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Die Fabel im 16. Jahrhundert

Für die neue Zeit des sechzehnten Jahrhunderts war die Fabel altertümlich und veraltet. Solcher Geschichten pflegten sich die Humanisten gerne zu bemächtigen. Sie münzten sie für das Bewußtsein der »reformierten«, der innerlich erneuerten Leser oder Hörer um – wenn auch nur mit dem von Selbstgerechtigkeit nicht ganz freien Nebengedanken, wie herrlich weit man es seit damals, da solche Geschichten neu waren, gebracht habe. Da die Fabel ein Dokument des Fortschrittes, einen Sieg der Menschlichkeit über die Unmenschlichkeit darstellt, konnte sie zur humanistischen Nutz- und Lehrfabel avancieren.

Ein sehr seltsames Zeugnis dafür enthält die zwischen den Jahren 1585 und 1590 in Venedig erschienene Biographie des Papstes Sixtus V. (»Vita di Sixto Quinto«). Ihr Autor Gregorio Leti gehört nicht zu den zuverlässigen Geschichtsschreibern. Er ist darauf bedacht, dem Geschmack der Zeit Rechnung zu tragen und möglichst viele moralisch oder politisch pointierte Geschichten um die Person seines Helden zu gruppieren.

Eine davon hat folgenden Inhalt: Nach Rom war die Nachricht gekommen, daß Francis Drake, der Admiral der Königin Elisabeth, San Domingo erobert habe und mit stattlicher Beute abgezogen sei. Wenigstens wollte dies der römische Kaufmann Paolo Maria Secchi aus Briefen entnommen haben. Er hatte Handelsinteressen in der geplünderten Stadt. Desgleichen der jüdische Kaufmann Simson Ceneda. Diesem erzählte Secchi daher, was für eine Post er bekommen habe. Der Jude weigerte sich, ihr Glauben zu schenken. Dabei ereiferte er sich so, daß er sagte, er wolle ein Pfund Fleisch aus seinem Leib verwetten, daß die Nachricht falsch sei. Er sagte dies so, wie man zu sagen pflegt, man verwette seinen Kopf oder seine Hand.

Secchi aber erwiderte auf der Stelle, er setze gegen das Pfund Fleisch tausend Scudi. Ceneda ging darauf ein. Die Wette wurde in Gegenwart eines christlichen und eines jüdischen Zeugen schriftlich niedergelegt, und zwar dergestalt, daß Secchi, falls er Recht behalte, mit einem scharfen Messer dem Ceneda eigenhändig ein Pfund Fleisch aus dem Leib schneiden dürfe – »an welchem Orte es ihm am besten gefallen würde«.

Secchi gewann die Wette und verlangte ihre Erfüllung. Er versprach Ceneda zu dessen Beruhigung, er wolle das versprochene Pfund Fleisch »von keinem anderen als einem solchen Orte hinwegnehmen, welchen die geziemende Bescheidenheit zu nennen verbeut, der Leser aber schon für sich mit leichter Müh wird erraten können«. Dies beruhigte den Juden keineswegs. Er bot dem Christen tausend Scudi statt des Pfundes Fleisch an. Aber dieser bestand auf der genauen Erfüllung der Wette.

Ceneda wußte sich nicht mehr zu helfen und lief zu dem Gouverneur von Rom. Diesem war bekannt, wie sehr dergleichen Fälle den Papst interessierten, und er legte ihm die Sache zur Entscheidung vor. Sixtus ließ die Parteien zu sich kommen, nahm Einsicht in den schriftlichen Vertrag und hörte die beiden Männer an. Worauf er mit folgenden Worten seinen Spruch fällte (zitiert nach einer alten deutschen, anonym erschienenen Übersetzung):

