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Julius Pascin

1885 – 1930

siehe Bildunterschrift

Julius Pascin, Ruhendes Mädchen.

Es ist nicht ganz leicht, zur Schönheit der Pascinschen Bilder, Aquarelle und Zeichnungen, vorzudringen. Denn man muß erst einen Ekel überwinden. Besonders schwer fällt es dem deutschen Kunstfreund, weil er gewöhnt ist, mit einer idealen Formenschönheit der Kunst immer auch etwas stofflich Edles, Bedeutendes oder Romantisches zu verbinden. Der französische Betrachter hat es leichter, weil der jüdische Rumäne, der seinen Namen so geschickt umstilisiert hat, in Paris heimisch ist und nur von seiten der französischen Tradition ganz zu verstehen ist. Obwohl er auch wiederum nie ganz die Atmosphäre Münchens und des Simplizissimus verleugnen kann. Er steht am Ende einer Linie, die schon bei Fragonard beginnt, die über den Zeichner Gavarni geht, über Lautrec verläuft und auch den englischen Spätling Beardsley berührt. In Frankreich kannte man den Trieb, der der Kunst Pascins eigentümlich ist, bereits früh im neunzehnten Jahrhundert – den Trieb, im Milieu sozialer Verkommenheiten die Blume einer neuartigen Schönheit zu pflücken. Der große Daumier hat diesen Trieb legitimiert, Degas hat ihn geadelt, Lautrec hat ihn genial raffiniert, und viele weniger bedeutende Talente sind gefolgt. Es ist bezeichnend, daß sie alle zugleich Karikaturisten und Virtuosen der reinen, der schönen Form gewesen sind. In unserer Zeit sind diese beiden Elemente ja überhaupt fest verwachsen: Karikatur und Artistik. Aus dem sozial Grotesken springen den Zeichnern neue Formreize überall entgegen. In diesem Sinne gewinnt auch Pascin mit seinem geistvollen Talent aus dem übelriechenden Milieu öffentlicher Häuser eine zarte und zierliche Schönheit. Bei ihm lebt, wie bei Lautrec in viel ursprünglicherer Weise schon, das Rokoko – das am Hofe des fünfzehnten Ludwig geborene Rokoko, in dem sich eine kleine Renaissance der Gotik gesellschaftlich lüstern und schäferlich tändelnd verbirgt – im Milieu des Montmartre wieder auf. Es ist nun ein Bohême-Rokoko, im Sinne etwa der leichten und zierlichen Schilderungen Henri Murgers. Doch tritt bei Pascin an die Stelle des »kleinen Mädchens« die Vorstadtdirne. Trotzdem in ihr bei Pascin immer auch etwas halb Asiatisches, etwas Rumänisches noch ist, trotzdem ihre groteske Verkrüppeltheit und Gemeinheit oft schlechthin Abscheu erregt, kann man diesen Künstler doch einen kleinen nachgeborenen Watteau des Bordells nennen. Er trägt mit seinen verwegenen Zierlichkeiten, mit seiner das Häßliche umschreibenden Grazie in das Milieu sittlicher Verworfenheit eine gewisse Boccaccioanmut. Sein Rokoko ist durch den Impressionismus gegangen, es hat die Elemente der neuesten Kunst in sich aufgenommen, und ihm ist der Kubismus nicht fremd. Der Impressionismus wird darin dekorativ, ornamental und handschriftlich; aber er wird in keiner Form kunstgewerblich. Es ist schon Beweis eines nicht gewöhnlichen Talents, zwei so verschiedene Welten, wie die des Stoffes und der Form bei Pascin sind, ästhetisch glaubwürdig zusammenzuschweißen. Es riecht das Leben, das Pascin darstellt, nach der Pistole, nach Syphilis, Irrenhaus und Morgue, und alle Gestalten tragen den Stempel des Tierischen; und dennoch ist überall in der Darstellung auch Schönheit und Anmut. Es ist, als ob ein vollkommen amoralischer Mensch, ein sehr intellektueller, eindrucksfähiger, aber ziemlich willenloser Mensch, den sein Talent gewissermaßen besitzt, instinktiv die einzige Gelegenheit gesucht und gefunden hätte, die es dem Maler und Zeichner in unserer angekleideten Zeit erlaubt, die Nacktheit in ihrer Natürlichkeit zu sehen. Es ist, als sei Pascin der Natur des menschlichen Körpers bis ins Bordell nachgegangen. Der Natur im Entkleideten, in der häßlichsten Unnatur. Wie Degas aus der künstlichen Welt des Varietes oder des Balletts eine neue Wahrheit hervorgeholt hat, so sieht Pascin – künstlerisch freilich tiefer stehend als Degas – dasselbe im Freudenhaus. Er sucht den beziehungsvollen Reiz, der entsteht, wenn durch das an sich Häßliche und Gemeine der ewige griechische Rhythmus hindurchklingt, wenn das Urgesetz der Schönheit mit dem sozial Deformierten spielt. Es reden die Bilder und Zeichnungen Pascins darum, sicher ohne es zu wollen, von der Allgegenwart der Schönheit; sie helfen den Satz erklären, daß es eigentlich gar nichts Häßliches in der Welt gibt, daß, optisch betrachtet, alles schön sein kann, und daß diese Schönheit überall naiv und anmutig bleibt.

