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II.

Was sich Eltern denken, wenn sie einen Knaben von meinem Alter in die Stadt und ganz in den Schulzwang tun, wie sich die junge Seele damit abfinden soll, daß die Tageszeiten der Familie, des elterlichen Hauses und der Spielkameraden auf einmal abgeschnitten sind um das schmale Bett, darin sie – wie die anderen Schulrekruten – in einem hohen Saal ganz ohne Fassung liegt: das muß wohl sein, wie Abraham seinen Sohn Isaak zum Opfer brachte. Ich soll damals ein ungewöhnlich kräftiger Bub gewesen sein mit meinen achteinhalb Jahren und ich hatte dieses Dasein des verkauften Hundes bei meinem Lehrer schon erlebt, auch war ich immer noch in Bern halbwegs zu Hause, weil meine Eltern dort noch viele Verwandte und manchen Anhang hatten, und schließlich konnte ich zur Not heimlaufen in drei Stunden: doch andere aus dem Jura droben oder aus dem Oberland, die hab ich Regenbäche vor Heimweh heulen sehn.

Denn Waisen gab es wenig im Waisenhaus; es mochte früher einmal dafür gegründet worden sein; jetzt warens meist bernische Landpfarrer, die von der wohldotierten Anstalt den Nutzen hatten, ihre Söhne in billiger Pension und guter Aufsicht zu haben. Wer Bern kennt und einen Blick für bürgerliche Baukunst hat, dem muß die breite Front im Gedächtnis sein unterm hohen Dach, wie sie zwischen Bäumen den breiten Waisenhausplatz abschließt, schon ein wenig in der Senkung nach der Aare hinunter, die rund ums alte Bern in einer tiefen Rinne fließt. Mir war das Gebäude bei gelegentlichen Besuchen in Bern schon von außen gezeigt worden als der Ort, an dem ich einmal der Bildung ausgeliefert werden sollte; es war mir mit der breiten Einfahrt immer vornehmer erschienen, als der simple Zweck vertrug. Wie ich nun am Aufnahmetag mit meinem Vater hineinkam und vor dem Tor, im Vorgarten, im Flur und auf den Treppen überall die Landpfarrer mit ihren Knaben stehen sah – manche von diesen hatten schon Brüder in der Anstalt, die sich ihrer großspurig annahmen – erwies sich das Gebäude inwendig garnicht so herrschaftlich.

Ich erinnere mich noch gut der Stimmung, mit der ich durch die nüchternen Räume und Flure ging, ängstlich die Hand meines Vaters haltend, den hier viele kannten und begrüßten, wobei ich dann jedesmal abwartend beiseit stehen mußte. Der gleichmäßige Lärm von den Schritten und Gesprächen, das Gelächter und die Bewegung so vieler in der selben Angelegenheit bewegten Pfarrer, Landbürger und Knaben gab ein Ereignis für mich, wie ich noch keins erlebt hatte in meinem melancholischen Sensetal: irgend etwas aus den Erzählungen des Vaters vom alten Bern, von der Laupenschlacht und den Franzosen, etwas von der Bedeutung, die noch immer im Leben der eidgenössischen Bundesstadt liegen mußte, war auf einmal um mich. Die kalte Sorge kam erst, als mit dem Nachmittag das Gebäude leerer wurde, als ich schließlich mit meiner Bücher- und Wäschekiste neben einer langen Schrankreihe übrigblieb, wo nun auch meine Schicksalsgenossen, von der Obhut älterer Schüler angeleitet und überwacht, den kleinen Kram auspacken mußten, der uns von der Heimat als einzig sichtbarer Rest geblieben war. Es konnte nicht so mit einem Tag aus sein, auch hier – wo soviel Genossen waren – mußte es fröhliche Spiele und Freundschaften geben; aber irgendwie war doch die erste Jugend aus, die Unbefangenheit und Selbstverständlichkeit des kindlichen Daseins abgeschnitten, und die Verpflichtung hielt uns in sauber getünchten Wänden fest.

