Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Das Begräbnis des Vaters ist eins von den Erlebnissen, auf die ein Sohn im natürlichen Verlauf der Dinge rechnen muß. Für mich war es nicht abgeschwächt dadurch, daß er als Melancholiker zuletzt ein unbrauchbarer Mensch gewesen war; vielmehr lag der Gedanke an die Vererbung solcher seelischen Beschaffenheiten ein paarmal lähmend in den Tagen auf mir. Wenn es mich trotzdem kaum anders berührte, als daß ich tiefes Mitleid mit dem hilflosen Schmerz der Mutter hatte, so lag das wohl an meiner Fremdheit, in die ich zu ihm und seinem Amt, zu der Stadt und Heimat geraten war. Fünf Jahre auf Berliner Straßen geben ein anderes Stadtgefühl, als es in Bern gebräuchlich ist; als ich die Straßen mit der Rinne mitten und den Lauben an den Seiten, den Türmen quer darin, die breitspurig wie Bernburger dastanden, als ich danach die Menschen sah, mit was für Hüten und Geberden sie meinem Vater die letzte Ehre taten, der unter ihnen ein bürgerlicher Seelsorger gewesen war: da durften mir die Gedanken garnicht an mein Leben in Berlin zurück gehn; es wäre wie das Durcheinander von Reichsmarkstücken und Schweizer Franken in meiner Geldtasche gewesen.
Es wurde auch in den Tagen danach nicht anders mit mir; irgendwo raste noch der Sturm dieser letzten Radierleidenschaft, in der ich Nächte lang gekritzelt und gehobelt und gezittert hatte um jede unnütze Minute, während ich nun langsamen Schrittes zwischen gemächlichen Bürgern und Landleuten ging. Es war wirklich, als ob ich von einer verrückten Liebessache ernüchtert umherginge, staunend, wie ein Genesender die gewohnten Dinge als fremd und neu betrachtet. Da war ich – auch in der Sprache – durch die Unrast dieser Stadt selber fast ein Berliner geworden, der nur Asphalt und Droschkenpferde, niemals eine Wiese oder einen Nußbaum sah; hier aber hockte mein altes Bern unverändert auf seinem Bergrücken, wo nur eine Gasse sich seitwärts zu öffnen brauchte und schon glänzten die Alpen herein. Wenn ich rasch lief, wie ichs gewohnt war, fand ich mich gleich beim Bärengraben an der Nydeckbrücke drunten; es passierte mir auch richtig am dritten Tag, daß ich verwundert da unten stand, wohin ich garnicht gewollt hatte, und nach dem Hügel zurück sah, der die ganze Vergangenheit dieser Stadt trug. Die Bären waren durch ihre Falltüren ausgesperrt; dem einen schien das nicht zu passen, immer wieder stand er auf und rüttelte an der rostigen Eisentür, daß sie klirrte, immer wieder aber mußte er sich, der so stolz aufrecht stand, doch wieder auf die Vorderbeine niederlassen, um in dieser Steinrundung den vorbestimmten Kreisweg umherzugehen. Er konnte auch auf den dürren Baum in der Mitte klettern und von da aus Rundschau halten über die unerreichbaren Dinge jenseits der Mauer, weiter nichts. Es ist ja leicht, für die verrückte Gebundenheit der menschlichen Natur Sinnbilder zu finden, aber an dem Morgen – ein feiner Juliregen sprühte – war es wirklich ein bißchen, wie wenn ich dem Karl Stauffer zuschaute, der sich am Umkreis seiner Begabung buchstäblich die Finger blutig schund.
