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1853 – 1944
Der Norweger Edvard Munch ist langsam, aber stetig in die Rolle eines Stammvaters derer, die sich heute Expressionisten nennen, hineingewachsen; er gilt in diesen Kreisen jetzt als Klassiker. Zur Zeit, als der Impressionismus en vogue war, als unmittelbare Beziehungen zur Natur vom Maler gefordert wurden, stand er immer mehr oder weniger abseits; jetzt aber, wo der Impressionismus von allen Seiten »überwunden« werden soll, wo laut und immer lauter davon gesprochen wird, es sei die Aufgabe der Malerei, Erlebnisse der Seele zu schildern, wird er aus seiner nordischen Einsamkeit hervorgeholt, ins helle Licht der Zeittendenz gestellt und als ein lange verkannter Prophet gepriesen. Er erlebt jetzt ein ähnliches Schicksal wie van Gogh, der zuerst einer der Unverständlichsten schien und der im Laufe der Jahre dann zu einer bedenklichen Popularität gekommen ist. Was hier und dort gewirkt hat, ist der Umstand, daß beide, van Gogh und Munch, wenn auch in sehr verschiedener Weise und mit sehr persönlich geartetem Temperament, Ideenmaler sind, und daß das deutsche Kunstinteresse sich immer wieder zur Ideenmalerei hingezogen fühlt, so große Anstrengungen es zeitweise auch macht, sich einer starken Wirklichkeitskunst hinzugeben. Es ist das phantasievoll Spekulative, es ist die Abstraktion und Symbolisierungslust in Munchs Kunst, was so vielen wie eine Erfüllung erscheint. Das spricht nicht eben für Munch. Betrachtet man seine Kunst genau, so kann man denn auch nicht sagen, daß sie besondere Eigenschaften hätte, die sie jungen Talenten vorbildlich machen könnte. Es sei denn, man stelle über alle Bedenken die Tatsache, daß Munch, bei aller Problematik ein echter Gestalter, eine ursprüngliche Persönlichkeit und ein ganz Selbständiger ist. Ein schöpferisches Talent aber ist schließlich immer vorbildlich, selbst wenn es unmittelbar als Lehrer bedenklich erscheint; ein bedeutender Mensch macht durch sein Dasein allein schon viele der Gefahren wett, die das nicht Nachahmenswerte, aber zuerst immer Nachgeahmte seiner Kunst erzeugen und verbreiten kann. Und ein bedeutender Mensch ist Munch. Er versteht es, einem das Blut schneller durch die Adern zu treiben; denn während er malt, unterhält er sich mit der Ewigkeit, und um ihn ist die große Stille, die nur der sicher in sich selbst Ruhende, der Produktive aushält. Es rührt in der Bilderwelt Munchs ein faustischer Mensch an jenes Geheimnis, daß unser aller Geheimnis ist und dem gegenüber alle Menschen zu Geschwistern werden. Und er tut es gestaltend, als Maler, als Zeichner. Darum ist in seinen Bildern und Zeichnungen jenes Klingende, das prophetisch berührt. Aber er ist bei alledem nicht eigentlich ein großer Künstler. Er ist zu gewaltsam, um es sein zu können; oder vielmehr, seine Gewaltsamkeiten sind nicht bis zum letzten künstlerisch legitimiert. Er ist keiner jener Künstler, die ihr Ganzes immer in jedes Werk zu legen und die ihr Innenleben und ihr Talent darum in jedem Werk so zu objektivieren wissen, daß kleine Vollkommenheiten entstehen, die für sich in aller Ewigkeit leben können. Bei Munch ist die Nabelschnur zwischen Subjekt und Werk fast nie durchschnitten, es sei denn in einigen der meisterhaftesten Zeichnungen. Die Eigenart Munchs tritt einem erst aus der Gesamtheit der Werke siegreich entgegen. In dieser Gesamtheit erst vollendet sich die Persönlichkeit; im einzelnen Werk herrscht meistens das Ungefähr und der Geist der Skizzistik. Das einzelne Bild ist wie ein Embryo und verbreitet etwas von dem Unbehagen, das von allem Embryonischen ausgeht. Münch muß nach der ersten Anlage eigentlich immer schon aufhören, da er sonst seine Ausdruckskraft gefährden würde. Er gibt alles fast in Untermalungen, Lasuren, ihn reizten nicht die Schönheiten einer räumlichen Malerei, es treibt ihn nicht, die schöne Haut der Natur valeurreich und wahr zu malen, sondern er