»Es ist nicht mehr als billig, daß derjenige, so sich in Wetten einlässet, denselben ein völliges Genügen tue und dannenhero wollen wir, daß auch die Eurige aufs Genaueste in acht genommen werde. So sucht demnach Ihr Euer Messer hervor und schneidet allhier in unserer Gegenwart aus dem Leib des Juden, an welchem Orte es Euch gefallet, ein Pfund Fleisch heraus. Allein gebt hierbei wohl Achtung auf Euch Selbsten; denn wiefern Ihr nur ein einziges Quintlein zu viel oder zu wenig schneiden werdet, müßt Ihr ohne Barmherzigkeit hängen. Solcher Gestalt schärfe man das Messer und bringe eine richtige Waage her, damit man ohne Verzug zum Handel schreiten könne.«

Da flehte Secchi den Heiligen Vater an, den Vertrag zerreißen und von der Wette zurücktreten zu dürfen. Ceneda war damit erst recht einverstanden. Sixtus ließ sie beide ins Gefängnis führen, damit sich andere daran ein Exempel nehmen sollten, derlei ärgerliche Wetten zu unterlassen.

Es werden zwischen dem Papst und dem Gouverneur, dem auch die Justiz in Rom unterstellt war, allerhand moralische und juristische Reden gewechselt. Der Gouverneur meint, man solle beide um je tausend Scudi strafen, da Secchi versichere, er habe dem Juden nur Angst einjagen wollen und nie vorgehabt, den Schnitt wirklich zu tun, während Ceneda behaupte, er habe die Wette und den Vertrag überhaupt nie ernst genommen. Der Papst blieb hart und verfügte, man solle die beiden zum Galgen führen und ihnen dort das Todesurteil sprechen, danach wolle er schon befehlen, was weiter mit ihnen geschehen solle.

Diese Entscheidung rief große Bestürzung in Rom hervor, zumal der Christ sehr vornehme und reiche Verwandte hatte und auch der Jude einer der »Ansehnlichsten in der Synagoge« war. Beim Kardinal Montalto liefen viele Bittgesuche für die beiden ein, die er dem Papst vortrug. Dieser hatte gar nicht daran gedacht, die zwei Männer hinrichten zu lassen. Er begnadigte sie zuerst zur Galeerenstrafe und dann zu einer Buße von je zweitausend Scudi, die für den gerade begonnenen Bau des Hospitals di Ponte Sisto verwendet werden sollten.

Diese Geschichte ist natürlich zu Lob und Preis des ebenso strengen wie gerechten und weisen Papstes Sixtus mit Hilfe der Novelle aus dem »Pecorone« in Form gebracht. Um so bezeichnender, daß sie die Rollen zwischen Christ und Jude vertauscht. Es entbehrt nicht der Komik, daß diese in der judenreichen Stadt Venedig, dem Wohnsitz des Autors, entstandene Fassung den Juden schont – im Gegensatz zu den gleichzeitigen dramatischen und sonstigen Bearbeitungen in England, dem Land ohne Juden. Desgleichen ist es allerdings auch bezeichnend, daß der Schriftsteller die Strenge des Motivs aufgelockert hat, indem er den Juden aus der Rolle des Gläubigers entließ. Eine Wette stand eher einem Christen als einem Juden an. Leti wußte, daß ein Jude nicht den Mut gehabt hätte, das verwettete Pfund Fleisch einzuklagen. Darin liegt die Realistik dieser Fassung.

 

Die Fabel ist auf der Wanderung. Auch in Frankreich erscheint sie in neuer Einkleidung. Ein 1581 in Paris gedrucktes Buch »Épitomés de cents histoires tragiques, extraites des Actes des Romains et autres« von Alexandre Sylvain (Pseudonym für Alexandre van der Bussche) enthält als 95. Stück das Motiv vom Pfund Fleisch in Form einer kontradiktorischen Verhandlung zwischen dem klagenden Juden und dem verklagten Christen. Eine Vorbemerkung, die den Gegenstand des Streites benennt, verlegt ihn in die Türkei. Übrigens wird, im Laufe der nächsten zwei Jahrhunderte, sowohl durch Schudt in seinen berühmten »Jüdischen Merkwürdigkeiten« wie auch durch Zwinger in seinem »Theatrum vitae humanae«, Teil VII, von demselben in der Türkei angeblich vorgekommenen Rechtsfall berichtet, in dem der Sultan Suleiman II., der Protektor des Herzogs von Naxos, die Klage des Juden auf die ihm versprochenen zwei Unzen Fleisch aus dem Leib des Schuldners in der herkömmlichen Weise zunichte macht. Hier gilt die Fabel natürlich schon als vollgültiger Beweis für die Grausamkeit der jüdischen Wucherer.