Da kriegte ich eine Sehnsucht nach Neuenegg hinaus und fuhr am Nachmittag nach Flamatt hinauf, wo der Weg ins Sensetal hinunter geht. Der Sprühregen hatte aufgehört, doch waren die Wege noch klebrig, und der Dunst hing in der vollgesogenen Luft. Wie oft hatte ich, von Bern heimkommend, diesen Dreck verwünscht, der sich wie Teig an die Schuhe klebte, jetzt aber etwas wehmütig Heimeliges für mich hatte; denn, weiß Gott, ich war es nicht mehr gewöhnt, daß unsere Wege auf der Erde gehen, auf einem Boden, der den Regen aufsaugt für seine Pflanzen, nicht durch glatte, unfruchtbare Asphaltrinnen in Kanäle fließen läßt. Ich kriegte eine Lust, mich wieder einmal vom Regen durchweichen zu lassen bis auf die Haut, aber es müßte hier draußen sein, wo ich das Wasser an den schwarzen Stämmen nieder rinnen sähe, von den blank gewaschenen Blättern in den Grasboden tropfend und an den Böschungen in hundert Quellen glucksend.
So von sehnsüchtigen Erinnerungen durchweicht kam ich in Neuenegg an, sah das weiße Landschlößchen unseres Pfarrhauses auf dem Hügel hinter der Kirche liegen, das alte Schulhaus nebenan, hatte aber nicht das Herz, hinein zu gehen, schlug mich seitwärts hinauf in den Forst und wanderte am Rand von seiner heiligen Dunkelheit zum Laupendenkmal hin. Hier auf den Nadeln war es trocken und irgendwo schüttete schon wieder die verhüllte Sonne ihre Helligkeit ins Land; so konnte ich lange sitzen an dem Stein, aber es waren weniger Jugenderinnerungen, was mir da kam, als immer nur der stolze Schlachtruf: Hie Panner, hie Erlach! Mit einem Stolz ohnegleichen fiel das über mich her, wie ich bisher kein anderes Gefühl an meine Berner Leute gehabt hatte, als die Prahlerei eines Junghanses, der etwas in der Welt draußen geworden war, mich nun aber dem alten Ritter von Erlach mit meinen Kämpfen verwandt fühlte. So oder so: wo ein Mann war, und hier oben in dieser Stunde wurde ich einer, da war auch Kampf, und wenn es mir einmal geriet, meinen Namen den Siegern anzufügen, so hatte das Vaterland ebenso Ehre davon wie bei dem Kriegsmann damals auch. Was im Grund eine Spielerei gewesen war, daß ich den Namen meiner Heimat Bern dem eigenen anhängte, das kam mir nur wie eine Vorbestimmung vor. Es mußte so sein, daß, wenn etwas eine Ehre für mich sein sollte, es auch eine Ehre für die Stadt und die Landschaft wurde, sonst war es keine.
Ich ging an dem Tag noch weiter ins Schwarzimburgische Land, wo ich nach einem beruhigenden Telegramm an die zuhause unter biederen Menschen zur Nacht blieb, um andern Morgens aus einem dichten Nebel gegen die Stockhornkette hinauf zu klettern. Was am Laupendenkmal in mich gefallen war, ging auch nicht fort, als ich zum späten Nachmittag auf der Kammhöhe stand und mit den Wolken kämpfend die silbernen Gletscher des Oberlandes sah. Ich mußte an ein paar Fahrten da oben denken und an die Milchverkäuferinnen unterwegs, wie man die Milch trank und mit einem »Hat geschmeckt« weiter stieg aus den menschlichen Gefilden hinaus in die Schutthalden und Eishänge. So und nicht anders war die Medaille vor vier Jahren und alles andere Lob für mich gewesen; nun aber wollte ich ein Sohn meiner Heimat sein und kein zugereister Bergser. Wie mich die stolzen Bernburger dieser Tage behandelt hatten als einen, der nicht mehr zu übersehen war: so sollte es nun bleiben. Es war eine Art Heimweh, was mich in der Heimat gepackt hatte; und so lag die Besinnung nahe, daß die Großen des Landes, die Dichter Gottfried Keller und Conrad Ferdinand Meyer zugleich mit dem Maler Böcklin in Zürich lebten. Irgend ein Hochmut überkam mich, daß ich zu ihnen als Nachwuchs gehörte und sie zum mindesten malen oder radieren könnte.
