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Wenn ich mir nachträglich die Fäden meines Lebens zusammen suche und dabei den Fehler finden will, aus dem sich alles zu einem Knäuel verwickelte, so kann ich darin den Ärzten nicht recht geben, daß ich mich überarbeitet hätte. Das mag im Sommer 1888 so gewesen sein, als ich mir das Handwerk der Bildhauerei von Grund auf aneignen mußte und im September wirklich mit meinen Kräften zu Ende war. Zu diesem Winter, Frühjahr und Sommer blieb ich zwar unbeirrt wie vorher bei meiner Arbeit, aber ich wohnte gut und gönnte mir jeden Samstag bis Sonntag die Erholung in den Bergen. Weil ich mir nichts geschenkt hatte beim Adoranten, kam nun die Sicherheit, die mir vieles unter den Händen gelingen ließ, ohne daß ich es mühsam an dem Modell absuchen mußte. Mein Jüngling mit dem Speer wuchs mit dem Frühjahr in den Sommer, wie eine Staude wächst, langsam doch stetig, sie setzte Knospen und Blätter an und war so recht dabei, ganz aufzublühen, als das Gewitter sie in den Boden schlug.
Freilich darf ich nicht vergessen, daß gegen den Brutofen dieses Sommers der vergangene nur ein warmer Frühling gewesen war; drei Monate lang nachts in seinem Schlafzimmer trotz der luftigen Höhe eine Temperatur von 21 bis 24 Grad Reaumur zu haben, dazu den lähmenden Sirocco und tagsüber wochenlang Hitzegrade, wie sie selbst für die Römer Seltenheiten waren: das ist kein Wetter, um mit dem entscheidenden Lebenswerk täglich angestrengt beschäftigt zu sein.
Ich hätte im Juni fortgemußt, als die erfahrenen Römer anfingen, in Scharen ans Meer und in die Berge auszuwandern; doch litt das meine Arbeit schon aus äußeren Gründen nicht. Ich hatte nämlich nicht bedacht, daß der schlechte römische Ton mit der größten Sorgfalt gleichmäßig feucht gehalten werden muß, weil er sonst Risse bekommt. Dazu stand die Figur aus handwerklicher Unerfahrenheit nicht mustergültig armiert, und als ich schließlich nachgeholfen hatte, waren die Eisen nicht überfirnißt und mußten deshalb einmal durchrosten. Es half mir diesmal nichts, daß ich mir für später Porzellanerde vornahm: bevor ich den Speerwerfer abgießen ließ in Gips, mußte ich ihn endgültig fertig stellen. So saß ich denn den ganzen fürchterlichen Sommer in Rom, zwar schließlich nur noch morgens arbeitend, weil mittags keine Bewegung mehr ohne Schweißausbrüche möglich war, doch stets in Angst, daß mir ein Mißgeschick noch im letzten Augenblick die Arbeit von fast dreiviertel Jahren zerstören könnte, in der ich mich näher als jemals ans Ziel gekommen glaubte.
Daß ich den Speerwerfer trotz dieser zähen Geduld und Arbeit nicht bis zur Gipsform fertig brachte, daß ich mich mit den letzten Monaten an der in allen Einzelheiten klar gestellten Figur zerrieb, weil das Gefühl der Vollendung nicht mit jenem starken Strom einfließen wollte, wie ich es früher doch ein paarmal bei meinen letzten Stichen empfunden hatte: das war – wie ich nun eingesehen habe – die Grenze meiner Begabung, an die ich damals schon mit den Händen rührte, ohne daß sie mein Geist erkannte, weil der im Feuer neuer Leidenschaften entzündet war:
Sie hatten schon Anfang August zuhause und im Belvoir auf mich gerechnet; nun fingen im September die dringenden Rufe an. Frau Lydia war krank und schlaflos, fast seitdem ich fort war; sie hatte im Jahr vorher zweimal die Kur in Baden gebraucht und war den Sommer über nur noch wie eine Kranke zuhaus gewesen. Ich wehrte ab; ich glaubte, den Sieg noch immer in der Hand zu haben, wenn ich nur unbeirrt in meiner Werkstatt blieb. Verbissen in meine Arbeit und verbohrt in die Schriften Lionardos hielt ich hartnäckig aus, bis mir statt einer Einladung aus dem Belvoir der Ruf nach Hülfe kam, dem ich folgen mußte.