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Julius Pascin, Junges Mädchen.

Von Toulouse-Lautrec wird erzählt, er hätte seine schönsten Blätter der Yvette Guilbert oder anderer Varietégrößen, er hätte seine unsterblichen Illustrationen des Pariser Lebens oft gleich in den Redaktionsräumen der Revuen, für die er arbeitete, gezeichnet, im Kreise anderer Mitarbeiter, die Zigarette zwischen den Lippen, von dem, was er eben darstellte, lebhaft erzählend und in dieser Weise sich selbst anregend und anstachelnd. Unter zynischen Bemerkungen und leichten Witzen, die Reize des am gestrigen Abend Gesehenen mit empfindlicher Phantasie nachkostend, gelang es ihm dann, in lauter Andeutungen Extrakte zu geben und jene Akzente zu zeichnen, die sich seinem genial zusammenfassenden Blick eingeprägt hatten. An solche Arbeitsweise mag man auch vor den Zeichnungen Julius Pascins denken. Diese Arbeitsweise hat der Hamburger Maler Ahlers-Hestermann einmal in einem reizenden Aufsatz über den Künstlerkreis des Café du dôme in »Kunst und Künstler« geschildert. »Pascin«, erzählt er, »saß im Café, ließ sich Schreibpapier bringen, und den Kopf dicht über den spitzfingrigen Händen, bedeckte er Blatt für Blatt mit Zeichnungen, tönte sie mit Kaffeeresten oder brannte Schwefelhölzchen an und fuhr mit dem gilbenden, noch warmen Ding an den Konturen herum, verdünnte Tinte mit Selterswasser, packte auch Aquarellmaterial aus, warf die mißglückten Sachen unter den Tisch und verbreitete so eine anmutende Schweinerei um sich her«.

Betrachtet man Pascins Zeichnungen, so sieht man ihn vor sich, wie er in der Großstadt spaziert, wie er am Strand in den Modebadeorten umherschlendert, wie er die Vergnügungsplätze besucht, im Café sitzt, dann wieder bis zu den Fortifikationen vordringt, um die etwas bängliche Romantik dieser Gegend zu genießen, oder wie er auch wohl Ausflüge aufs Land unternimmt. Überall sieht man ihn im Vorbeigehen skizzieren oder auch nur kurze Formnotizen machen; abends, nach der Mahlzeit, sitzt er dann im Café und formt zeichnend die Eindrücke des Tages, wie ein anderer seine Gedanken in Worten dem Tagebuch oder einem Brief anvertraut. Man sieht Pascin im abendlichen Lokal die Exemplare der Menschengattung, die ihm durch irgend etwas ausdrucksvoll Groteskes interessant sind, mit boshafter Bonhommie aufs Korn nehmen, und verfolgt ihn in dieser Weise durch halb Europa. Paris ist und bleibt das Hauptquartier, dann kommen Ausflüge in die Provinz, nach Rouen oder anderen bequem erreichbaren Städten, eine Reise durch die Badeorte der Kanalküste schließt sich an, Belgien, Ostende und Antwerpen folgen, dann geht es in die südöstliche Heimat und, über Budapest, wieder nach Paris zurück.

