gibt. Diese »Bühnenjuden« haben etwa so ausgesehen: struppig roter oder grauer Bart und ebensolches Haar, eine weitvorspringende, krumme Nase, die an den Schnabel eines Raubvogels erinnert, grelle, eingesunkene Augen, gekrümmte Rücken und, wenn möglich, kurze, krumme Beine.

Burbage stand als das verzerrte Nachbild des auf so schauderhafte Weise ums Leben gekommenen Lopez auf den Brettern, wie aus dem Grab herauf- oder vom Galgen herabgestiegen, um nochmals der Welt zu zeigen, daß er ein Jude gewesen und wie ein Jude sei. Es muß um ihn für das eingeweihte Londoner Publikum ein Leichengeruch und eine gespenstische Atmosphäre gewesen sein.

Aber Shylock hatte als eine Erscheinung der niederen Welt, der unteren Menschenklasse, bei Shakespeare keinen Anspruch darauf, als tragische Figur dargestellt zu werden. Das hätte der inneren Ordnung und dem Stil der Shakespeare-Bühne widersprochen. Er sollte vielmehr eine komische Figur sein, wie es seinem gesellschaftlichen und dramaturgischen Rang zukam, ein lächerlicher Popanz, wozu ihm ja der Dichter durch Lorenzo, Graziano und Lanzelot machen läßt.

Während der ersten Hälfte des sechzehnten Jahrhunderts wurde das Stück in einer verballhornten Fassung von George Granville, Marquis of Lansdowne, gegeben, in der Shylock die derbsten Possen zu treiben hat, um ja recht lächerlich zu erscheinen. Das war der Mißbrauch der durch Burbage und Shakespeare geschaffene Tradition. Erst Mitte des achtzehnten Jahrhunderts kehrt der bedeutende Schauspieler Charles Madklin zur Originalfassung zurück. Der große Kean sodann, zu Beginn des neunzehnten Jahrhunderts, beseitigt die rote Perücke zugunsten einer schwarzen und betont das Tragische der Figur. Durch Henry Irving wurde Shylock sogar zum Mittelpunkt des Stückes gemacht.

Es steht also fest: Shakespeare, ganz im Dienst des Theaters seiner Zeit, hat den Shylock als ein Gespenst von gestern geschaffen. Dieses Gestern war sowohl die Lebenszeit des Lopez, wie auch die Lebenszeit der Juden in England. Mit anderen Worten: er hat eine aktuelle Figur mit dem Herkommen aus dem Mittelalter geschaffen. Die Legende von einem jüdischen Individuum kreuzt sich in Shylock mit der Legende vom jüdischen Volk. Grausen und Lachen sind um ihn.


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