Sie hat mir später eingestanden, daß die Erkrankung ihres Mannes im Grunde nur ein Vorwand der gequälten Frau war, die mit dem eigenen Dasein nicht mehr fertig wurde und nun meinte, daß ich ihr helfen könnte, der doch nichts nötiger gebraucht hätte, als seinen wilden und überhitzten Kopf für einige Wochen still in Mutters Schoß zu bringen. Doch war es keine Schlinge, die sie mir legte; es war noch alles uneingestanden in ihr und sie glaubte als treue Gattin zu handeln, indem sie den gemeinsamen Freund dringend herbei rief, ihren Mann aufzuheitern, der durch die geistige Erkrankung seiner Mutter in Untätigkeit und Melancholie verfallen wäre. Sie mochte noch das Bild von mir im Sinn haben, wie ich den ersten Sommer im Belvoir gewesen war, zwar strapaziert von meiner Arbeit, doch äußerlich noch ziemlich der Kerl aus meinen Münchener Tagen, zu Spott und prahlendem Gespräch geneigt, den Kopf voller Pläne und die Hände zappelnd vor Tatenlust. Statt dessen kam nun – nicht wie sie mir einmal geschrieben hatte, ein Mann in seinen besten Jahren zu einer unterdessen ergrauten Matrone – sondern ein Schatten meiner selbst, der seine Kräfte überspannt hatte und an der Grenze war, wo ihm die Drähte reißen mußten. Der römische Sommer erzeugt Fieber, aus dem der Klinger sich nach einem bösen Anfall im August schon in die Berge geflüchtet hatte; ich trug es mit mir herum, als ich nach einer fürchterlichen Bahnfahrt im Belvoir ankam.
Wenn ich mich auf die Einzelheiten besinnen will, weiß ich kaum noch, mit welchem Zug ich reiste; nur daß mir unterwegs vielmals das Meer in meinen Wagen gleißte und daß ich meinen Speerwerfer nicht vergessen konnte, den ich wie ein treuloser Bruder in der fremden Stadt zurück ließ; obwohl ich strenge Vorschrift gegeben hatte, ihn täglich einzufeuchten, saß doch die Sorge um sein Schicksal im Wagen neben mir und stieg auch noch in Zürich mit mir aus.
Ich fand die beiden Menschen im Belvoir verwüstet wie mich selber, die Frau bis zu Weinkrämpfen überreizt und ihn von diesem täglichen Elend so angesteckt, daß er wahrhaftig der kränkere schien. Sie hatten mit dem Belvoir vielen Verdruß gehabt, weil eine Straße den Park, der schon durch die Bahn in zwei Teile zerschnitten war, nun ganz vom See abtrennen sollte. Innen war das schöne Haus durch die Rastlosigkeit der Frau schon umgeändert; auch für den Park war vieles anders geplant und sollte unter der Leitung eines kürzlich verschriebenen Gärtners neu hergerichtet werden. Dem Mann war dies alles nicht nur durch das Schicksal seiner Mutter überdrüssig geworden; er schien müde und so bekam ich das Ganze in die Hände. Ich war seit Jahren der Kunstbeirat der Familie, der ihnen Teppiche und Schmuck besorgte und jede Veränderung brieflich begutachtete, soweit die Kunst in Frage kam: so fand mein Bruder Eduard, der mich im Belvoir besuchte, statt einem Bildhauer einen Obergärtner, der sich mit dem Widerstand störrischer Arbeiter herum schlug.
Inwendig aber war ich wie eine Mutter, der man ihr Kind genommen hat, weil mein Speerwerfer unterdessen in Rom durch tägliche Benetzung künstlich am Leben gehalten wurde. Hier hatte ich von meinem römischen Leben nichts als den Lionardo, den Laokoon und meine Hefte mit Notizen; so warf sich mein versengter Geist in eine neue Leidenschaft, an der wohl andere Künstler vor mir nicht weniger tief gelitten hatten, nur daß sie ihnen nicht zum Verhängnis wurde.