Ich hatte mancherlei gehört von den geheimnisvollen Gebräuchen, mit denen die Neulinge zu nächtlicher Stunde von den älteren Schülern in den Zwang der neuen Gemeinsamkeit eingeführt wurden und daß es dabei bitterböse Prügel gäbe: das mischte dem Schlaf der ersten Nächte noch eine besondere Unruhe bei. Als das Licht gelöscht und von dem Obmann Ruhe befohlen war – ich lag ziemlich am Fenster in dem größeren der drei Schlafsäle, hatte meine Sachen nach der Anweisung an die Kleiderstange am Fußende meines Bettes aufgehängt und die Strümpfe sauber gefaltet auf den Schemel gelegt – hörte ich wohl, daß die andern nicht schliefen, daß es überall in dem Saal wisperte und daß einige trotz dem Verbot leise aufgestanden und mit nackten Füßen – es gibt ein schmatzendes Geräusch auf den Brettern – zu andern Betten hingegangen waren, wo sie noch leise schwatzten. Aber das erwartete Schwurgericht für uns Neulinge kam nicht in dieser Nacht und in der nächstfolgenden nicht; weil, wie wir nachher erfuhren, eine strenge Warnung vom Herrn Jäggli, dem Vorsteher der Anstalt, ausgegangen war.

Dieser Herr Jäggli, ehemals Schuhmachergesell, dann trotz guten theologischen Studien durch eine unüberwindbare Befangenheit und einen nervösen Sprachfehler am Predigen gehindert und dadurch in dieses Nebengeleise der praktischen Pädagogik hineingeraten – übrigens ein sonderbar blaß aussehender Mensch mit glattrasierten blutleeren Lippen, die nur einen dünnen Strich durch sein Gesicht zogen – war selber Zögling im Waisenhaus gewesen und hatte die Nutzanwendung der eigenen Quälereien gezogen. Wo ein anderer harmlos im Studierzimmer gesessen hätte, umkreiste er wie ein wachsamer Schäferhund uns, seine verängstigte Herde. Jeder von den Alten wußte, daß nur ein Schemel umzufallen brauchte und schon wäre er dagewesen mit seiner runden drahtgeschützten Fuhrmannslaterne und seiner kleinen Kommandostimme, die sich niemals in einen Zorn hineinschrie, immer knapp und trocken blieb und doch von den bösesten Kerlen respektiert war.

So kamen wir – soweit wir aus uns selber schlafen konnten – vorläufig durch eine ungestörte Nacht in die Seltsamkeit dieses gemeinsamen Lebens, wo alles: schlafen, essen, arbeiten, spielen mit der Schnur scharf bestimmter Zeiten voneinander getrennt war und als äußerliches Zeichen dieser militärischen Ordnung auch eine Art Uniform uns von den andern Schülern der Stadt unterschied. Denn dieses wohldotierte Waisenhaus war selber keine Unterrichtsanstalt, oder wenigstens nur für die Abeschützen, die andern besuchten von dort aus die höheren Schulen der Stadt, meist das Gymnasium. Aus seinen früheren Zeiten, bevor es immer mehr den Landpfarrern anheimgefallen war, bestand noch eine Anstaltskleidung, die durch ihren altmodischen Schnitt für die Träger eine Quelle täglicher Verhöhnung geworden war. Bis auch hier Herr Jäggli, der die Verdrießlichkeit davon am eigenen Leib erfahren hatte, eine Besserung durchsetzte. Mit unsern blauen Tuchanzügen, die bequem und ordentlich geschnitten waren und nur noch durch die Messingknöpfe an eine Uniform erinnerten, sahen wir nicht übel aus. So schmuck muß dieser Anzug gewesen sein, daß manche Väter den Schnitt für ihre Knaben bis auf die gelben Knöpfe als Muster nahmen. Da Herr Jäggli, so sehr er selber danach aussah, garnicht auf verdrücktes Wesen hielt, uns täglich zum Spiel, manchmal auch zu fröhlichen Wanderungen hinausführte, vor allem aber als ein richtiger Soldatenmensch von Schweizer Art – übrigens selber ein Meisterschütze – seine Freude am Turnen und Exerzieren hatte, so sehr, daß wir sogar ein paar Kanonen bedienen lernten und zu landesfestlichen Gelegenheiten richtig mit Pulver daraus böllerten: gab es manchen Schüler in der Stadt, der mit Neid auf uns sah und gern an dieser fröhlichen Lebensart teilgenommen hätte. Denn nichts liegt einem gesunden Knaben näher, als im Spiel die Wichtigkeit der Großen nachzuahmen. Wenn mir irgend etwas außer dem Elternhaus eine unverlierbare Freude am schweizerischen Volkstum eingeprägt hat, ist es Herr Jäggli gewesen. Ihm muß ich auch zuschreiben, daß ich mir so rasch das Heimweh der ersten Tage abgewöhnte und mit einem Eifer in diese militärische Lebensweise einging, als ob sie wirklich schon etwas Wichtiges im öffentlichen Leben meiner Heimat bedeutete.