Bei Sylvain liegt das Recht so, daß der türkische Richter bereits entschieden hat, der Jude dürfe nicht mehr und nicht weniger als das ausgemachte Pfund Fleisch aus dem Leib des Christen schneiden. Gegen diesen Spruch appelliert der Jude. Er führt folgendes aus:

»Man kann Treu und Glauben im Handel unter den Menschen nicht aufs Spiel setzen ohne großen Schaden für den Staat, also darf sich niemand zu etwas verpflichten, was er nicht leisten kann oder will. Denn sonst würde der Betrug die Oberhand gewinnen und statt daß Treu und Glauben gesichert wären, wäre jeder in seiner Willkür gesichert. Aber da der Betrug schon überhand genommen hat, braucht man sich nicht zu wundern, wenn die Verpflichtungen strenger und enger werden als sonst, da man ja nicht gegen alles zu sichern vermag.

Es erscheint auf den ersten Blick ebenso befremdlich wie grausam, einen Menschen zur Zahlung eines Pfundes Fleisch zu zwingen, weil es ihm an Geld fehlt. Aber es gibt grausamere Dinge, die gebräuchlich und durchaus nicht schrecklich erscheinen, wie etwa den ganzen Körper zwangsweise einem Kerker oder einer schimpflichen Knechtschaft zu überliefern – oder vom Körper abgesehen, werden alle Gefühle und der Geist gemartert, und dies geschieht gewöhnlich nicht nur denen, die einer anderen Sekte angehören oder einem anderen Volk, sondern auch unter den Angehörigen der gleichen Sekte, der gleichen Nation, ja unter Nachbarn und Verwandten. Selbst unter den Christen hat man erlebt, daß der Sohn seinen Vater um Geldes willen einsperrt. Sogar in der römischen Republik, die durch ihr Recht und ihre Macht in so großer Blüte stand, konnte man freie Bürger Schulden halber einsperren, prügeln und foltern. Wieviele von diesen, glaubt Ihr wohl, wären glücklich gewesen, eine kleine Schuld durch Hingabe eines Pfundes Fleisch begleichen zu dürfen! Wer also kann sich wundern, wenn ein Jude von einem Christen etwas Ähnliches verlangt zur Begleichung einer bedeutenden Schuld?

Man könnte fragen, warum ich nicht lieber das Geld von diesem Menschen nähme als sein Fleisch. Dafür könnte ich mehrere Gründe anführen. Ich könnte sagen, daß ein Dritter nicht weiß, was mich der Bruch seines Zahlungsversprechens kostet und was ich meinerseits meinen Gläubigern bezahlt oder was ich an Kredit verloren habe. Denn die Situation von Menschen, die auf Ehre halten, ist so unglückselig, daß sie es oft vorziehen, sie stillschweigend hinzunehmen, als daß sie zum Schaden noch den Spott auf sich ziehen, indem sie die Situation vor aller Welt aufklären. Jedenfalls möchte ich betonen, daß ich lieber ein Pfund Fleisch als meinen Kredit verlieren wollte. Ich könnte auch sagen, daß ich auf dem Pfund Fleisch bestehe, um damit einen Freund von einer sonst unheilbaren Krankheit zu heilen oder aber um den Christen den Mut zu nehmen, noch mehr Mißbrauch mit den Juden zu treiben. Aber ich sage nur: Kraft seiner Verpflichtung schuldet er es mir!