Wie mich der Hopfen in seinem Buch als Schweizerkarl darstellte, ein solcher Rüpel war ich wohl nicht und auch kein solcher Schwadronneur. In der Stille die Gedanken wachsen lassen und dann alle durch einen Ausbruch überraschen, wie der Kispert damals in Schäftlern, konnte ich auch nicht, weil ich von Anfang an auf Lärm und Leidenschaften eingestellt war. Und wer bedenkt, daß für uns Künstler die Kunst nicht wie den Kunstgelehrten nur ein Objekt der Wissenschaft sondern der eigene Lebensboden ist, daß wir unsere Ansichten darin nicht ändern können, ohne auch den Absichten einen Stoß zu versetzen, also unser eigentliches Leben zu erschüttern: wer will da noch von uns verlangen, daß wir wie jene alles in die saubere Ordnung von Forschungsresultaten brächten! Bei uns ist jede Ansicht auch ein Kampf mit uns selber, und es kommt bloß auf die Natur des Einzelnen an, ob dieser Kampf laut oder still vorgeht: bei mir war er laut.
Alle die großen Künstler, welche Geschriebenes hinterließen, wie Lionardo, Dürer, Goethe, Herder: gaben sich über die Ziele ihrer Arbeit genaue Rechenschaft und arbeiteten nicht aus irgend einer rätselhaften Begabung in den Tag hinein. Wenn ich durchaus nicht solch ein Prahler bin, mich Jenen anzureihen, vielmehr mir selber wohl dieses Zeugnis angesichts des Todes geben darf, daß ich bescheiden wie einer vor ihren Meisterwerken stand und mich in dieser Demut durch meine fortschreitende Erkenntnis nur manchmal bis zur Hoffnungslosigkeit bedrücken ließ: so hab ich doch mein Lebtag nach dem Ausspruch Goethes gehandelt, daß nur die Lumpe bescheiden sind. Für die Zukunft entscheiden zwar nur die Resultate, solange aber einer – wie ich Zeit meines Lebens – darin noch nichts oder wenig gültiges vorzeigen kann: ist es allein die Gesinnung, die ihn im Bereich der großen Werke und ihrer Meister einen Freibrief gibt.
In dieser Gesinnung bin ich vielleicht ein lärmender Apostel, aber dafür auch ein ehrlicher gewesen, der sich nie eine Einsicht ersparte, weil sie seine kaum gesicherte Existenz gefährdete. Daß ich mir dann in jenen Tagen Sinn und Wirkung dieser Leidenschaft verwechselte, daß ich mich in dem Ueberschwall drängender Einsichten – ihren Zweck für mich vergessend – berufen fühlte, ein Verkünder neuer Kunstwahrheiten, eine Art Messias zu sein, der die Barbarei moderner Kunstwirtschaft in die Geschlossenheit früherer Kulturzeiten zurückführen will, für diese Selbstüberschätzung meiner Fähigkeiten bin ich genügend ans Kreuz geschlagen worden.
Doch weil ich hier keine Buße tun, nur Zeugnis ablegen will von meinem Leben und also selbst die Gründe zu meinen Narrheiten aufdecken muß, darf ich wohl sagen, daß ich in meiner Römerzeit eine Entdeckung machte, die auch für andere wertvoll war: Seitdem Goethe, der doch im Alter Eckermann beichtete, von bildender Kunst nichts verstanden zu haben, die Lehren Winckelmanns durch das Ansehen seines Genies unterstützte, war eine schwächliche Idealvorstellung der griechischen Plastik in die Welt gekommen, die einen Kanon als ihre Schönheit begriff und dadurch eine vergipste Anschauung der Kunst überhaupt befördert hatte. Als ich dagegen einmal die zuckende Natur in der griechischen Kunst und die berühmten Meisterwerke des Vatikans zumeist als Epigonenarbeiten, Fälschungen und Kopien erkannt hatte, kam ganz von selber der Taumel über mich, das auch mit Worten darzustellen, zumal ich sah, daß selbst Köpfe wie der Jakob Burkhardt von der letzten Kunsteinsicht durch die Kluft ihres unkünstlerischen Temperaments getrennt waren.