Zu dem brummigen Gottfried Keller, dessen Schriften ich seit meiner Jugend über alles liebte und hundertmal in Deutschland vorgelesen hatte – weil ich meinte, der Tonfall einer Schweizer Stimme gehöre dazu – war die Verbindung schwer zu finden, aber an Conrad Ferdinand Meyer bekam ich von Bern aus leicht eine herzliche Empfehlung. Vorerst malte ich noch meine Schwester Sophie zum zweiten Mal, und meine Mutter mit dem schwarzen Witwenschleier über dem blondweißen Haar; es schien mir dabei, als ob ich nun auch mit dem Pinsel rascher zurecht käme, als ob mir das Detail nicht so oft ein Bein stellte wie sonst, jedenfalls bekam ich die Erscheinung ihrer Rubensfarbe ziemlich heraus.
In Turgi stieg ich auf der Fahrt nach Zürich für eine Stunde aus; ich hätte das vor einem Jahr noch kaum getan, nun fühlte ich mich der Heimat auch in den drolligen Dingen so angehörig, daß ich den Aufenthalt nicht scheute. Doch war der schwarze Tessiner fort; statt seiner amtete ein blasser Kerl mit einem Christusbart und einer Brille an der Signalkurbel, ein rechtes Milchkind, aber schon grau. Wie wenn er noch die selben Hühner hätte, stand er auch gerade mit Eiern da, aber er hielt sie in einem gewaschenen Henkelkorb. Er erzählte mir einiges von seinem Vorgänger, was die Schweizer saubere Geschichten nennen; er hätte zuviel mit den Weibsbildern zu tun gehabt und wäre schließlich trotz seiner vielen Kinder dem Sternenwirt mit seiner leichtsinnigen Frau durchgebrannt. Ob ich vielleicht von seiner Verwandtschaft wäre? Und als ich den Kopf schüttelte: oben an der Habsburg nämlich hätte er eine Art Räuberhöhle gehabt für seine Dienstfreitage, wie er überhaupt ein Leichtfuß und Fantast gewesen wäre, eben ein Pfarrerssohn. Er sagte das, wie wenn ein Pfarrhaus ein Zigeunerwagen wäre.
Ich hatte damit fürs erste genug von den Drolligkeiten meiner Heimat und suchte meinen Schneiderschwaben von damals nicht auf; ich hätte das Haus auch kaum gefunden. Dagegen fand ich mich in die betriebsame Limmathstadt mit einem unerwarteten Vergnügen hinein. Es war doch ein hellerer Ort als unser verhocktes Bern, und zwar nicht nur durch seine breite Lage um eine freundliche Seemündung, die sich der Rauheit der Bergwelt fern genug hielt, um sie dem Blick an schönen Tagen wie eine Halskrause des blauen Sees zu zeigen. Schon in den breiten Straßen, wie die Menschen gingen und was die Geschäfte zeigten, spürte ich, daß hier die Schweiz der Internationalität eine offenere Hand bot als in dem Diplomatenwinkel zu Bern, wo die Türen der vornehmen Häuser nie aufzugehen schienen.
Ich lebte mich auch wirklich gut ein; es war die Schweizer Heimat, wie ich sie ertragen konnte, namentlich als ich erst droben in Kilchberg bei dem alten Conrad Ferdinand gut aufgenommen worden war. Ich mochte ihn als Dichter nicht so, wie den Keller, es war mir zuviel fremdländisches Brokat, was er hinschrieb, aber seine menschliche Mischung von Weltmann und Gutsbesitzer und daß er eigentlich den Schweizer in sich versteckte, obwohl er einer war, wie auch die Komik seines fetten Halses unter den klugen Augen: dies Mittelding war mir zur Eingewöhnung leichter genießbar, als das Altzürchertum von Gottfried Keller, dem zudem jeder Neuling unangenehm war. Dazu der freie Besitz des Kilchbergers, wie er da oben unter hohen Bäumen sein Habichtnest hatte in der heitersonnigen Seeluft. Es war ein farbiger Frühherbst damals, wo die Dampfschwalben unten den blauen See in glitzernden Furchen ornamentierten und immer wieder abends die Gebirge im Glarnerland wie rosige Wolkengebäude aus der seidigen Ferne wuchsen, bis sie zuletzt in einer porzellanernen Härte dastanden und noch lange als rätselschöne Helligkeiten in die blaue Dunkelheit leuchteten. Hier oben schienen die Leidenschaften keine Lebenslust zu finden; es war das Ferienland einer verfeinerten Behaglichkeit, und so sehr mich meine Kupferplatten lockten, was überanstrengt und schartig in mir geworden war von dem Berliner Sand, das dehnte sich hier wohlig aus.