Man tötet leicht einen Soldaten, der eine Stunde zu spät zum Gefecht kommt, oder einen Dieb, der eine kleine Summe raubt. Ist es also eine so große Sache, einen Menschen, der mehrere Male sein Versprechen gebrochen hat, ein Pfund Fleisch zahlen zu lassen und auf diese Weise ihm, der einen anderen der Gefahr aussetzt, mit seinem Kredit seine Ehre zu verlieren, die Augen darüber zu öffnen, daß er sein Leben für die ihm gebührende Reue einzusetzen hat? Ist es nicht besser, daß er das verliert, was ich fordere, als seine Seele, die er durch sein Wort verpfändet hat? Auch steht es mir zu, lediglich zu empfangen, was er mir schuldet, und ihm, es mir zu liefern.

Dies um so mehr, als ja keiner besser weiß, als er selbst, wo es sich wegnehmen läßt ohne den geringsten Schaden für seine Person. Ich könnte es ja auch von einer Stelle nehmen, daß er sein Leben einbüßte. Aber was würde schon sein, wenn ich ihm seine Genitalien nähme, von denen ich glaube, daß sie genau ein Pfund wiegen? Oder ist es überhaupt mein Interesse, den Schnitt zu tun, um sein Leben in Gefahr zu bringen? Nein, das wäre so unvernünftig, wie wenn ich durch eine Geldbuße mich dazu verpflichtete, daß ich ihm die Nase, die Lippen, die Ohren abschneiden oder die Augen ausreißen wollte, um aus allem ein Pfund Fleisch zu machen, wozu ich ebenfalls befugt wäre. Mir scheint, daß ich das nicht dürfte, ebenso daß die Abmachung nicht sagt, daß ich wählen darf, wie sie auch nicht sagt, daß ich schneiden und mir nehmen muß, sondern daß er mir ein Pfund Fleisch aus seinem Körper zu liefern hat, so wie derjenige, der ein Pfund Pech liefert – und derjenige, der es bekommt, gibt acht, daß es auch stimmt.

Schließlich zwingt mich die Abmachung nicht, auch nicht das Herkommen oder das Gesetz, selbst zu schneiden und abzuwägen und ich lehne das alles ab und verlange, daß das, worauf ich einen Anspruch habe, mir auch zukommt.«

Diese Auffassung des Vertrags der Fabel ist neu, so wie auch der Ton neu ist, den der Jude anschlägt. Fast möchte man behaupten, daß das Pathos, dessen sich der Jude bedient, eher ins achtzehnte als ins sechzehnte Jahrhundert hineingehört. Er verfolgt nicht so sehr sein Recht wie das Recht, und wiederum nicht das Recht des Buchstabens, sondern das Recht als Ausdruck der sozialen Ordnung und der menschlichen Sittlichkeit. Um das letzte Argument seiner Auslegung, daß er nicht selbst zu schneiden brauche, sondern daß der Schuldner ihm das Pfund Fleisch zu liefern habe, könnte fast Shakespeare den Sylvain beneiden.

Dessen Buch ist im Jahre 1596, ins Englische übersetzt, in London unter dem Titel »The Orator« erschienen (es war ein Lehrbuch für rednerische Übungen). Daß Shakespeare diese Übersetzung benutzt haben könnte, vielleicht im Manuskript, ist nicht ganz ausgeschlossen. Mit um so größerer Wahrscheinlichkeit aber hat er von dem Original Kenntnis gehabt. Denn der Hinweis des Sylvain'schen Juden auf die Schuldsklaverei, die unter den Christen herrsche, wird von Shylock in der Gerichtsszene, auf die Sklaverei überhaupt ausgedehnt, aufgenommen.