Ich fing an, nach dem naiven Polyklet des Schadow den herrlichen Traktat von Lionardo und zuletzt den Lessingschen Laokoon zu lesen; nicht zum Genuß, sondern um mich bis in meine Träume hinein leidenschaftlich damit herum zu schlagen; denn weil ich außer Klinger – und den zuletzt immer seltener – niemand sah, mit dem ich meine Leidenschaft in diesen Gedanken aussprechen konnte, vielmehr sich alles in einem wilden Streit der ungeklärten Meinungen in meinem Kopf vollzog, der schließlich dafür doch wohl zu klein war, kam es von selber, daß ich, einmal von meiner Hände Arbeit abgebracht, hier meine Gase verzischen lassen mußte. Es war ein böser Traum, der erste von den vielen, die nun folgten, wie ich da Nacht für Nacht im Belvoir flackernd bei meinen Niederschriften saß und von dem Werk fantasierte, in dem das Wesen aller Kunst deutlicher als im Laokoon gefaßt sein sollte.
* * *
Er dauerte nicht lange, dieser Traum; denn unterdessen verlor die Lydia, die durch mein graues Haar und mein verirrtes Wesen, wie sie sagte, erschüttert war, die letzte Lust am Belvoir und kam nun plötzlich mit dem Plan heraus, Haus und Park zu verkaufen und auch nach Rom zu ziehen, das mir zur zweiten Heimat geworden war. So wurde der Haushalt aufgelöst, der mir durch Jahre ein Sinnbild heimatlicher Ordnung gewesen war und den sie längst als eine unerträgliche Belästigung empfand. Doch wehrte ich ängstlich ab, als sie in Rom haushalten wollten, weil ich für meine Arbeit die Störung befürchtete, und riet Florenz, was auch gebilligt wurde.
Wenn ich den Emil in dieser Zeit bedenke, so schien er von allem Willen verlassen zu sein; als ob die Pest im Belvoir ausgebrochen wäre, so eilig wurde alles liquidiert und aufgelöst bis in das letzte Stück, und er gab alles zu. Wir hatten schließlich im Hotel Viktoria in Zürich Wohnung genommen, weil keiner von uns das unaufhörliche Gehämmer noch ertragen konnte, das wir doch selber angeordnet hatten. Wie wenn die Krankheit der Lydia sich uns beiden übertragen hätte, so schartig waren wir, und als ich vor der Abfahrt noch einmal rasch die Meinigen in Biel besuchte, war eine böse Zeit. Sie wollten mich in letzter Stunde bestimmen, mein Verhältnis zu den Leuten vom Belvoir zu lösen und wie früher, wenn auch nicht mehr so unbesorgt, mein eigener Herr zu sein. Sie sahen wohl, daß mich die Krankheit dieser Frau erfaßt und meine Unrast bis zur Verrücktheit gesteigert hatte, und fühlten das lang geahnte Unheil kommen. Ich ging zum erstenmal nicht recht im Frieden von Hause fort und ließ die ängstliche Sorge um mich zurück; es saß mir aber inwendig wie ein Teufel eine Stimme, daß mir nun andere Dinge zuständen, als um die Sorge der Meinigen bekümmert zu sein.
Meinem Speerwerfer zuliebe drängte ich zur Abreise und fuhr schließlich Ende Oktober nach Florenz voraus, den beiden dort vorläufig Quartier zu machen und dann in Rom nach der Figur zu sehen. Sie stand noch leidlich gut und war von neuem besser versorgt, als ich zurück fuhr nach Florenz, um da die beiden zu empfangen und in die Pension Bonciani oben an der Viale dei Colli zu geleiten. Ich selber wohnte drunten im Albergo Bonciani; doch sahen wir uns täglich und machten Pläne, wie ihre nächste Zukunft nun einzurichten sei. Wenn ich mich heute in die Rolle zurück denken will, wie ich sie damals spielte, als ich im Namen dieser Leute unterhandelte, Landhäuser ansah und verwarf, so ist es fast, als könnte ich die einzelnen Erinnerungen nicht greifen, obwohl ich weiß, daß sie vorhanden sind – im Wasser ist es so, beim tauchen, wenn man mit offenen Augen dicht überm Grund hinschwimmt, ihn manchmal weich in den Händen fühlend und von oben drängt das fahle Licht. Ich hatte in meiner Münchener Zeit einmal einen Magnetiseur gesehen, der Menschen aus dem Publikum, mit Kopf und Füßen nur aufgestützt, als Bretter auf zwei Stühle legte und sich auch richtig auf ihren Bauch stellte, ohne daß sie sich um einen Zoll verbogen; der andere zum Gelächter des Publikums oder auch zum Grauen wie Hühner gackern oder wie Esel brüllen ließ: Nicht anders muß es damals mit mir gewesen sein, als ich der Frau Lydia bis in die schlimmsten Unwirklichkeiten verfallen war, obwohl ich doch im Äußerlichen ein Mensch gleich allen andern gewesen sein muß – wie hätten sie uns sonst so gleichmütig mit diesen Dingen gewähren lassen.