skelettiert die Natur mehr oder weniger, er mystizisiert die Farbe und gibt allen Gegenständen eine seltsame dekorative Irrealität. Er ist ein Improvisator, dem nur im ersten Wurf die zwingende Form für seine seelisch-optischen Impressionen gelingt. Munch ist ein flüchtiger Andeuter von Endgültigkeiten; seine Gestalten erscheinen wie Schemen der Gesetzmäßigkeit. Trotzdem er aber nie zu festen Bildkompositionen kommt, trotzdem der Aufbau in der Regel nach allen Seiten ins Wanken gerät, ist er doch ein Gestalter mit der echten malerischen Bildphantasie. Es gibt viele, die in der Komposition, in der Bildgestaltung weiter gelangen und die mit ihm doch nicht in einem Atem genannt werden dürfen. Auf dem Boden einer alten Tradition wäre Munch zweifellos ein großer Maler geworden. Denkt man sich dieses Talent nicht in Norwegen geboren, sondern in Frankreich – wenn das möglich wäre –, so stellt man sich einen großen Künstler vor. In Norwegen mußte die Form Munchs notwendig problematisch werden und bleiben. Denn nichts bedarf so sehr des sicheren Bodens einer gefestigten Tradition, wie eine Kunst, die nicht von den Objekten der Wirklichkeit ausgeht, sondern von der Imagination und von inneren Gesichten. Norwegen ist nahezu ohne Kunsttraditionen. Was Munch an Elementen brauchte, um seinen inneren Reichtum an optischen Vorstellungen auszudrücken, das mußte er der europäischen Malerei entnehmen. Er hat es mit einer ungeheuer originellen und kühnen Freiheit getan, hat aber doch nicht verhindern können, daß seine Kunst nur ganz von fern national organisch erscheint. Was in dieser Kunst national und organisch wirkt, das ist nicht das Malerische, das Künstlerische, sondern es ist das Menschliche. Das ist allerdings vom Skandinavischen, vom Nordischen, nicht zu trennen. Die Elemente der Malerei aber haben den Charakter des Europäischen. Darum werden sie auch überall in Europa verstanden.
Die fanatisch beseelte Kunst Munchs ist von zwei Seiten zu begreifen: von Seiten ihrer Wahrheit und von Seiten ihrer klanghaften Schönheit. Als Sucher der Wahrheit, oder vielmehr einer für ihn passenden Wahrheit, ist der versonnene Norweger unerbittlich, exaltiert und konsequent bis zur Grausamkeit. Namen wie Knut Hamsun, wie Strindberg kommen einem in den Sinn. Es zeigen sich Züge jenes nordischen Typus, den Ibsen in seinem »Brand« geschildert hat. Die Konstatierungen Münchs sind Resultate eines Kampfs mit dem Schicksal, einer Wut gegen das Leben. Dieser Künstler hat tief die Leiden der Welt gefühlt, er hat seine Lebensangst gestaltet. Seine Erscheinung ist typisch als ein Produkt herrschender geistiger Fieberzustände; er ist einer der bedeutenden Entwurzelten, einer von denen, die auf dem Wege eines konsequenten Nihilismus zu einer neuen Urmystik gelangt sind, die nun in der Nacht der irdischen Kausalität vor jeder Notwendigkeit erschauernd zusammenschrecken und das Übersinnliche tausendfach, in den profansten Lebensformen, verkörpert sehen. Münch sieht in allem Leben den Wurm, unter jeder Schönheit das grinsende Skelett, in der Leidenschaft das Tierische, in allen Schmerzen die Willkür der Natur; und mit Verwunderung, woneben der Wahnsinn seine Arme ausreckt, geht er, als ein mit einem Talent Belasteter, durch dieses verfluchte Leben. Hinter seinen Werken denkt man sich einen Menschen, den Gestalten gleich, wie sie in den Romanen Dostojewskijs brütend durch eine drückende Atmosphäre von Zweifeln schleichen, sich philosophische Systeme bilden und von der Lebensangst zu wahnwitzigem Tun angespornt werden, während daneben immer das Geniale blitzt und gewittert. Darum war dieses triebhafte Talent vor die Riesenarbeit gestellt, seiner Mystik eine neue Kunstform zu finden. Es ist fast unheimlich, zu beobachten, wie es hier gelingt und wie die Qual des Versagens sich an anderer Stelle in Hohn umsetzt, sich gellender Karikaturen bedient, wie dieser Nervenmensch sich dann gebärdet, als sei er roh.