Auch in dieser französischen Fassung aber erscheinen die Argumente, mit denen sich die Fabel gegen den Juden gesättigt hat. Der christliche Schuldner spricht sie aus:

»Es ist nichts Neues, die Unbilligen und die Unredlichen disputieren zu hören. Man selbst will, daß die anderen unverbrüchlich darauf achten, was noch zu ertragen ist, wenn nämlich solche Leute sich mit vernünftigen Forderungen oder wenigstens mit solchen, die halbwegs vernünftig sind, zufrieden geben. Aber wo bleibt die Vernunft, wenn der Mensch zu seinem eigenen Nachteil den Schaden eines anderen wünschen darf?

Wie dieser Jude sich damit abfindet, 900 Taler zu verlieren, um ein Pfund von meinem Fleisch zu haben, daran zeigt sich deutlich sein eingeborener grausamer Haß, nicht nur gegen die Christen, sondern auch gegen alle anderen Nichtjuden, selbst gegen die Türken, die, viel zu menschlich, solches Gesindel unter sich wohnen lassen. Dann wagt dieser Tollkühne auch noch, an das Urteil eines guten und gerechten Richters zu appellieren und will mit sophistischen Gründen beweisen, daß seine Abscheulichkeit billig sei.

Ich bekenne feierlich, daß ich die Zahlungsfrist von fünfzig Tagen habe verstreichen lassen, aber wer kann beurteilen, ob er schuld daran ist oder ich? Ich wenigstens bin der Meinung, daß er mit geheimen Mitteln den Eingang von Geldern verzögert hat, die vor dem ausgemachten Termin von da und dort an mich gelangen sollten. Sonst wäre ich ja nicht so tollkühn gewesen, eine solch strenge Verpflichtung einzugehen. Aber wenn dies auch nicht als Entschuldigung für mein Versäumnis dienen kann, ist es dann gesagt, daß er so schamlos sein darf und beweisen will, daß sein Wunsch, sich an einem Pfund Menschenfleisch bezahlt zu machen, nicht seltsam sei, das doch eher einem Tiger als einem Menschen angemessen ist. Es wäre ja auch niemals vorgekommen, wenn nicht dieser Teufel in Menschengestalt, als er mich unter einem unausweichbaren Druck sah, mir diese verfluchte Verpflichtung vorgeschlagen hätte. Und wenn er von den Römern spricht, so verschweigt er, daß infolge jener Grausamkeit gegen die Schuldner ihre Republik beinahe zertrümmert worden wäre und daß bald darauf verboten wurde, jemanden wegen Schulden einzusperren.

Der Bruch eines Versprechens ist entschuldbar, wenn ein Mensch schwört oder beweist, daß er keine Sorge bis zum äußersten außer acht gelassen hat. So habe auch ich mein Versprechen gehalten, wenn auch nicht so bald, wie es meinem guten Willen entsprochen hätte. Selbst vor der Gefahr, mich der Grausamkeit dieses Schurken zu stellen und mein Fleisch und Blut zu opfern, bin ich nicht geflohen, sondern ich habe mich dem Richter zur Verfügung gestellt, der gerechter Weise die Bestialität unterdrückt hat.

Worin also hab ich mein Versprechen gebrochen? Etwa darin, daß ich nicht wie jener dem Urteil des Richters vorgreifen will? Ich werde ihm einen gewissen Teil meines Körpers darbieten, daß er sich daran nach dem Urteil bezahlt macht – oder ist dann mein Versprechen gebrochen?

Aber man darf sich nicht wundern, wenn diese Rasse so hartnäckig und grausam gegen uns ist, denn damit kränkt sie nochmals unsern Gott, den sie gekreuzigt hat. Warum? Weil er heilig war, wofür er von der hochherzigen türkischen Nation noch heute gehalten wird. Aber ihre eigene Bibel ist voll von Empörung gegen Gott, gegen ihre Priester, gegen ihre Gesetzgeber und Führer, ja sogar gegen die Erzväter, von denen sie abstammen. Sie haben ihren Bruder Joseph verkauft, und wenn nicht einer unter ihnen widersprochen hätte, hätten sie ihn kläglich gemordet. Wie viel erschütternde Abscheulichkeiten sind unter ihnen begangen worden? Wieviel Morde? Hat Absalom nicht seinen Bruder getötet? Nicht seinen Vater verfolgt? Hat Gott sie nicht für ihre Ungerechtigkeit zerstreut, ohne ihnen auch nur einen Fußbreit Boden zu lassen? Schon damals, als sie gerade ihre Gesetze von Gott bekommen hatten, als sie mit eigenen Augen seine Wunder sahen, als sie noch ihre Gesetzgeber hatten, waren sie Verbrecher.

