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Max Klinger †

1857 – 1920

siehe Bildunterschrift

Max Klinger, Eine Mutter, Radierung. Mit Erlaubnis von Amsler & Ruthardt, Berlin.

Wie das Verhältnis unserer besten Künstler zu Max Klinger beschaffen war, das konnte man im Frühling 1909 beobachten, als in der damals noch nicht gespaltenen Berliner Sezession, inmitten einer Gesamtausstellung von Arbeiten Klingers, das Brahmsdenkmal gezeigt wurde. Am Abend vor der Eröffnung hatte die Sezession in den oberen Räumen ihres Hauses dem Künstler ein Bankett veranstaltet, bei dem es ehrende Ansprachen, Hochrufe und andere Beweise einer hohen Schätzung gab; nach aufgehobener Tafel aber, während Klinger im Kreise der Häuptlinge ausruhte, zogen ununterbrochen kleine Gruppen von Künstlern und Kunstfreunden in die Ausstellungsräume hinab, umstanden das neue Marmorwerk und begannen in der schärfsten Weise darüber zu räsonieren. Von Zeit zu Zeit konnte man sogar das Wort Kitsch durch den Raum sausen hören. Beides aber, die Kritik unten und die Feier oben, war durchaus ehrlich gemeint, beides ging natürlich nebeneinander her, die Künstler fühlten keinen Widerspruch.

Eine ähnliche Situation wird von einer hübschen Anekdote beleuchtet, die ein französischer Schriftsteller aus der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts überliefert hat. Bei einem offiziellen Fest im Palais Royal standen einige der berühmtesten Pariser Künstler im Gespräch beieinander. Sie redeten von Ingres. Delacroix fragte Vernet: »Was finden Sie eigentlich so bewundernswert an Ingres? Seine Zeichnung?« »Nein,« antwortete Vernet, »er zeichnet wie ein Kaminkehrer.« »Seine Farbe?« fragte Delacroix. »Unsinn, er malt ja Stroh.« »Komposition?« »Lächerlich, keinen lebendigen Menschen bringt er zusammen, sehen Sie doch das Symposion, ein Durcheinander wie ein Möbelwagen.« »Was also? seine Formen, seine Auffassung?« »Formen! Auffassung! Sie sind toll. Er malt doch nur Gliederpuppen.« »Dennoch,« sagte Delacroix nachdenklich, »trotz seiner Fehler ist Ingres ein tüchtiger Maler.« Da machte Vernet einen Satz und schrie: »Ingres, tüchtiger Maler? Er ist der größte Künstler der Gegenwart!«

siehe Bildunterschrift

Max Klinger, Pietà. Mit Erlaubnis der Photograph. Gesellschaft, Berlin.

So ergeht es auch Klinger ein wenig, wenn Künstler und Kunstfreunde über ihn diskutieren. Sie wollen weder von dem Bildhauer noch von dem Maler viel wissen, und den Radierer lassen sie auch nur bedingt gelten; seine Zeichnung nennen sie akademisch und kalt, die Formen seiner Skulpturen finden sie unplastisch und ohne rechtes Gefühl für Form, und seiner Phantasie werfen sie die literarisch-philosophische Richtung vor. Aber sie sind doch jederzeit bereit, Klinger, als einen der ersten, zum Ehrenmitglied der deutschen Künstlerschaft zu ernennen. Die einzelnen Werke werden mehr oder weniger schroff abgelehnt, die gestaltende Persönlichkeit aber, die dahinter steht, wird mit größtem Respekt behandelt.