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Julius Pascin, Zeichnung aus dem »Sommer«.

Das Leben ist mit großstädtischem Interesse gesehen und von diesem Interesse aus sozusagen optisch beurteilt; selbst die freie Natur hat den großstädtischen Zug. Zu den zarten und anmutigen Andeutungen, die Pascin gibt, dichtet man wie von selbst die Eisenbahnen, die Dampfschiffe, die Automobile, das Boulevardgedränge, die Menschenmassen in den Cafés und Varietés, den Stimmenlärm am Strand, das Hin und Her in den Hotels und die tausendfältige Verliebtheit großstädtisch zivilisierter Menschen hinzu; man hat die Vorstellung von brodelndem Leben. Und das ist der schönste Triumph, den ein Zeichner erzielen kann.

Pascin ist, wie seine Zeichnungen ausweisen, ein gut Teil Zyniker; aber er ist auch empfindsam. Er kennt die Großstadtmenschen so gut wie Maupassant, doch ist er zugleich ein Stück Romantiker. Ein Romantiker des an sich Unromantischen. Er deutet die heimliche Phantastik des modernen sozialen Lebens an, aber er deutet nichts hinein. Sein Zeichnen ist rücksichtslos, doch gibt sich das Rücksichtslose mit Takt und mit feinstem Geschmack. Nichts ist Pascin weniger als ein Schönling, eher ist er schon in das Groteske und interessant Häßliche verliebt; dabei drückt er sich aber graziös aus. Er liebt die Menschen in all ihrer Tierchenhaftigkeit und sozialen Verkrüppelung. Der schmächtige kleine Mann mit dem schmalen Gesicht, dem scharfen Profil und den sinnlich weichen, müden und doch so scharfen Augen hat das Leben seiner Zeit in den Nerven. Er kümmert sich den Teufel um Weltanschauung; und doch sind seine Skizzenbücher Dokumente einer geschlossenen Weltanschauung. Nur geht sie nicht durchs Gehirn, sie wird nicht vom kategorischen Imperativ regiert; sie geht durch das sinnliche Lebensgefühl, ihr Organ ist das Auge, und sie lebt in einer Atmosphäre von Erotik. Pascin ist einer der wenigen Zeichner, die eine umfassende Erotik vollständig in Kunst zu verwandeln wissen und die darum das Bedenklichste schildern dürfen. Denn was das Talent kraft seiner Formanschauung gestaltet, ist nie unsittlich, mag der Gegenstand sein wie er wolle. Das Talent macht alles edel, was es berührt. Pascin darf sich gehen lassen, weil der Künstler dem Menschen stets den rechten Weg und die Grenzen weist. Wenn ein Blatt künstlerisch befriedigt, so braucht er sich, so brauchen wir uns um weiteres nicht zu kümmern.