Was kann man heute von ihnen erwarten, wo sie weder Redlichkeit noch das Gesetz achten, sondern rauben und wuchern? Und wo sie glauben, ein gutes Werk zu tun, wenn sie einem Nichtjuden ein großes Unrecht zufügen?

Möge es Euch gefallen, o gerechter Richter, all diese Umstände wohl zu bedenken und Mitleid zu haben mit einem Mann, der sich ganz Eurer rechtschaffenen Milde unterwirft – in der Hoffnung auf Freispruch.«

 

Auch im Deutschland des sechzehnten Jahrhunderts fehlt nicht eine, wenn das Wort hier erlaubt ist, bodenständige Formung der Fabel. Jacob Rosefeldt – er nennt sich, da er aus Scherneck bei Koburg stammt, Jacobus Francus oder Scherneckiensis – hat eine lateinische Schulkomödie »Moschus« (Latinisierung von Moses) geschrieben, in der er das Motiv vom Pfund Fleisch verwendet. Das Stück wurde im Jahre 1599 anläßlich der Hochzeit eines Juristen mit der Tochter eines Universitätsprofessors in Jena von Studenten aufgeführt. Da der »Kaufmann von Venedig« erst 1600 im Druck erschien, ist es so gut wie ausgeschlossen, daß der Jenenser Dichter das Stück gekannt hat. Er war, nebenbei bemerkt, der hebräischen Sprache in einem Grade mächtig, daß er eine kleine Sammlung hebräischer Verse herausgeben konnte, die 1602 erschienen ist.

Die Handlung seiner »Shylockiade« ist, dem festlichen Anlaß ihrer Aufführung und auch dem literarischen Stil der gelehrten Komödie entsprechend, von einem Pro- und Epilog aus der griechischen Mythologie eingerahmt. Sie verläuft etwa folgendermaßen:

Der knickerige Kaufmann Mercator hat zwei Söhne: Polyharpax und Musophilus. Wie schon die beiden Namen sagen, ist jener habgierig und dieser ein Freund der Studien. Polyharpax hat eine sehr ergiebige Handelsfahrt übers Meer gemacht und will nun eine zweite riskieren; dazu hat ihm seine Geliebte Lucrum geraten (was an die Dame Lucar in »The Three Ladies of London« erinnert). Um sein Unternehmen zu finanzieren, nimmt er ein Darlehen bei dem jüdischen Geldverleiher »Rabbi Mosche ben Rabbi Jehuda« auf. Fünf Talente beträgt die Summe, die mit Zinsen binnen drei Monaten zurück zu zahlen ist. Im Versäumnisfall soll der Gläubiger das Recht haben, dem Polyharpax ein Pfund Fleisch aus dem Leib zu schneiden.

Diese Bedingung wird aber nicht etwa von dem Juden gestellt, sondern von dem Schuldner ohne weitere Erklärung in den Vertrag aufgenommen, den er einem Schreiber diktiert. Das wirkt nun schon so, als ob eine solche Bedingung bei den jüdischen Geldverleihern gang und gäbe gewesen wäre. In der Tat gibt Moschus danach seiner Freude Ausdruck, daß er einen so fetten Fisch gefangen habe. Das ist, nebst groben Zwischenspielen, in denen der Jude und sein jüdischer Diener Barabas verhöhnt und verprügelt werden, der Inhalt des ersten Aktes.