Plötzlich war es so, daß der Emil für ein paar Tage zurück mußte nach Zürich und mir zehntausend Franken daließ, die ich als Angeld gebrauchen sollte, falls ein Ankauf zustande käme. Wenn ich heute die schäbige Villa da oben an dem Hügelweg ansehe, mit ihrer Rosafarbe und den kümmerlichen Eisengittern, kann ich nicht begreifen, daß die Lydia ein Besitztum wie den Belvoir verlassen und so etwas erwerben und daß ich selbst in der schlimmen Verirrung meiner Sinne dazu raten konnte. Es kam aber richtig soweit, und ich zahlte dem Besitzer Bonciani neuntausend Franken an. Gleichzeitig waren größere Pläne im Gang: ich hatte Klinger aus Rom gerufen, der auch kam, und mit ihm einen Tempelbau in Paestum besprochen für eine Million, den ich erbauen und den er ausmalen sollte; innen wollte ich eine sitzende Göttin thronen lassen, deren Augen mit eingesetzten Diamanten aus der Finsternis heraus den Ankömmling anstrahlten.
Wer je Fieberträume gehabt hat, wie da die Vorstellungen mit Flammen aus dem Boden brechen, wie das Blut in den Schläfen hungrig nach Bildern ist und in Sekundenschnelle Neues ins flackernde Bewußtsein jagt: dem kann ich sagen, wie furchtbar diese Novembertage in Florenz für mich gewesen sind. Und dazu immer die Frau neben mir mit ihren Schicksalsaugen, die nicht die meine war und deren Mann – ich wußte längst nicht mehr warum – zurück nach Zürich gefahren war. Nun saß ich nicht mehr, wie so viele Jahre, an meinem Schreibtisch, ihr die langen Briefe zu schreiben, nun fuhr sie mit mir im Wagen durch die schöne Landschaft um Florenz, in der trotz dem November immer noch ein rostroter Herbst war, nun gingen wir miteinander an der Loggia vorbei, wo der Perseus mit dem blutigen Haupt in der hochgehobenen Hand dastand, oder sahen in Santa Croce die vergilbten Fresken von Giotto und wußten nicht, ob wir selber nicht nur ein paar Gestalten aus seinen Schilderungen waren. Sie gab sich dankbar und froh, das alles selber zu sehen, wovon ich ihr in soviel Briefen geschrieben hatte, die sie auswendig wußte: wie wenn da alles aus meinen Buchstaben lebendige Gestalt annähme und sich als ein unendliches Gefolge um uns drängte, so füllten sich die Stunden.
Auch als wir an einem gleißend hellen Nachmittag durch die enge Gasse nach der Porta Romana und dann über die sonnige Landstraße talaufwärts nach der Certosa fuhren, die oben im Val d' Ema wie eine verlassene Bergfestung steht: Man kann mit dem Wagen nicht ganz hinaus, weil der Weg am Ende steil und holprig wird; man geht das kurze Stück zur äußeren Pforte, die auf der Rückseite liegt, und steigt dann zwischen Mauern auf dem Pflasterweg zum ersten kleinen Hof, wo man dem Pförtner schellt, der einen Führer holt. Es war ein schneeweißer Mönch, so alt, daß er den blanken und kahlen Kopf nicht recht erheben konnte, doch lächelte er uns milde an, wie auf den alten Bildern die Heiligen lächeln. Auch wußte er von allen Dingen gut Bescheid, von dem schmiedeeisernen Brunnengitter mitten im Garten, der zwischen Säulengängen auf den Dächern der unteren Gebäude lag, das sie dem Michelangelo zuschrieben, von den Bildern in der Kirche und den Grabmälern in den marmornen Gewölben, wo so Viele schliefen, die gleich diesem Alten gelächelt und den Sinn der Welt in einem milden müden Lächeln erkannt hatten. Wir waren auch im Refektorium, wo alles sauber, aber mit grober Leinwand für die Brüder gedeckt war, das Mahl schweigend einzunehmen. Es war in allen Gängen und Höfen still wie in einer einzigen Kirche durch dieses Schweigegebot, sodaß wir selber nichts mehr sprachen, uns nur ein paarmal mit tiefen Blicken der Verwunderung ansahen, daß wir nun wirklich miteinander durch diese Traumwelt gingen.