Munch malt etwa, wie ein Haus den Nahenden drohend anglotzt und Empfindungen erweckt, wie man sie einer Marslandschaft gegenüber haben könnte; wie Menschen mit blödem, verlegenem Gruseln, das fast zum verzerrten Lächeln wird, in ein Totenzimmer treten, voll irrer Ratlosigkeit dort umherstehen und sich vor der überlegenen Gelassenheit des Toten schämen. Er malt Mann und Weib in brünstiger Umschlingung, als widerstandslose Opfer des Gattungsgesetzes, Knabe und Mädchen, die in krankem Sehnen dahinsterben, mit denen der Geschlechtstrieb wie mit Marionetten spielt; Menschen gehen durch trostlos dämmernde Straßen, wie eine Herde von Lemuren, kranke, fatalistische Gesichter, deren vom Lebensleid verzerrte Züge in fahlem Gelb aus dem Dunkel hervorgleißen. All diese Verzweifelten kommen von Golgatha, wo ihr Ideal, der süße Jesus ihres Herzens, gekreuzigt ward. Gatten sitzen in dunkler Stube eng beisammen und weinen, daß ihr Schluchzen das stille Haus gespenstisch erfüllt; zwei körperlich eng umgitterte Seelen schreien, kreischen schreckensvoll nach Vereinigung. Dann wieder erscheinen Gruppen hell gekleideter Mädchen, die geheimnisvoll die Köpfe gegeneinanderneigen, wie in den Märchendramen Maeterlincks, oder nackte Jünglinge, die in paradiesischer Urwüchsigkeit hinträumen, oder – in den Bildnissen – Menschen unserer Zeit, sozial determiniert bis zur Karikatur und in allen Männern doch etwas von Adam, in allen Frauen etwas Evahaftes. Ein außerordentlicher, ein fanatisch gesteigerter Wahrheitssinn tritt hervor; doch ist er überall auch voll subjektiver poetischer Phantasie. Es ist darin eine gewisse Flagellantenmystik. Das Erkennen der Dinge ist scharf aber schmerzlich. Und dieser Lebensschmerz erhöht und vergeistigt alles. Munch ist ein Romantiker des Schmerzes; es blickt aus der Kunst dieses einsamen nordischen Wintermenschen von ferne der Wahnsinn van Goghs hervor.
Doch ist Munch bei der Darstellung seiner fatalistisch harten Lebenswahrheiten nicht geblieben. Aus dem Schmerz hervor wächst ihm die Sehnsucht nach einem Paradies reiner Schönheit. Er will sich von der Qual mit Hilfe des Ideals befreien. Er will die Wahrheit melodiös machen; seine sehnsüchtige Natur liebt den Schwung, die Grazie, das Leuchtende und Gefällige. Darum gerät sein Stil zum Dekorativen, zum Ornamentalen; darum sehen wir dem seltsamen Schauspiel zu, daß sich die Hieroglyphen des Lebensleids in einer eigenen, teppichartigen Schönheit vor uns ausbreiten und daß der Maler des Lebensschmerzes als einer der zartesten Charmeure der modernen Kunst vor uns hintritt. Als ein Charmeur, der sich zuweilen zart bis zur Süßigkeit gibt und dessen Kraßheiten alle in einer weichen und seligen Lyrik zu schwimmen scheinen. Es geht aus dem doppelten Wollen ein ornamentaler Symbolismus seltsamer Art hervor, es entstehen Bildornamente voller Lebensmagie und voll realistischer Monumentalität, trotzdem sie immer mehr oder weniger Fragment bleiben. Die Arabeske ist nie banal, nie kunstgewerblich, sie stammt immer aus lebendigen Eindrücken; und der Parallelismus der Komposition ist nie mechanistisch wie bei Hodler. Ungezwungen fließt alles ineinander, getragen von einer Pinselschrift, die mit Ölfarbe gewissermaßen zu aquarellieren versteht. Es ist kein lyrisches Gesäusel wie bei Ludwig v. Hofmann, nichts von holden Mägdelein und bunten Blümelein; diese malerische Lyrik ist vielmehr auf dem Boden der sozialen Not gewachsen, das Ideal wurzelt unmittelbar im irdisch Gemeinen. Wir sehen dem Schauspiel zu, wie eine Lebensverzweiflung in Verzückung umschlägt. Und das geschieht, ohne daß die ihrem Ursprung nach doch literarische Malerei irgendwie literarisch erscheint. Man darf wirklich einmal von Synthese sprechen, denn hier ist sie eine Tat instinktiver Selbstrettung. Es schluchzt die Nähe, aber es jubelt die Ferne. Vorne beugen sich die Gestalten unter der Last ihrer Schicksale; aber hinten auf blauem Meere schwimmt ein buntes Boot in lauter farbiger Herrlichkeit. In den letzten Jahren, in dem Maße, wie er sicherer und reifer wurde, ist Münch besonders nachdrücklich als Porträtist hervorgetreten. Wie