Der Fall Klinger ist so recht ein deutscher Fall. Da ist ein Künstler, der sich mit eiserner Energie und glänzender Geistesdisziplin ein ungewöhnliches Können erworben hat, dem dieses Können aber doch immer etwas in zweiter Linie Stehendes blieb. Das Entscheidende in Klinger ist sein Wollen; im Wollen ist er genial. Darin wurzelt auch sein merkwürdiger Universalismus. In unserer Zeit der Arbeitsteilung auch im Künstlerischen ist es ganz ungewöhnlich, daß ein Künstler zugleich als Graphiker, Maler und Bildhauer ein Meister heißen will und obendrein als Schriftsteller Ehrgeiz bekundet. Klinger ist nicht mit einem bestimmten Handwerk fest verwachsen. Er ist vielmehr ein hervorragender Vertreter jener Geistesrichtung, die ein geistreicher Biograph Conrad Ferdinand Meyers, Franz Ferdinand Baumgarten, mit dem Wort »Renaissancismus« gut bezeichnet hat. Dieser Renaissancismus, dem die zweite Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts gehört und der – um einige Beispiele zu nennen – in Deutschland verkörpert worden ist von Malern wie Böcklin und den Deutsch-Römern, von einem Bildhauer wie Begas, von den Baumeistern zwischen Semper und Wallot, von Dichtern wie Conrad Ferdinand Meyer und Paul Heyse und von Männern der Wissenschaft wie Jakob Burckhardt und Friedrich Nietzsche, verhält sich zu dem Klassizismus der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts ungefähr, wie sich im großen die italienische Renaissance zur Antike verhält. Das Wesen dieses Renaissancismus besteht darin, daß er aus der Kultur der italienischen Renaissance Begriffe und Formen entlehnt hat, um ein neues Machtgefühl geistig darzustellen, daß er der Bildung der neuen Zeit den Schein schöpferischer Genialität geben wollte, daß er der Persönlichkeit wieder eine Art von Epigonenselbstherrlichkeit erträumte und mit heftigem Ehrgeiz die sogenannte »große Form«, den »bedeutenden Gehalt« suchte. Allen Renaissancisten ist die weitausholende Geste eigen, die Lust an sensationeller Ideensteigerung und am Szenarischen. Die Idee – aber nur sie – stellt sich kühn an die Seite der Herrenmenschen und großen Immoralisten. Cesare Borgia sitzt am Schreibtisch, eine Kompresse auf dem Kopf, und stürzt die Konventionen um, Michelangelo unternimmt eine Reise von Berlin nach Rom und sucht dort einen »Stil«, und Bramante empfängt Aufträge für Miethausfassaden von Grundstücksspekulanten. In dieser Zeitgesinnung wurzelt auch Klingers Lebenswerk. Wesentlichen Anteil daran hat eine edle Unzufriedenheit mit der scheinbaren Dürftigkeit der Lebensformen, ein Bildungsehrgeiz, der hinter früheren Zeiten nicht zurückstehen will. In der Persönlichkeit Klingers hat der Bildungsdrang unserer Epoche ein geniales Werkzeug gefunden. Darum ist bei ihm das Zeichnen, Malen und Modellieren im wesentlichen ein metaphysisches Denken, darum vermischen sich in seinem Werk die Künste, darum träumt er mit intellektueller Kühnheit vom Gesamtkunstwerk, darum erfüllt ihn leidenschaftlich die Absicht zur Synthese und meint er, die historischen Formen durchgrübelnd, was man denken kann, müsse sich auch darstellen lassen.

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Max Klinger, Die Violinspielerin. Mit Erlaubnis von E. A. Seemann, Leipzig.