Als letztes zeigte uns der Alte noch seine Zelle, die garnicht kahl war sondern eine saubere Greisenwohnung zeigte mit einem Gärtchen daran und von der Balustrade einen schönen Blick ins Tal, wo aus dem Saft der Erde schwarzgrüne Cypressen wuchsen und im steinichten Bach das Wasser hinunter floß, das diesmal im Stoffwechsel nicht gebraucht wurde, um vom Meer wieder zu kommen und in weißen Wölkchen über den Cypressen zu schweben. Die Lydia, die im Umstand eines großen Reichtums aufgewachsen war und danach selber an diesem Umstand gelitten hatte, wurde bewegt von solcher lächelnden Bescheidenheit, die keine Armut, nur die Befreiung von den Lasten des Lebens war. Sie wollte gleich diesem Alten in ein Kloster gehen, um später auch einmal mit weißen Haaren so lächelnd in der Welt zu sein; doch nahm sie hülflos meinen Arm, als wir hinaus gingen, von dem Alten in der rauhen Kutte mit schneeweißen Wollstrümpfen nicht spöttisch oder demütig, nur lächelnd entlassen. Die Steine auf dem holprigen Weg hinunter taten ihren Füßen durch die dünnen Sohlen weh, sie mußte sich aufstützen und fast wie eine Kranke führen lassen. Danach im Wagen, als wir den Berg hinunter rollten und uns noch einmal umsahen nach der Certosa, die nun wieder wie eine verlassene Bergfestung am Hügel lag mit ihren zierlichen Altmännerhäuschen, gab sie mir nach einem Seufzer fast still lächelnd wie der Alte ihre Hand und ließ sie mir auch. Unten wollte sie den Friedhof der deutschen Protestanten sehen, die da draußen an der Landstraße fern von der Heimat und als Fremde ausgeschlossen, dennoch in Gott ruhten, wie auf den Steinen zu lesen war. Sie weinte heftig und konnte lange nicht fort, obwohl die Gräberwege kahl und nüchtern lagen, zuhause endlich bei dem Nachtmahl saß sie noch in den Tränen vom Kirchhof doch wieder lächelnd wie der Alte von der Certosa und sagte mir, daß sie dann lieber auch bei den Landfremden daliegen wollte, als wieder in der Heimat ohne mich zu sein. Sie habe mich gern gewonnen in dem ersten Sommer und heimlich lieb gehabt seit dem zweiten und ihr Nervenzustand sei nur daher gekommen, daß sie die Neigung Monat für Monat zurück gehalten hätte.
Mein armer Kopf war viel zu wild und wund, um etwas anderes als ein Glück in dieser Wendung zu finden, die mir mein bürgerliches Dasein verwirkte. Wenn ich der Glücksritter gewesen wäre, als den sie mich danach verfolgten, ich hätte es bei der Gemütsart der Lydia wohl klüger angefangen, mir die Vorteile ihrer entbrannten Leidenschaft zu sichern, statt nach dieser ersten Nacht mit ihr nach Rom zu flüchten. Denn so sinnlos wie alles in den Tagen war dies auch, daß wir andern Tags von einem Spaziergang ohne Gepäck, die Lydia selbst ohne Mantel, wie ein verfolgtes Paar auf den Bahnhof gingen; bevor der Mittagszug abfuhr, hatten wir uns ein paar Stunden lang in den Kreuzgängen hinter S. Maria Novella versteckt gehalten in einer bösen Angst. In Rom brachte ich sie ins Albergo Aliberti, das dicht bei meiner Wohnung in der Via Margutta lag. Noch im Dunkeln ging sie dann mit ins Atelier, wo mein Speerwerfer mit nassen Tüchern verbunden stand; wie ein am ganzen Leib Verletzter sagte sie, die nicht haben wollte, daß ich ihn bei Licht auswickelte, die dafür aber wie ein Kind, das endlich seinen Willen hat – die große Frau – in meinem Atelier umher ging, alles in ihre Hände nahm und streichelte und an meinem Schreibtisch sitzen wollte die ganze Nacht, weil ich da soviel Stunden schreibend an sie gesessen hatte.