Daß ich selber bald zu einer Art Führerrolle kam, verdankte ich der Hartnäckigkeit, mit der die älteren Schüler auf ihrem Quälerrecht bestanden und es nach einigen Wochen trotz der Wachsamkeit des Inspektors ausübten. Wie auch sonst ein Schabernack selten von einem Einzelnen an Vielen, sondern von den Vielen an einem Wehrlosen ausgeübt wird – insofern ist mir der Eulenspiegel immer als ein edlerer Held erschienen – und drei sonst harmlose Knaben, Knechte, Soldaten oder Sennen nur einem vierten Fremden zu begegnen brauchen, um schon zur Hänselei geneigt zu sein, wie sich also die Verhöhnung absonderlicher Künstler als ein natürliches Bedürfnis der Menge erklären läßt: so bestanden auch hier die Eingelebten auf ihrem Recht. Wir Neulinge hatten uns schon mit der Sicherheit in Schlaf gewiegt, daß nichts derart geschehen würde, und auch Herr Jäggli schien in der Wachsamkeit nachzulassen, als doch die Stunde kam.

Ich war gerade eingeschlafen, als ich es klatschen hörte, wie ein Bäcker seinen Teig schlägt, nur so dicht wie Trommelschläge, dazwischen das Geräusch von vielen nackten Füßen, die sich um etwas balgten. Es war so dunkel, daß ich mit dem schwachen Licht spähend bloß den Umriß der langen freistehenden Schrankreihe sah, hinter der sich augenscheinlich der Vorfall begab. Sie hatten, wie sich nachher zeigte, einen von uns Neulingen aus dem Bett gerissen und ihn gezwungen, eine Klettertour auf den Schrank zu machen, wobei sie ihm kneifend und schlagend auf sein unbewehrtes Hinterteil nachhalfen. Sowie ich sein Hemd auf dem Schrank durch das Dunkel leuchten sah, hielten sie ein und zogen nach flüsternder Beratung zum zweiten Opfer. Ich hörte nun ziemlich ein dutzendmal aus der Dunkelheit die gleiche Folge von Geräuschen und sah, wie sich auf der Schrankreihe das helle Band der im Hemd hingehockten Gestalten langsam vermehrte; immer mit der Sicherheit, daß ich gleich auch da oben in die Schmetterlingssammlung eingereiht sein würde. Ich war noch ein kleiner Kerl von achteinhalb Jahren, der den Sinn davon nicht begriff, nur die Tücke darin und daß sich immer soviel große Knaben auf einen von uns kleinen warfen.

Sie kamen an dem Abend nicht mehr zu mir; wir waren augenscheinlich in Rationen eingeteilt für den Genuß. Das war keine Erleichterung für mich, weil nun den ganzen Tag über der Augenblick vor mir stand, wo ich selber die fatale Besteigung machen sollte. Es war keine Angst – ich konnte meine Zähne zusammenbeißen wie irgendwer – viel mehr der Grimm, daß ich dieser Sache so machtlos ausgeliefert war. Ich habe später freilich auch davon den Bodensatz auskosten müssen und auf den Folterbänken von San Bonifacio mit Riemen festgeschnallt das Scheußlichste ertragen, und wenn ich mit einer Gewißheit des Lebens sterbe, so ist es die, wie unentrinnbar wir unserm Schicksal ausgeliefert sind – wehrlos wie ein Ahornblatt, das sich mit dem vorbestimmten Vorrat seiner Säfte aus der Knospe wickelt und danach stolz im blauen Himmel schaukelt, bis ihm irgendwo eine hergewehte Krankheit frühzeitig seine Form zerfrißt, oder der Herbstwind seinen dürren Knäuel über die Straße treibt, damit es im Schmutz verfault oder zufällig an einem weggeworfenen Zigarrenstummel verkohlen muß. Damals hatte ich diese Erfahrungen der Fatalität noch nicht und grübelte den ganzen Tag nach einem Ausweg; der einzig mögliche war die Anzeige bei Herrn Jäggli, das aber tut kein Knabe, daß er sich ehrlos vor sich selber und vor den andern macht.