Durch die Welt Klingers schreitet der Heldenjüngling dahin, der sich gymnastisch seines nackten Körpers freut; doch merkt man diesem Griechentum immer auch den Aktsaal an. Oft erklingt das Motiv vom Weib als Beglückerin, Verlockerin und Verderberin; aber wenn das üppig entblößte Fleisch auch auf eine starke sinnliche Natur schließen läßt, so hat die Sinnlichkeit doch wenig teil an der Formgestaltung. Wasser, Erde und Luft sind mit Elementargeistern bevölkert, eine klassische Walpurgisnacht zieht vorüber; doch haben meistens die Gedanken die Form, selten nur die Formen den Gedanken erschaffen. Die Ideen verdichten sich zu Symbolen: Christus naht mit einem leidseligen Gefolge den heiteren Göttersitzen des Olymps – der Tod tanzt über die Höhen und Tiefen des Lebens dahin – und die Zeit schreitet ehern über zuckende Leiber. Immer wieder taucht die Gestalt der Medusa auf, doch schreitet sie durch arkadische Landschaften dahin. Musik verdichtet sich zu Geisterzügen, Melodien gewinnen Gestalt und füllen den Raum des Ozeans, und über diesem Schattengewimmel thront die Kolossalstatue Beethovens als Halbgott. Bei schwälender Kerze arbeitet der Zeichner, und es nimmt der Rauch die Gestalt dessen an, was seine nach dem Ungeheuren langende, in eine feindliche Welt verschlagene Seele sinnt. Jeder Gedanke, jede Form wird dramatisch gesteigert; das Dramatische aber ist zugleich das Festliche. Prometheus selbst scheint an der Arbeit. Und doch ist es nicht Prometheus; denn der belebende Odem fehlt. Ein Universum von Form und Gestalt, umschränkt jedoch von den Mauern einer unsichtbaren Akademie; der Gedanke vom Übermenschen blickt durch die funkelnden Brillengläser des Gelehrten; ein selbstherrliches Können bleibt der Idee dienstbar. Obwohl in diesem stolzen Lebenswerk alles reine und endgültige Form zu sein scheint, obwohl die Form sich mit stählerner Bestimmtheit von der Spitze der Radiernadel löst, mit knapper Sicherheit unter dem Meißel hervorspringt und virtuos fast aus dem Pinsel fließt, und obwohl alle Formen dann auch zu einer Stileinheit zusammengehen: etwas fehlt. Es fehlt der um Vollkommenheit ringenden Form die Zeugungskraft.

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Max Klinger, Salome. Mit Erlaubnis von E. A. Seemann, Leipzig.

Dieses alles soll nicht Verkleinerung sein. Obwohl Männer sich nicht besser ehren können, als wenn sie voneinander – und von sich selber – zuzeiten sprechen, als seien sie schon historisch gewordene Erscheinungen. Wir haben uns nicht selbst geschaffen, wir alle sind Träger eines Müssens. Persönlich verantwortlich sind wir nur für das, was wir aus der angeborenen Anlage machen; nicht für die Art sind wir Rechenschaft schuldig, sondern bestenfalls für den Grad. Fragen wir nun aber vor der Persönlichkeit Max Klingers, was er auf Grund seiner Bestimmung aus sich gemacht hat, betrachten wir den Menschen, so steht eine Erscheinung voller Größe vor uns. Wahrhaft heldenmäßig hat der bürgerliche Sachse aus Plagwitz sich eine homerische Ideenwelt zwischen Fabrikschornsteinen geschaffen; und ehrfurchtgebietend ist der Handwerksernst, ist die geistige Durchdringungskraft, ist die Vornehmheit des Willens. Was immer man vor dem einzelnen Werk einwenden mag und wie melancholisch auch das besondere Deutsche des Falles stimmen mag: die Persönlichkeit weist über sich selbst hinaus, sie verkörpert die Bildungssehnsucht des Deutschen in den letzten Jahrzehnten des neunzehnten Jahrhunderts. Darum ist Klinger vor allem der Künstler der klassisch Gebildeten geworden. Ihnen ist er mehr gewesen als ein anderer, wenn er mit der Radiernadel über Tod und Leben dachte, wenn er mit dem Pinsel romantisch philosophierte und mit Modellierholz und Meißel Symbole gestaltete. Die klassisch Gebildeten sind recht eigentlich die Bereiter des Klingerschen Ruhmes, sie sind es, die in den Kupferstichkabinetten immer wieder vor seinen radierten Tafeln angetroffen werden. Diese gehen den Weg zu Klinger über Dürer, über Böcklin, über Goethe, durch die Prima des Gymnasiums und durch den Hörsaal der Universität. Ein Reichsverweser des deutschen Idealismus schlechthin ist Klinger diesen allen, die einem romantischhistorischen Kulturprogramm leben, weil er der größte und edelste Programmkünstler der Gegenwart ist.

siehe Bildunterschrift

Max Klinger, Zentaurenspiele. Mit Erlaubnis von E. A. Seemann, Leipzig.


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