Im zweiten klagt der Student Musophilus über die Nichtachtung der schönen Künste und Wissenschaften im allgemeinen und durch seinen Vater im besonderen, der ihm das Geld zum weiteren Studium vorenthält, weil er wünscht, sein Sohn möge sich einem praktischen Berufe widmen. In der nächsten Szene breitet Moschus vor seinem Diener Barabas ein Gewirr von jüdischen Lehren und Lastern aus, darunter Lehren über Talmud und Messias, die zeigen, daß das Eindringen des Hebräologen Rosefeldt in die jüdische Literatur nicht sehr tief, geschweige denn frei von Vorurteilen gewesen ist. Der Diener hinwiederum versucht einen Bauern zum Übertritt zum Judentum zu bewegen. Am Schluß dieses Aktes kommt Polyharpax mit vielen Waren von seiner Handelsreise zurück. Es findet eine Schmauserei bei seinem Vater statt. Dazwischen allerhand Prügelszenen und andere Zwischenspiele.

Dritter Akt: Polyharpax erscheint vor dem Haus des Juden, um das Darlehen zurückzuzahlen, wird aber von Barabas abgewiesen, weil sein Herr nicht zu Hause sei. Am nächsten Tag behauptet Moschus zu Hause gewesen zu sein und sein Diener bestreitet, dies geleugnet zu haben. Polyharpax ist also schuldlos, wie der Kaufmannssohn im »Bamberger Meistergesang«, in Verzug geraten und wird vor den Richter zitiert. Musophilus nähert sich auf der Reise von seiner Universitätsstadt der Heimat, wird von Räubern überfallen und gänzlich ausgeplündert.

Nun, im vierten Akt, findet die Gerichtsverhandlung statt. Moschus schwört den »Judeneid«, daß er den Schuldner an der fristgerechten Bezahlung der Schuld nicht gehindert hat. Auf diesen Meineid hin wird ihm das Recht zugesprochen, das Pfund Fleisch aus dem Leib seines Schuldners zu schneiden. Er läßt durch Barabas Messer und Wetzstein holen und den Verurteilten entkleiden. Dessen Braut Lucrum kommt und fleht den Juden um Gnade an. Da wird Musophilus gefesselt an die Gerichtsstätte geschleppt. Die Bauern, die ihn bringen, beschuldigen ihn des Mordes. Er hört, was seinem Bruder bevorsteht und kommt auf den rettenden Gedanken, daß der Jude nicht mehr und nicht weniger als ein Pfund Fleisch schneiden dürfe. Er mahnt zum Vergleich, aber Moschus lehnt ab. Die Richter werden wieder geholt, schließen sich der Meinung des Bruders an und sprechen dem Kläger auch die Schuldsumme ab.

Musophilus hat vorher sein eigenes Mißgeschick erzählt: als er, ausgeplündert, am letzten Abend seiner Reise in einer Kapelle hat übernachten wollen, da schlachteten Fremde vor seinen Augen dort ein Kind und zapften ihm das Blut ab. Und da er morgens von den Bauern bei der Leiche gefunden wird, hält man ihn für den Mörder. Nun aber erkennt er in Moschus einen der wirklichen Mörder. Den lassen die Richter binden und überantworten ihn dem Spruch des Fürsten.

Der letzte Akt löst, ähnlich wie im »Kaufmann von Venedig«, alles in eitle Freude und Wohlgefallen auf. Der Vater dankt seinem gelehrten Sohne für die Errettung des anderen und sieht nun den Wert der gelehrten Studien ein. Musophilus wird zum Fürsten gerufen. Er kehrt hochgeehrt und mit einer goldenen Kette geschmückt zurück. Inzwischen ist seine Braut »Sophia« (Weisheit) eingezogen und wird ihm von Pallas Athene persönlich in die Arme geführt.

Das Stück hat auch seinen Narren, der für Witz und Tumult sorgt. Das Neue, das Rosefeldt der Fabel hinsichtlich des Juden hinzufügt, ist die Ritualmordlegende, sowie die Figur des jüdischen Dieners, der genau so schlecht ist wie sein Herr.