So hätte ich mich schließlich doch ins Unvermeidliche geschickt, wenn ich der erste gewesen wäre. Es war diesmal noch dunkler als am Abend vorher, auch schienen sie sich mehr zu eilen; die Lichter waren kaum gelöscht, als das Teigbäckergeräusch losging. Da machte mir der Zorn alle Selbstermahnungen zunichte; als sie – ich war der vierte in der Reihe – mir die Decke abreißen wollten, hatte ich mich fest hineingedreht, und wie sie nach dem ersten Widerstand stärker waren und mich wie eine Puppe aufwickelten und aus dem Bett reißen wollten, kam ich ihnen mit einem Sprung zuvor, hatte ohne Vorbedacht den Schemel in den Fingern, den ich mit beiden Händen kaum aufheben konnte, und schlug damit sinnlos um mich. Dabei traf ich gleich einen so an den Kopf, daß er mit einem sonderbaren Schmerzenslaut hinstürzte. Wie die andern sich im Dunkeln um den bemühten und einige mir den Schemel aus den Händen reißen wollten, warnte vom Flur her, wo augenscheinlich der Aufpasser stand, ein scharfer Zischlaut: für eine Minute war nichts zu hören als das Gepatsch eiliger Füße und das Geraschel von den Betten. Ich selber ließ den Schemel fallen und schlüpfte ins Bett, meine Decke raffend, so gut ich es noch vermochte.

Dann kam von der Flurtür her Geräusch und ein blasser Schein, Herr Jäggli rückte an mit seiner Fuhrmannslampe. Erst blieb er an der Tür abwartend stehen, ging danach leuchtend an Bett um Bett vorbei, bis er an meinem stillstand. Rundum waren auf einmal die Atemzüge zu hören, wie wenn alles schliefe; das vermochte ich nun nicht, als er mir, der den umgefallenen Schemel erblickt hatte, mit der Laterne ins Gesicht leuchtete. Ich blinzelte erst und sah ihn dann mit offenen Augen an. Was ist das mit dem Schemel, fragte er; ich gab ihm keine Antwort, stand aber auf und legte meine Sachen wieder nach der Ordnung zurecht, die Strümpfe glatt gefaltet obenauf. Er schwieg dazu, bis ich mich wieder legte, leuchtete noch einmal alles ab um mein Bett und gab mir schließlich um meiner Unordnung willen in seiner knappen Sprechart einen Verweis. Ich spürte wohl die Frage darin und merkte auch, wie gar kein Atemzug mehr zu hören war, weil alle jetzt auf die Entdeckung warteten, indem ich mich beschweren würde. Ich schwieg aber hartnäckig still, sodaß er schließlich unsicher geworden seinen Gang mit der gleichen Sorgfalt fortsetzte, an der Tür zuletzt noch einmal gute Nacht gebot und sacht, wie er gekommen war, verschwand.

Ich habe den kindlichen Vorfall so gut behalten, weil von dieser Stunde mein Ansehen in der Anstalt herrührte, daß ich ein starker Knabe und kein Klatscher wäre. Die Alten rechneten mir hoch an, daß ich geschwiegen hatte, und die Neuen waren mir dankbar für den Hieb. Ob sie mich auch in der Nacht darauf mehr geräuschvoll als schmerzhaft verprügelten, so brauchte ich doch nicht mehr auf den Schrank, und die übrigen nach mir auch nicht. Ich war auf einmal eine Art Held geworden, einer auf den die andern wieder wie zuvor in Neuenegg beim Spielen horchten. Wenn ich mir alle Kindlichkeit davon abziehe, bleibt eine Art Einsicht übrig, daß dies von vornherein mein Los war und daß meinen späteren Erfolgen und meiner kurzen Berühmtheit soviel unverdienter Zufall und ein bißchen Lächerlichkeit anhaftete wie dieser meiner ersten Heldentat.

Im Gymnasium fing das Elend der Dorfschule wieder an beim Abc der Römer und nachher der Griechen. Die Grammatik war nicht der richtige Weg für mich, Sprachen zu lernen; es ist, wie wenn die griechischen Standbilder erst in Stücke zerschlagen werden sollten, damit man ihre Schönheit von Grund aus begriffe. Ich habe später Italienisch in garnicht vielen Monaten so gelernt, daß ich in Rom als Italiener durchkam, weil die Sprache doch fürs Ohr und eine Art Gebärde ist, die sich nachahmen läßt. Im Gymnasium arbeitete ich mich an der Grammatik in eine Feindschaft mit meinen Lehrern hinein, die schließlich die Schulstunden zur Gerichtsverhandlung machte, in die ich jeden Morgen mit neuen Listen kam. Ich wurde, mit den Jahren ein paarmal sitzen bleibend, auch hier für meine Mitschüler eine Art Räuberhauptmann; aber es war doch keine Ehre wie beim Spiel dabei, immer als der eine zu gelten, der die Sünden der faulen und verstockten Klassenbrüder auf sich nahm, weil sie an ihm gemessen für ihre Lehrer immer noch erträglich waren.