Da schrieb sie auch am selben Tag den Tochterbrief an meine Mutter, daß sie mich glücklich machen wollte.
»Liebe Mama!
Gestatte, daß ich Dich so nenne, denn, obgleich wir uns noch nie gesehen haben, ist es mir als stehen wir uns schon nahe. Sehnlich hoffe ich, daß Du bald in unser schönes italienisches Heim einziehen werdest und will ich mit meinem Manne wetteifern, Dir das Leben angenehm zu machen.
Ich kann Dir versichern, daß ich Deinen Karl so glücklich machen werde, als er es verdient.
Deine Lydia Stauffer.«
Wenn ich den Brief nicht hätte mit ihrer Handschrift, ich müßte glauben, das alles nur im Fieber dieser Tage geträumt zu haben. Ein Fieber war es auch, mehr ein Gewitter, das mit Blitz und Donner und Wasserstürzen über mich kam, bis mir mein ganzes schönes Leben mit Geröll und trüben Bächen überflutet war. Am andern Morgen fing es schon an, als ich zu Klinger kam. Erst war sie wieder bei mir im Atelier gewesen und hatte nun meinen Jüngling gesehen, wie er auf seinen Speer gestützt abwartete, daß auch an ihn die Reihe zu werfen käme. So hätte ihre Liebe vier Jahre lang auf mich gewartet sagte sie und kniete vor dem Speerwerfer, wie wenn sie beten wollte. Ich wischte ihm mit bloßen Händen die Nässe ab und fand auf einmal, daß er fertig genug war, in Gips geformt zu werden. Nur müßten nun ganz andere Dinge kommen; es gälte nicht mehr das einzelne Stück, nun müßten mit vereinigten Kräften ganze Werke statt solcher Einzelheiten geschaffen, nun müßten dem Gott der neuen Zeit wie den alten Göttern Tempel gebaut und wieder eine Kunstblüte eingerichtet werden wie bei den Griechen und bei denen um Donatello, daß nicht jeder so wie ich auf eigene Faust ein Jahrzehnt lang zu ringen habe, bis er zu seinem ersten freien Kunstwerk käme.
So war es nicht mehr der Tempelplan allein, mit dem ich zu Klinger kam, es sollte auch eine Akademie der neuen Kunst gegründet werden. Ich war seit Anfang meiner Freundschaft unterrichtet, daß die Lydia garnicht die Millionen hatte, dergleichen auszuführen; damals schwoll mir alles, auch ihr Reichtum, ins Ungemessene an; und so mag ich dem Klinger wüstes Zeug vorgeprahlt haben. Er war in Florenz schon unwirsch geworden und kurzweg wieder zu seiner Arbeit abgereist; nun tat er mich hinaus wie einen, der unverschämt und lästig geworden ist, mich, dem er in diesen römischen Jahren sein vertrautester Umgang gewesen war. Wer erst einmal in solchen Dingen verstrickt ist, wer seine Gedanken nicht mehr am Zügel hält, sondern wem sie in jedem Augenblick nach allen Winden wie wild gewordene Pferde davon rennen: hat nicht Zeit, in anderen Köpfen herum zu denken. Ich sah nur, wie der rote Teufel – so ging er mir durch viele Träume meiner Kerkernächte – sich feindselig von mir wandte, wie er mich mit scharfen und verächtlichen Worten schlug. Gedemütigt und wie auf die Backen gezüchtigt, kam ich von ihm hinunter.
Ich holte die Lydia im Colosseum ab, wo sie im Schatten vor der noch immer zu warmen Novembersonne malerisch in den Trümmern saß und auf mich wartete. Wo ich so manche Mondscheinnacht hindurch in den Vorstellungen antiker Größe geschwärmt hatte, sahen mich die leeren Fensteröffnungen in der klaren Herbstmorgenlust mit feindseligen Augen an. Ich nahm die Lydia wie ein Flüchtling bei der Hand und lief mit ihr – wie ich schon oft im Traum vor bösen Dingen geflohen war – zur Via Cavour hinunter und über die Treppen nach Pietro in vincoli hinauf, wo seitwärts in der marmorblanken Basilika der Moses von Michelangelo sitzt. Irgendwoher war die Furcht vor der heidnischen Welt über mich gekommen und daß ich wieder zu dem Gott meiner Väter müsse; aber wie ich Hand in Hand mit der Lydia, die blaß vor Angst und außer Atem vom laufen war, vor den steinernen Mann Gottes hintreten wollte, sah er mir schon von weitem zornmütig entgegen und stellte den Fuß mit einem Ruck zurück, um aufzuspringen. Mir graute, während wir flohen, daß ich meinte zu fühlen, wie mir die Haare weiß wurden vor Furcht.