 

Noch ist eine serbische Absplitterung der Fabel zu nennen: Der leichtsinnige Bummler und Musikant Omer leiht, um heiraten zu können, von dem Juden Isakar dreißig Beutel Gold. Nach sieben Jahren soll er sie zurückzahlen oder der Jude soll ihm ein Lot Fleisch von der Zunge schneiden dürfen. Die Sache kommt vor den Richter, in dessen Gunst Omers Frau, die schöne Mëira, sich eingeschmeichelt hat, so daß er ihr gestattet, sich zu verkleiden und an seiner Stelle Recht zu sprechen. Sie tut es in der bekannten Weise. Der Jude muß noch dreißig Beutel dazu zahlen, die Mëira ihrem geliebten Omer nach Hause bringt. »Und damit man auf diese Sache nicht wieder zurückkomme«, sagte der Richter, »werde ich sie in mein großes Buch einschreiben.« (Louis Leger, Collection de Contes et de Chansons Populaires, Band V, Paris, 1882.)

Und nun landen wir wieder auf der englischen Insel. Hier haben sich in der elisabethanischen Zeit auch die fleißigen Balladendichter der Fabel bemächtigt. Die Wahrscheinlichkeit spricht dafür, daß sie den Stoff erst behandelt haben, nachdem er durch die Bühne populär geworden war.

Eine Ballade heißt: »The Ballad of Gernutus or the Jew of Venice« und ihr Untertitel: »A New Song, showing the crueltie of Gernutus a Jew, who lending a Marchant an hundred Crownes, would have a pound of his Flesh, because he could not pay him at the day appoynted«. Die Liebesgeschichte fehlt. Eine andere Ballade heißt »The Northern Lord«. In ihr hat ein Herr von Stand zwei Töchter, eine braun- und eine blondhaarige. Wer die Braune freit, soll ihr Gewicht in Gold bekommen, das der Vater von dem Freier der Blonden verlangt. Ein Ritter, der um diese wirbt, leiht sich das Geld von einem Juden unter der bekannten Bedingung. Um den Folgen seiner Zahlungsunfähigkeit zu entgehen, flieht er mit Weib und Kind nach Deutschland. Hier wird er von dem Juden vor das Gericht des Kaisers zitiert. Als Retterin tritt seine Frau auf.

Diese Balladen waren eine ausschließlich aufs Stoffliche gerichtete, rohe und grobe Literaturgattung. Bemerkenswert ist, daß die zuerst genannte den Namen des Juden in »The Three Ladies« in leicht abgewandelter Form verwendet. Sie bezieht sich in ihrer ersten Strophe auf italienische Erzähler – ob damit Giovanni Fiorentino gemeint ist, muß dahin gestellt bleiben:

»In Venice Town not long agoe
a cruell Jew did dwell
Which lived all on Usurie
as Italian writers tell.«

Um von dem Ton, insbesondere aber auch von der wilden Tendenz der Ballade gegen den jüdischen Wucherer eine Anschauung zu geben, seien hier ihre nächsten fünf Strophen übersetzt:

»Gernutus war der Jud' genannt,
Der nie zu sterben geglaubt
Und nie was Gutes hat getan
An denen, die Obdachs beraubt.

Sein Leben glich dem einer Sau,
Die hinlebt Tag für Tag
Und nie an etwas Gutes denkt,
Bis sie einst fällt der Schlag.

Auch glich er einem Haufen Mist,
Der stinkt in einer Eck';
Und niemals wem zunutze ist,
Bis man ihn kehrt hinweg.

So steht es mit dem Wucherer,
Der Schlaf flieht ihn zur Nacht,
Aus Furcht, ein Dieb käm' über ihn
Und holt' ihn aus dem Schacht.

Sein Herz denkt an kein ander Ding
Als an der Armen Trug,
Sein Mund ist schon fast voll von Schmutz,
Doch hat er nie genug.«


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