Das wurde erst mit den Jahren besser, als neben den alten Sprachen die Naturwissenschaften zum Vorschein kamen; hier, wo alles ins Lebendige zielte, wo mir mit jedem neuen Experiment die Natur reicher und rätselvoller aufging und schließlich zu einer Unermeßlichkeit von Geheimnissen wurde, gegen die mir die Schöpfungsgeschichte aus dem Sensetal einfältig und bäurisch vorkam, wo mein Kopf nicht nur ein Kasten mit Schubfächern war, um mit Vokabeln und Konjugationen vollgestopft zu werden, wo meine Augen zu sehen und selbst die Nase etwas zu riechen und die Wißbegierde alle Hände zum Greifen voll hatte, wo ich Erfahrungen sammeln und verwerten konnte, wo ich mit meinem Verstand und Gefühl mir selber ein Stück von dem großen geheimnisvollen Leben wurde, nicht nur ein Schüler für die Schule war: da kam von selber auch die Lernfreude über mich, aus der allein die Energie zu wirklichen Leistungen bestritten werden kann. Was meine Lehrer einen begabten aber faulen Schüler an mir nannten, das gibt es garnicht; aus sich selber ist keine Begabung faul, sie wird nur von der Schule stumpf und verdrossen gemacht, wenn sie Steine statt Brot bekommt, wies in der Bibel heißt. Der Fleiß der Unbegabten, mit dem die Schule wie das Leben rechnet, ist Packträgerarbeit, wie man sagt, wo die Kollis nur aufgestapelt niemals ausgepackt werden, und mancher später, ein ganzes Lagerhaus im Kopf, mit glänzenden Zeugnissen ins Leben entlassen wird, der mit bestandenem Examen den Schlüssel verloren hat. Ich kann so recht nur von den Künstlern sprechen: aber da sind die Fleißigen, die so Bild für Bild sinnlos heruntermalen, gewiß die eigentlichen Faulpelze, während andere, die nur selten etwas zuwege bringen und niemals eine Vollendung sehen, in einem Aufwand unerhörter Energie mit dem Herrn um Erfüllung ringen.

So kam ich also mit der Schule erst zurecht, als ich für meinen neugierigen Geist in den Naturwissenschaften etwas Lebendiges zu lernen fand; und ich kann auch noch heute mit Vergnügen daran denken, wie ich als älterer Schüler experimentierte, Sammlungen anlegte und Präparate machte, weil das erfülltes und nicht versäumtes Leben war. Mein Sinn stand freilich auch damals nur auf das eine Ziel, wohin er von Anfang an gerichtet war; und wie ich so im Schreiben mein unberatenes Leben als Schüler überdenke, muß ich erkennen, was der Fromme Fügung nennt, und was mir als die letzte Lebenseinsicht übriggeblieben ist: daß es die viel angeführten Zufälligkeiten garnicht gibt, alles vielmehr in einem fatalen Zusammenhang steht, durch den man unrettbar auf dem vorbestimmten Weg vorwärts geschoben wird. Ich könnte mir ja sagen, daß ich den Zeichenlehrer Vollmar am Gymnasium fand, sei nur ein Zufall gewesen, weil nun einmal an jeder solchen Anstalt ein Zeichenlehrer ist, dem ich mit meiner Begabung von selber verfallen mußte. Doch brauchte dieser Vollmar dann nicht ausgerechnet derjenige von meinen Lehrern zu sein, der zu dem mütterlichen Haus Schärer in Bern als Nachbar in freundschaftlichen Beziehungen stand und der Spielkamerad von meiner Mutter gewesen war.