Pascins Arbeiten sind ungleich, weil es die talentvollen Arbeiten eines Dahintreibenden sind; es ist viel Zufälliges darin, und sie zehren vom Glück der Zufälligkeiten. Aber sie sind bei alledem so voll feiner Werte, daß man ihnen nicht aus dem Wege gehen kann, selbst wenn der Stoff verstimmt. Man muß es hinnehmen, daß die von weitem an der Wand ganz juwelenhaft kostbar wirkenden Werke einen beim Nähertreten gewaltsam oft wieder zurückstoßen. Man muß es hinnehmen, weil der moralische Einwand nutzlos wäre gegenüber einer Begabung, die ihrer Bestimmung folgt. Es wäre töricht zu dozieren: die Kunst soll+… und die Kunst muß+… Die Kunst wächst, wie sie will. Sie ist wie eine zweite Natur; auch dann noch, wenn sie, wie hier, eine schmarotzende, getigerte Orchideenschönheit, die nur auf Sumpfboden gedeiht, hervorbringt. Wer durch das Stoffliche hindurch, über die Gegenstände hinaus zu sehen versteht, wird vor Pascins Arbeiten Genuß haben. Er wird einen außerordentlichen Zeichner kennen lernen, der mit zaghafter Treffsicherheit darstellt und dessen leiser Griffel mit dem Laster versöhnen kann, weil er es in eine Atmosphäre der Wertlosigkeit zu bannen versteht; er wird sich mancher mageren Mädchengestalt erfreuen, in deren Körper die Anmut eines pompejanischen Hellenentums auflebt, halb monumental skulptural, halb süßlich illustrativ; er wird in den Bildern Ansätze zu einer gewissen innerlichen Größe erkennen und sich einer kultivierten Malerei erfreuen, die über das nackte Fleisch einen zarten Jubel von oszillierenden und irisierenden Tönen breitet, eine reiche und weiche, porzellanartige Farbigkeit, und die in ihrer renoirartigen Lust am heiter Blühenden doch immer wahr bleibt, immer von der Beobachtung und vom Modell ausgeht. Es ist in dieser Kunst, die von einem so wüsten Stoff lebt, in Wahrheit ein echter Idealismus: der Idealismus des Geschmacks. Aber er entartet nicht zum Geschmäcklerwesen. Denn aus einem Milieu des Puders und dick aufgetragener Schminke weiß der Artist Pascin, in seinen besten Arbeiten, auch die ungeschminkte Natur hervorzulocken. Man muß dieses Talent an sich selbst messen. Stellt man es neben Daumier, so erscheint es natürlich knabenhaft schwächlich. Daumier holte aus dem sozialen Stoff der Gasse, des Elends und des Lasters die Tragödie herauf, sein Temperament gestaltete alles, was es anpackte, dramatisch. Es war etwas wie ein Dante des Bourgeoisregimes, ein Michelangelo der Hintertreppe; ihm geriet alles Karikaturale ins Große, Elementare und Monumentale und alles Erhabene ins Groteske. Daumier war bürgerlichdämonisch und hatte das große Pathos. Pascin holt aus derselben Lebenszone den Operettenstoff hervor. Er gleicht am meisten vielleicht dem stammverwandten Jacques Offenbach, dem längst noch nicht vergessenen Komponisten geist- und melodiensprühender Operetten. Auch in Pascin ist dieselbe naive Travestierungslust, die Offenbach zum Spötter der Griechengötter machte, dieselbe grazile Amoralität, dieselbe künstlerische Genußfreude und dieselbe feine, treibhaushaft blühende und duftende Romantik, wie sie uns aus »Hoffmanns Erzählungen« entgegenkommt. Man braucht nur die Landschaftszeichnungen Pascins anzusehen, um diese Romantik zu erkennen. Und hat man sie dort erst erkannt, so findet man sie dann auch in den Szenen aus den öffentlichen Häusern wieder. Es ist die Romantik des laisser faire, laisser aller.

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Julius Pascin, Auf dem Sofa.

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Julius Pascin, Liegendes Mädchen, Aquarell.

Der Amor, in dessen Dienst die Kunst Pascins steht, ist in Wahrheit ein recht heruntergekommener Liebesgott. Seine Flügel sind befleckt vom Schmutz der Gosse, in seinem Knabenlächeln ist Zynismus, seine magere Kindergestalt läßt eher an die Portierloge denken als an den Olymp, und er zielt mit seinem Pfeil – wie Pascin es einmal zeichnend dargestellt hat – nicht mehr aufs Herz der Schönen, sondern tiefer hinab. Aber es ist trotz alledem Amor, der göttliche Knabe. Man glaubt ihm, trotz des Gestanks der Sünde, der um ihn ist, daß er fliegend sich über das Gemeine erheben kann. Man glaubt ihm sogar, im Bordell, sein Abenteuer mit Psyche.

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Julius Pascin, Straßenbild mit Karren aus dem »Sommer«.


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