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Auf den ersten Blick ist es merkwürdig genug, zumal für den Nichtengländer, daß Shakespeare dem Juden von Venedig einen englischen Namen gegeben hat. Um so merkwürdiger, als im sechzehnten Jahrhundert alttestamentarische Namen in England besonders stark verbreitet waren. Denn die Puritaner haben ihre Kinder mit Vorliebe nach den Gestalten Israels genannt. Damit haben sie ihre Verehrung für dieses Volk zeigen wollen, dessen Helden sie wie ihre eigenen hochgehalten haben. Zugleich wurde darin auch ihre Abneigung gegen die kirchlichen Kalenderheiligen und ihre Taufnamen deutlich. Der »Dictionary of National Biography« enthält für die Zeit von 1560 bis 1580, um von den geläufigen biblischen Namen zu schweigen, die Vornamen Abdias, Amos, Ezechiel, Gamaliel, Helkiah, Hezekiah, Nathaniel und andere. Schon deshalb ist die vielfach vertretene Auffassung nicht von der Hand zu weisen, daß das Wort Shylock die Anglisierung eines biblischen Namens ist.
Im Drama treten neben Shylock an jüdischen Personen seine Tochter Jessica und sein Freund Tubal auf. Außerdem wird noch der Jude Chus genannt. Es liegen also vier Namen von Juden vor. Und alle vier, auch die vermutlich hebräische Form für Shylock, sind im zehnten und elften Kapitel der Genesis enthalten, die von Noah an eine genealogische Tafel aufstellen. Es lohnt sich, diese zu verfolgen.
Noah hatte drei Söhne: Sem, Ham und Japheth. Sems dritter Sohn ist Arphachsad und dieser hatte einen Sohn, der Schalach oder Schelach, griechisch: Salah hieß. Schalach oder Schelach wird als hebräische Urform von Shylock bezeichnet. Schelach ist über sechs Zwischenglieder hinweg der Urvater der drei Brüder Abraham, Nahor und Haran. Haran hatte zwei Töchter, deren eine Jiska heißt. Jiska, italianisiert, ergibt Jessica. Demnach sind Schelach und Jiska Nachkommen Sems – »Semiten«.
Chus ist ein Sohn Hams, des zweiten Sprößlings von Noah, also ein »Hamite«. Von Noahs drittem Sohn Japheth stammt Tubal ab, er ist dessen fünfter Sohn – ein »Japhethite« also.
Dieser Plan der Namensgebung entbehrt nicht der Ironie. »Juden«, wenn man den Begriff weit und anachronistisch aufzufassen bereit ist, sind nur Shylock und Jessica. Tubal und Chus sind, ihren Namen nach, Nicht-Semiten, Nicht-Juden.
Dieses Spiel des Dichters mit den vier Namen ist nicht ohne Reiz und Hintergrund. Man kann allerhand Vermutungen daran knüpfen, wenn auch gewiß keine schlüssige Folgerung. Hat vielleicht Shakespeare durch die Wahl ganz entlegener, »noachitischer« Namen die puritanische Sitte alttestamentarischer Namensgebung ironisieren wollen?
In jedem Fall aber überrascht, daß er den biblischen Namen Schelach anglisiert hat. In all seinen im Süden spielenden Stücken findet sich kaum eine andere wichtige Figur, der er einen englischen Namen gegeben hätte, es sei denn, daß der Name eine komische oder sonst charakterisierende Wirkung haben soll. Warum hat also gerade der Jude von Venedig einen englischen Namen bekommen? Diese Frage kann nur mit Vermutungen beantwortet werden.
Was bedeutet Shylock? »Shy heißt scheu, argwöhnisch, schlau, scharf. Lock ist ein Verschluß, ein verschlossener Raum, eine Spelunke, eine Diebeshöhle.« Gustav Landauer, dem diese Erklärung entnommen ist, verdeutscht den Namen in »Scheuloch«. Lock bedeutet aber auch, nach dem Oxford Dictionary, Umfassen oder Kunstgriff. Nimmt man die Bedeutung der beiden Namen zusammen, so lösen sie von ungefähr die Vorstellung aus, die im England Shakespeares von den Juden geherrscht haben mag. Sie galten vom Mittelalter her sowohl als verschlossene und heimtückische, wie auch als schlaue und gefährliche Menschen. Das Wort »Jew« war zu einer Typenbezeichnung geworden. Brabanter und Italiener wurden Jews genannt, besonders wenn sie Trödler, Pfandleiher oder Kleiderhändler waren. In dem Wort hat sich das englische Mißtrauen gegen allerhand Ausländer gesammelt. Man ist daher versucht anzunehmen, daß der Name Shylock eine Spezialisierung und Verstärkung des abschätzigen »Jew« ausdrückt.
Es ist nach alledem nicht nur nicht ausgeschlossen, sondern sogar wahrscheinlich, daß Shakespeare die gleiche Methode der Benennung angewandt hat wie etwa bei Sir Toby Belch oder dem Richter Shallow und vielen anderen, allerdings sonst immer komischen Figuren seiner Dramen. Er mag die Charakterisierung des Mannes schon mit dem Namen begonnen haben. Der Name schon ist eine Brandmarkung, freilich eine, die – wenn man sie gegen das Verhalten Shylocks im Stück stellt –, ironische, fast sarkastische Nebenbedeutung bekommt. Denn, wie wir noch ausführlich zeigen werden, läßt Shakespeare seinen Juden sich durchaus nicht als ein Shy-lock benehmen. So, wenn man diese Deutung annimmt, würde auch der Name zu jenem Helldunkel beitragen, in das der Dichter die Judenfigur getaucht hat …
Möglich ist allerdings auch, daß der Name eine uns heute nicht mehr erklärliche Anspielung auf Lopez enthält.