Es war ein sonderbarer Mann, einer von den Leuten, wie sie in jeder Stadt gewissermaßen als der Abfall der Kunst im bürgerlichen Leben, meist als Zeichenlehrer am Gymnasium übrigbleiben. Sein Vater war noch auf eine altmodische Art Künstler gewesen, Tierarzt und Tierbildhauer zugleich; ihm war das Reiterdenkmal des Siegers in der Laupenschlacht, Rudolfs von Erlach zugefallen, das mit den vier Bären am Sockel auf dem Münsterplatz stand und mir seit meiner Jugend als das Denkmal aller Denkmäler galt. Daß nun der Sohn dieses Meisters mein Zeichenlehrer wurde, mich sogar als seinen Schützling und eigentlichen Schüler betrachtete, gab mir ein Gefühl der Zugehörigkeit zur künstlerischen Gilde des Heimatlandes, darin ich mir je nach meinen Zukunftsträumen eine Wichtigkeit zusprechen konnte. Was ich von ihm lernte, war viel und wenig zugleich; er zeigte mir bald, daß ich mit der spitzigen Umrißzeichnung in Walthards Manier nicht weiterkäme, er brachte mir bei, auf Licht und Schatten der Dinge zu achten und die mit breiten Kohlestrichen hinzusetzen, womit allein die malerische Wirkung, Plastik und Gegenständlichkeit zu erreichen wären. Das war ein so vorzügliches Rezept für mich, wie er ein guter Apotheker war, nur genügte diese Apotheke nicht, um Kunst zu machen. Viel wichtiger war sein eifriges Bernburgertum und daß er mir die Augen öffnete, wie die stolze Geschichte unserer Stadt sich auch in den Formen der Bauten, Brunnen, Lauben und Brücken zeigte. Es waren Forschungsreisen in die Vergangenheit für mich, wenn er mit mir ins Nydeck hinunter oder an die Schifflaube zog, wo das Hausgerümpel der kleinen Leute sich aus der Aar hinaufdrängte bis zu den stattlichen Bürgerhäusern und Türmen der oberen Stadt. Niemals später ist mir so deutlich gemacht worden, wie der Künstler kein Weltreisender in willkürlichen Motiven sein könne, daß er mit der Kunstfertigkeit seiner Hand zwar eine besondere Begabung aber mit dem, was er fertig brächte, doch nur ein Teil des Volkskörpers wäre, dem er wie jeder Handwerker, Beamter oder Kaufmann als ein Werkzeug seiner Entwicklung und seines Ruhmes angehöre. Freilich, wie anders ist Bern als sonst eine Stadt in der deutschen Welt; wo alles, was die Augen sehen, aus unabhängigem Bürgersinn entstand, der durch Jahrhunderte seine stolzen und kläglichen Jahre hatte, aber die Selbstherrschaft bis in unsere Tage behauptete. So müssen die gotischen Städte gewesen sein, als sie – den Griechen gleich im Gemeinsinn – ihre Rathäuser bauten.

Aus der Schule wurde ich mit der Tertia erlöst; kurz vor meinen Abgang fiel noch ein rechtes Schülerereignis, das zu meinem späteren Leben nachträglich in eine unheilvolle Beziehung kam. Ich weiß nicht mehr genau, wie es entstand; es muß wohl bei der Mathematik gewesen sein, daß ich einen Zettel weitergab, wie er meistens bei sogenannten Klassenaufgaben die Runde macht. Er wurde diesmal bei einem Nachbarschüler entdeckt und bei der Untersuchung blieb ich als derjenige übrig, von dem er ihn erhalten hatte. Nun weiß jeder, der einer Klasse angehörte, daß bei solchen Dingen der einzelne auf die eigene Geschicklichkeit und Verantwortung angewiesen ist, sodaß es unter Schülern als ehrlos gilt, einen andern zu verraten: Als mich der ertappte Emil Welti – ich hätte ohne unsere späteren Beziehungen seinen Namen vielleicht vergessen – in seiner Verwirrung dem Lehrer verraten hatte, war er für die Klasse nicht mehr vorhanden. Es mag sein, daß ich als der Verratene mein Teil dazu tat, die andern aufzuhetzen; jedenfalls wurde die Parole unerbittlich eingehalten, mit dem Geächteten kein Wort zu sprechen, obwohl er als der Sohn des damaligen Bundespräsidenten sonst einen Anspruch auf Beachtung hatte.

