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Volk und Bühne

Die elisabethanische Bühne ist jung. Was ist damals nicht jung?

Das mittelalterliche Mirakel, den biblischen Stoffen verhaftet, hat der »Moralität« Platz gemacht, in der Tugenden und Laster als Personen auftreten, um ein moralisches Weltbild zu formen. Das ist zu Shakespeares Zeit schon das Weltbild von gestern. Das neue setzt die Moral beiseite und nimmt als Träger und Getragenen des Geschehens und der Geschichte den Menschen in seine Mitte. Dies entspricht dem Geist der Reformation, konnte aber nur gelingen inmitten und angesichts eines Volkes, das sich groß fühlt. Die Bühne in der Mitte eines Volkes ist ein magischer Raum, der die Magier herbeizwingt. Großes Volk, große Bühne, große Dichter – das sind nicht drei Größen, es ist eine in ihren drei Dimensionen.

Das englische Volk, das sich anschickt, die Herrschaft und den Handel der Welt in seine Hände zu nehmen, das Seehelden, Seeräuber, Seehändler groß, reich und mächtig werden sieht – dieses von seiner eigenen Leistung benommene und berauschte Volk schafft notwendig seine Erklärung und Verklärung im Gleichnis.

Die Bühnenhäuser, die in den letzten drei Jahrzehnten der Regierungszeit Elisabeths in London aus dem Boden schießen, sind zuerst mehr Scheunen als Häuser, fernab von der City, mit ungedeckten Höfen, die das Parterre sind, mit Galerien und Logen. Auch auf der Bühne selbst sitzt das Publikum.

Der Theater-»Abend« ist, wenigstens in den »öffentlichen« Theatern, ein Nachmittag. Als Zeichen, daß gespielt wird, geht eine Fahne hoch, als Zeichen des Beginns der Vorstellung erschallen – bald nach dem Mittagessen – Trompetenstöße. Der Besuch des Theaters gehört zum Tagewerk. Er dient dazu, den Tag zu erleben, die Chronik der Zeit, lebendige Geschichte – aus ruhmvollen oder ruhmlosen Jahrhunderten, aus gekannten oder erahnten Ländern nah und gegenwärtig geworden.

Die Leute von Adel oder Macht oder Reichtum sind da, auch die Leute vom Bau und Fach, die Dramatiker, Literaten, Nachschreiber der Texte – auch die »gallants«, die Meinungsmacher und Kapitolswächter über Stil, Geschmack und Mode. Auch behäbige Bürger, die sich's schon leisten können, Tuchhändler, Gerber und Fleischer, auch ihre Frauen, auch Damen und Dämchen. Man raucht, schwatzt, witzelt oder flirtet miteinander.

Aber das richtige Leben bringen die »Gründlinge des Parterres« in die Holzbude. Hier sind keine Sitzplätze. Hier drängt sich, für einen Penny Eintrittsgeld, das niedrige Volk, das radaulustige Gesindel, der fressende, saufende, rülpsende Mob von London.

Ja, es ist Tag im elisabethanischen Theater – Tag, Wachheit und Wildheit. Das Volk, das ganze Volk ist da. Es übt sich vor der Bühne in Souveränität.

Solchem Volk muß die Bühne etwas bieten, kräftige Nahrung und starken Tabak. Es reicht seiner Elisabeth, der zugleich romantischen und nüchternen Despotin, bis an die Schulter und tut darüber hinweg Blicke ins Getriebe der Welt, der Politik, des Geschäfts, der Intrigen und der Abenteuer. Es hält den Kopf oben und die Augen offen. Gelegentlich wird dem einen der Kopf heruntergemacht oder dem anderen das Auge ausgestochen. Im Namen der Königin. Auch dies ist Theater, dem das Volk johlend beiwohnt.

Die Reformation und die Gegenreformation und wieder die Reformation waren in diesem England bereits absolviert wie ein Ringelspiel. Die Meister und Arrangeure haben auf dem Thron gesessen oder ihm nahegestanden. Das Volk war bereit, sich am Neuen zu beteiligen und daran zu leiden. Sein Weltsinn hat sich dabei nicht aufgehalten. Es hat sich durch alle Irrungen und Wirrungen tapfer hindurchgespielt, die ihm von oben, vom Himmel oder vom Thron, auferlegt wurden. Das Volk machte das großartigste und realistischste und wiederum unwahrscheinlichste Theater mit sich selbst.

Es hat gelernt, was Spiel ist: Spiel ist Ernst!

Mit diesem Bewußtsein sitzen die Edlen und Unedlen, die Bürger und Abenteurer, die Fleißigen und Müßiggänger vor dem Brettergerüst und wissen so gut wie die perikleischen Athener, daß die Bretter des Gerüsts die Welt bedeuten.

Immer hat das Schicksal der Bühne davon abgehangen, ob das Volk vor ihr aus vollem Herzen zu weinen und zu lachen, ihren Schrei mitzuschreien und ihr Schweigen mitzuschweigen versteht. Von solcher Bereitschaft und solchem Drang, mitzumachen und innerlich dabei zu sein, steckt viel in dem rauhen und rohen Publikum Shakespeares.