man sich denken kann, nicht als Registrator der Erscheinung, sondern als ihr Deuter. Doch deutet er mit einem Ernst und Nachdruck wie ein alter Meister. Da ist ein frühes Doppelbildnis, zwei Männerköpfe, der eine ganz Blondheit, der andere ganz Dunkelheit; es ist eine so natürlich stilisierte, eine so gesammelte Lebendigkeit darin, daß man an die Wucht alexandrinischer Bildnisse erinnert wird. Da ist ferner ein Mann an einem Tisch aus dem Jahre 1908, stupend in seiner Selbstverständlichkeit, in der phrasenlosen Wucht der Stellung, in der Monumentalität der Linie. Nie läßt der Porträtist Munch sich von der Hauptsache abziehen; darum gelingt ihm oft das Lapidare. Die Farbe des Kleides wird stets auch zum Leitmotiv. Munch arbeitet die Farben nicht durcheinander, er trennt sie mit aller Schärfe. Er geht nicht von der Impression des Hell und Dunkel, nicht von den Valeurs aus, sondern von der Impression der Lokalfarben. Selbst in der Landschaft. Sein Stil ist es, die Farben zu separieren; er betont das Scheidende und gewinnt die Einheit durch Harmonien von Kontrast- und Komplementärwirkungen. Das macht seine Kunst koloristisch, das gibt ihr das Flächenhafte und Reiche. Es ist selten, daß ein Maler in dem Maße wie Munch zugleich ein Ergründer und ein Kolorist ist, daß in den Bildern die schöne, teppichartige Wirkung ist und auch die Psychologie der Dinge. Die letzte Tiefe fehlt ja freilich, im Menschlichen wie im Malerischen; aber es ist schon viel, daß die Malerei bei einem so gefährlichen Wollen nur selten leer wird. Sie ist skizzistisch, doch kaum jemals oberflächlich. Sie versteht, im Einfachen reich zu sein, mit einem Nichts an Mitteln viel zu geben und mit einem stark an Lautrec gemahnenden malerischen Esprit – mit dem Esprit des ernsten Menschen – das Eigentümliche jeder Erscheinung darzustellen. Es leben Wenige heute, die aus der Naturfarbe so lebendig die Kompositionsfarbe gewinnen können, die die Natur aus malerischen Grundelementen wieder so vergeistigt aufzubauen verstehen, die in die Flüchtigkeit so viel Richtigkeit legen können.
Und es leben wenige, die als Zeichner und Graphiker eine Höhe wie Munch erreichen konnten. Die Lithographien vor allem sind schlechthin Arbeiten eines Meisters, der mit jubelnden und vor Erregung und Gehalt zitternden Linien das ganz Wesentliche zu umschreiben weiß, und der, bei tiefem Ernst, im höchsten Sinne künstlerisch charmant zu sein weiß. Auch als Radierer, Holzschneider und in kombinierten Verfahren hat Münch Blätter geschaffen, die in der Geschichte der graphischen Künste für alle Zeiten ihre Rolle spielen werden. In allen Schwarzweiß-Techniken erscheint Munch fertiger, abgeschlossener und weniger problematisch als in seinen Bildern. Er ist, wie alle Nordländer, in erster Linie eine Schwarz-weiß-Natur, ein Zeichner; seine Kunst ist vor allem eine Bilderschrift, eine prachtvoll ausgebildete Handschrift, die alle Regungen eines empfindlichen Nervensystems widerspiegelt und die in immer neuen Linienspielen die Eindrücke und Visionen des Lebens mit grell-süßer Romantik umkleidet.
Aus den Selbstbildnissen blickt der Künstler den Betrachter persönlich an. Ein schmaler, wohlgeformter Rassekopf, ein Gesicht voll scheuer Willenskraft, voll gequälter Energie, ein Blick, der sich in die Dinge hineinbohrt – und um die schlanke Adelsgestalt eine Stimmung von Verlassenheit. Ein Romantiker, der nicht zu lügen versteht – ein Meister im Fragmentarischen – ein faustischer Sucher der Harmonie – einer, der vor lauter Gründlichkeit fahrig erscheint – ein Nervöser aus Normannengeschlecht. Man darf der Jugend nicht sagen: ahmt ihm nach. Aber man darf sagen: lernt von diesem Leben, wie man zu sich selber gelangt, lernt von ihm, wie das persönliche Schicksal künstlerisch objektiviert werden kann; liebt das schwankende Heldentum dieses nordischen Malers, der aus langen, sonnenlosen Wintern voller Frost und Schnee und aus kurzen, berauschenden Sommern ohne Nacht eine Kunst gewonnen hat, worin beides, trotz hundertfacher Unvollkommenheit, eines geworden ist: die Qual der kalten Dunkelheit und der Jubel des ewigen Lichts.