Das dauerte einige Wochen, bis sich der Vater selber und zwar auf eine praktische Art einmischte. Ich hatte wieder einmal die Bären an dem Erlachbrunnen zeichnen wollen, war jedoch schließlich ins Nydeck hinunter und über die Brücke an den Bärengraben geraten, weil ich versuchen wollte, die Bären lieber nach der Natur zu zeichnen. Das mißlang mir zwar; aber als ich nach manchem vergeblichen Versuch mein Skizzenbuch zuklappte und verdrießlich den unheimlichen Drolligkeiten der Tiere zusah, wie sie sich aufrichteten und in dem braunen Pelz dann etwas von Berner Sennhirten an sich hatten mit der Kapuze überm Kopf, tippte mir jemand mit der weißen Beinkrücke von einem Regenschirm auf die Schulter, und als ich mich umwandte, stand ein alter Herr da, fast von meiner Größe, der niemand anders als der Bundespräsident war. Ich muß die Mütze nicht fröhlich abgenommen haben; denn er winkte mir gleich ab, war aber dann so selbstverständlich, wie ers in größeren Dingen auch sein konnte: Ob ich der Stauffer sei? Und als ich Ja sagte und die Mütze trotzig wieder aufsetzte, machte er schon seinen Vorschlag: es sei von seinem Emil nicht nett gewesen, mich zu verraten, aber vierzehn Tage Verruf sei doch genug. Er wolle uns, der ganzen Klasse, wenn es die Lehrer erlaubten, ein Fäßchen Bier auflegen zu einem Versöhnungsabend; doch sollte damit die Sache auch vergessen sein. Das war ein Vorschlag, der den gescheiten Staatsmann zeigte, und ich saß ihm auch gleich im Hanfsamen drin. Nur wie er schon gehen wollte und ihm ein Wind den Regenschirm aufjagte, packte er darüber doch seinen Grimm noch aus, wie wenn ich selber der Windstoß gewesen wäre: So, Bürschli, nun lauf mir nicht noch einmal über den Weg!

Ich hab es doch getan, habe den alten Herrn später in seinem Haus gemalt als sehr willkommener Gast und bin ihm nachher in Rom ein eifriger Cicerone gewesen: aber als die Freundschaft aus war, hab ich gespürt, was solch ein alter Bundespräsident und Schweizer Bundesrat vermag. Damals nahm ich die Warnung nicht bedrohlicher, als sie gemeint war. Mir waren andere Dinge wichtig als der alte Welti, obwohl er Bundespräsident und ich ein unnützer Pfarrersbub war. Nicht lange danach wars mit Latein und anderen Schulnöten für mich vorbei; mein Lebensweg ging seitwärts in die Büsche, während die Genossen sich Jahr für Jahr fleißig bis zur Prima hinauf saßen, um nachher jeder eine andere Berufsweisheit zu studieren. Ein halbes Jahr lang duldete Herr Jäggli mich langen Bengel noch im Waisenhaus, dann trat ich ganz ins Atelier des Zeichenlehrers Vollmar ein; nicht, weil es den Eltern recht gewesen wäre, daß ich nun Künstler werden sollte, sondern weil es bei meinem faulen und verstockten Wesen, wie die Lehrer sagten, vorläufig keinen andern Ausweg gab, als etwa auch so ein Zeichenlehrertum.

Ich kam mit einigen anderen Jungleuten zur Kost in die alte Invalidenkaserne, wo sich denn bald das Früchtchen aus mir entwickelte, das die Lehrer nicht ohne hämische Hoffnung erwarteten. Ich war mit den Jahren so unablässig als Taugenichts und Bummler gescholten worden, daß ich mich allmählich in einen Trotz verfressen hatte, das nun auch recht zu sein. Was ich bei dem eifrigen Vollmar lernen sollte, konnte ich längst, irgendwelche Kameraden, meinen Ehrgeiz aufzustacheln, fehlten mir. Dazu ging ich ins siebzehnte Jahr, war ein baumstarker Kerl, in dem die Säfte der Jugend nicht nur in sehnsüchtigen Mondnächten rumorten; es gab im Invalidenhaus und auch sonst wüste Nächte, wo ich der zahmste nicht war. Zwischen Saufereien und ganz verlumpten Tagen fand ich schließlich den Anschluß an irgendwelche Fröhlichkeit nicht mehr. Wenn ich früher in den Ferien und vielfach Sonntags gern nach Haus gelaufen und von dort aus mit dem Rucksack in die Berge gestiegen war, verlor ich jetzt, wo daheim die strengen Vermahnungen des Vaters und der vorwurfsvoll klagende Blick der Mutter auf mich warteten, auch dazu jede Lust. Ich hatte nie Geld und machte Schulden, wo es noch möglich war; ich erwarb statt der Schulkameraden halb abgerutschte Saufkumpane zu Genossen, duzte mich mit einigen Dutzend Kellnerinnen in der Stadt und verkam selbst in der Kleidung, sodaß die Klagen und Befürchtungen über mich wie die bösen Winde ins Sensetal wehten.