Sie wollen Blut sehen und Exzesse, geschändetes Recht, triumphierendes Unrecht und die Umkehrung, Heimat und Feinde, Erde, Himmel und Hölle. Denn das erfüllt ihr äußeres und inneres Erleben. Die Bühne hat Mühe, all dem gerecht zu werden, was der Höfling oder der Vagabund von ihr verlangt. Denn beide haben ein Recht auf sie.

Im Theater gibt nicht etwa der Londoner Bürger den Ton an. Er ist nur Statist, nur Zuschauer auch mit dem Blick auf den Zuschauerraum. Die Akteure, die ohne Gage mitspielen, sind die sehr feinen und die sehr unfeinen Leute – jene, die heute neben Elisabeths Thron stehen, morgen im Tower sitzen und übermorgen vielleicht schon ihren Kopf auf den Richtblock legen, oder jene anderen, die auf den Gassen oder in den Kneipen das große Wort führen und ein gefährliches Leben leben, die witzigen, windigen und vielleicht auch widerlichen Sprecher und Schreier der untersten Menschen- und Gesellschaftsklasse. Mit jenen Feinen und diesen Unfeinen muß der Dramatiker, muß jede einzelne seiner Bühnenfiguren konkurrieren. Denn das Volk ist das Maß aller Dinge und aller Gestalten.

Für das Volk, das nicht lesen kann, ist die Bühne Zeitung und Buch. Es erfährt und lernt von ihr: Abenteuer und Greuel, Heldentaten und Verrätereien, den Ernst und den Humor des Lebens, Kenntnis der Welt, der Geschichte und der Menschen. Die Gebildeten suchen und finden auf ihr die Bestätigung und Erhöhung dessen, was sie wissen und was sie sind. Welch ein Gegensatz zwischen den Großen und dem niederen Volk! Welche Gegensätze in diesem Theaterpublikum! Diese Gegensätze aber gerade setzen die Spannweite des elisabethanischen Theaters voraus und erzwingen sie.

Volkstheater? Nationaltheater? Akademisch gewordene Begriffe! Aber in ihnen leben, leuchten, brennen die Verwegenheit und Vermessenheit eines Volkes, das – gebunden zugleich und entfesselt – zur Bühne hingetrieben wird wie vor einen Spiegel, in dem es sein Dasein und sein Werden, sein Wesen und Unwesen erkennt. Das kann sich in Holzscheunen so gut wie in Steinpalästen abspielen, vor Dichtungen mit noch mythischem oder schon neuem Inhalt. Die Bühne als nationale Einrichtung schwebt über der Zeit und zwischen den Zeiten.

Dafür sind die elisabethanischen Spiele und Stücke das größte europäische Zeugnis seit der Antike. Sie haben bereits einen shakespearischen Anlauf genommen, bevor der zweifelhafte Ankömmling aus Stratford auf der Bildfläche erschienen ist. Er findet Auftrag, Aufmunterung, Aufreizung vor wie etwas, das auf ihn gewartet, das ihn herbeigerufen und heraufgezwungen hat.

Das elisabethanische England will, muß gedichtet und gespielt werden. Es bietet dem Berufenen die Stoffe in reichster Fülle und buntester Hülle dar. Sie liegen auf der Straße, sie liegen in schriftlichen und mündlichen Berichten und Überlieferungen, den Gebildeten bekannt und vertraut, den Ungebildeten oft schon vorgestottert und vorbuchstabiert von den Vorläufern oder Mitläufern Shakespeares.

Nationales Theater, Nationaldrama entsteht nicht aus erfundenen Stoffen. Sie sind zweiten Ranges. Den ersten Rang behaupten die gefundenen, die schon einen Weg hinter sich haben, den Weg der Bereicherung und Klärung. Das ist so seit Homer und den attischen Tragikern, seit der Bibel und den Veden, bis zum Faust und zur Penthesilea. Mitteilbar im höchsten dichterischen Sinn und zugleich im ganz primitiven, nämlich schon als gemeinsamer Besitz des Gebers und des Empfängers, ist das Alte, das Historische und das Mythische.

Dies ist der Fall Shakespeares. Er ist kein Erfinder. Er ist Dichter. Er verleiht alten Stoffen, alten Stücken den Adel der Neuheit. Das adelig Neue war shakespearisch, elisabethanisch, humanistisch, man könnte auch sagen: unmittelalterlich, weil es im Widerstreit und in der Auseinandersetzung mit dem Mittelalter in den Stand der Dichtung getreten ist.

Kein Stück Shakespeares erweist dies deutlicher als »Der Kaufmann von Venedig«, und in keinem gibt es zwei Figuren, wie einerseits Shylock und andererseits Porzia, die es, zusammen und gegeneinander, mit der gleichen Deutlichkeit belegen.


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