Als ich heimkam, wollte ich meinen Speerwerfer mit dem Hammer zerschlagen, so fürchterlich war mir auf einmal alles geworden, wo ich mit der Welt der Kunst zusammen hing. Da hatte ich zwei Fiebersommer lang als Einsiedler Ton geknetet, um etwas hinzustellen, das so fremd in unserm Leben stand wie ich selber. Diesmal war es keine Verzweiflung an meiner Kraft, nur die aufblitzende Einsicht, wie nutzlos dies alles für einen einzelnen Menschen war, in einer Welt von Händlern, Schustern und Photographen, die nur nachts aus ihren Kleidern kamen, Jahre meines Lebens daran zu setzen, ihnen einen nackten Griechenmenschen mit einem Speer dahin zu stellen, den doch niemals einer so ansehn würde, wie ich ihn sah. Die Müdigkeit fiel mich an, aus diesen weltfremden Kämpfen der Kunst fortzugehn und gleich allen andern ein Glied des wirklichen Lebens zu sein.
Als wir dann nachmittags in den Gärten der Villa Borghese waren, sprach die Lydia davon, daß sie mit mir hinaus ins Land wolle, damit ich mich erholte. Wir fuhren in der Frühe des andern Tages auch nach Frascati hinauf und als die Lydia, der immer noch die Schweizerfrau im Blut stak, die verwahrlosten Gärten gleich in Ordnung bringen wollte, kam von selber der Plan heraus, hier irgendwo statt unnützer Tempelbauten die Landwirtschaft in großem Stil zu treiben. Im Zwang unserer Einfälle zogen wir gleich ein paar Stunden herum, nach Preisen und Gelegenheiten zu fragen, und hatten schon die Firma in allen Einzelheiten organisiert, als wir spät nachmittags im Wagen durch die blaubraune Campagna mit den dunklen Mauerbogen der zerstörten Wasserleitung heimfuhren.
Es paßte zu unsern Plänen schlecht, daß wir ohne Geldmittel waren; so schrieb ich mit dem Willen der Lydia an Bonciani nach Florenz um einen Teil der Anzahlung, nicht ahnend, daß ich mir selber dadurch die Schlinge um den Hals legte. Denn unterdessen war der Gatte der Lydia durch den Bonciani von unserer Flucht benachrichtigt in Florenz, auch der Minister Bavier schon telegraphisch instruiert. Ich merkte, daß wir auf Schritt und Tritt beobachtet wurden und blieb nun mit der Lydia im Hotel; nur dem Minister schrieb ich in der Ahnung meines bösen Schicksals einen Drohbrief. Das war der letzte von den Streichen, mit denen ein schweizerischer Bildhauer in Rom sich, auf die Geltung seines Namens gestützt, gegen andere Mächte seiner Heimat zu wehren gedachte.
Es war eine ungewöhnliche Art, Familienverhältnisse zu ordnen, die nun anfing. Aber so ist das Leben wohl, daß jeder hart auf hart die Macht anwendet, die er hat; ich hatte nach Kräften das meinige getan, die andern Mächte aber waren stärker: dahinter saß ein Bundesrat in Bern, der viermal Präsident der Schweiz gewesen war und den Minister Bavier an Gehorsam gewöhnt hatte. Der brauchte als Gesandter einer Staatsmacht nur zu winken, und ich war den Gesetzen des Landes ein fremder Untertan, noch dazu ein verdächtiger. Was mir der Alte damals vor dem Bärenzwinger in Bern gedroht hatte, bekam ich nun zu fühlen; ich war dem Machtgewaltigen meiner Heimat zum zweitenmal empfindlich in den Weg gelaufen, und diesmal griff er zu.