Als mich schließlich der Vollmar wochenlang nicht mehr gesehen hatte, als sie mich selbst im Invalidenhaus nicht mehr dulden wollten und meine Trinkschulden mir weder eine Wirtschaft noch einen ruhigen Gang durch die Stadt erlaubten, sodaß ich mich wie ein herrenloser Hund herumtrieb und schon bedenklich in die Nähe der Existenzen geraten war, die man im Winter an den Hauptbahnhöfen oder sonst ohne Mantel mit den Händen in der Tasche der Wärme nachgehen sieht, holte mein Vater den verlorenen Sohn ins Sensetal zurück.

Es gab ein Strafgericht, darin mir die Verzweiflung der Eltern das einzig bittre war, obwohl ich auch sie mit der Scheu eines zuviel geprügelten Hundes ertrug, hoffnungslose Beratungen mit meinem Lehrer Vollmar und endlich die Verbannung. Ich sollte, weil ich nichts reelles, nicht einmal Zeichenlehrer zu werden vermochte, einem Stubenmaler nach München in die Lehre gegeben werden, den der Vollmar zufällig kannte. Es war mir aller Boden so unter den Füßen fortgerutscht, dabei war mir der Aufenthalt zu Hause unter den traurigen Augen der Eltern und bei den verängstigten Geschwistern so leid, daß ich selbst diesen Ausweg wie eine Befreiung ansah. In dem verstockten Trotz, aus dem sich alle Untaten sicher zuletzt erklären lassen, weil doch in den Verkommensten noch eine Art Seele übrigbleibt, die vor sich selber recht behalten muß in aller Wüstenei und sich in einer Art Auflehnung und Selbstvernichtung zugleich entlädt, wenn sie nicht von Haus aus ganz ein trauriges Gemächte ist, nahm ich mit meiner Kiste im Frühsommer 1874 zum zweitenmal Abschied aus Neuenegg.

Am Nachmittag vorher schlich ich mich fort, noch einmal in den Forst hinauf. Mein Mißgeschick wollte, daß mir in den grünen Kornfeldern vorher das Anneli begegnete mit seiner Mutter. Sie sagte mir kein Wort, ging scheu vor mir zur Seite, wie die andern und mit der gleichen Trauer im Blick; ich rief ihr etwas nach im Trotz, was sie doch nicht mehr hörte, fing an zu laufen und zu toben und fand mich schließlich heulend am Laupendenkmal wieder. Da lag noch immer unter mir das Tal mit seinen Erlen, aus denen ich einmal ein Bild vom Erlkönig machen wollte; da stieg das Hügelgewirr des Schwarzimburgischen Landes bis zur Stockhornkette, die wie ein dicker Wolkenwulst vor dem Himmel lag, aus dem ein Stückchen Silberblick der Berner Alpen leuchtete und verschwand: Alles war wie sonst, nur ich selber sollte ein Verlorener geworden sein, einer, der nichts bedeuten konnte für die Geschichte seiner Heimat – an deren Denkmal er stand – als ein beiseite geworfenes und zerschmissenes Geschirr. Ich muß wohl sagen, es regte sich keine Demut in mir und keine Absicht der Besserung, nur ein freier Trotz, diesen Menschen im Tal hier unten und drüben in Bern zu zeigen, daß etwas anderes in mir drängte als Lumperei und Schulden.

Es war schon dämmrig, als ich wieder hinunter ans Pfarrhaus kam, das immer noch wie ein Landschlößchen am Hügel stand. Ich folgte einem Einfall und trat ins Schulhaus, wo schon die Lampe brannte und die Lehrerin mich erstaunt und fast erschrocken ansah. Ich lachte ihr mitten ins Gesicht, als ich nun Abschied nahm, und wie die Gute meine Hand mit einer schüchternen Vermahnung an den Gram der Eltern hielt, schüttelte ich sie ordentlich und reichte sie auch dem Anneli hin, das erbärmlich weinte; in der Tür aber wandte ich mich noch einmal um, das rechte Wort für meinen Zustand suchend, das ich dann komisch genug noch fand, indessen mir nun selber Tränen über die Backen liefen: Was aus mir werden soll, Frau Dietrich? Ein Mann soll aus mir werden!


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