Als ich den Meyer zuerst nach dem andern Alten da unten fragte, verschwand die Sonnigkeit aus seinen Augen. Es war nicht der Schatten einer Eifersucht in diesem geformten Geist, aber die Trauer verschwieg sich nicht, rote es ihn schmerzte, ihm bei der Nähe so fremd und fern zu sein. Er sah ihn selten, und daß es die verschiedenen Lebensgewohnheiten waren, die ihn von dem Seldwyler trennten, erleichterte ihm die Sache nicht. Er fühlte genau, daß der da unten der heimliche Bürgerkönig und er nur der Landedelmann war. Er konnte nicht anders, als in Wohlstand und Sauberkeit zum Wein sitzen, indessen der andere in den Zunfthäusern hockte und gegen seinen reinlichen Wohlstand noch einen Ingrimm im Herzen trug, wie ihn der alteingesessene Stadtbürger gegen den Landadel nie ganz verwinden kann. So war die Lust beim Kilchberger oben das Weltbürgertum im neuen Zürich, während unten in den Gassen und Zunfthäusern noch vielfach der Kantönligeist erst auf der Suche nach der Eidgenossenschaft war.
Als ich den einen hatte, fand ich den andern schließlich auch. Daß mich der Böcklin, damals der Genosse seiner Trinkstunden, nicht einmal dem Namen nach kannte und mir bei ihm kein Fürsprech sein konnte, während der Dichter doch einiges von mir wußte, war freilich kurios. Mir galt es gleich, ich war ein junger Kerl und brauchte nicht empfindlich wie der Kilchberger meinen Kreis zu wahren; meine Sache war in diesem Fall, dem mürrischen Gottfried in seinen Machtbereich zu dringen. Das ist mir richtig geglückt, und ob ich auch wenig Weisheiten von dem Dichter wie dem Maler hörte, wenn die beiden mit den erprobten Tischgenossen zusammenhockten, so hatte ich umso besser Zeit, die bärtigen Riesenhäupter zu studieren, das stiernackig aufgereckte des Malers und das wie eine schwere Birne vorgehängte des Dichters. Wäre ich kein geborener Schweizer gewesen, hätten sie mich Grünschnabel freilich kaum geduldet; denn es brauchte mir bloß einmal eine Berliner Wendung zu entfahren und schon bewegten sich die beiden Köpfe wie an einer elektrischen Leitung.
Einmal in der Apfelkammer – es war freilich kaum mehr als ein wohnlicher Sarg, das Weinstübchen, wo wir miteinander zu einem Dutzend hockten – geriet es mir so mit allerhand Schnurren, daß sie mir richtig zu hörten und mich ein paarmal über ihren dicken Augensäcken lustig anlächelten. Immerhin ertrugen sie mich mehr vom trinken her; wenn ich nicht ein so wasserdichter Weinschlauch gewesen wäre, hätten sie mir sicher nicht über den Wirtstisch getraut. Doch gibt es schließlich beim Wein eine Stimmung, wo der Geist anfängt, rebellisch zu werden, wo man die Frechheiten, die sonst verschluckt werden, an die Luft fahren läßt; nur einer allein darfs nicht sein, weil er sonst leicht ein Schwadroneur wird: so zwei oder drei wie mit geladenen Flinten gegeneinander, kaum ist dem einen ein Treffer geglückt, so hat er schon vom andern eine Ladung mitten ins Gesicht und der dritte haut ihm den Kolben noch in den Nacken. So waren an dem Abend noch zwei Kerle da, ein buckliger Thurgauer, der seine Frechheiten schläfrig auf den verwaschenen Holztisch rollen ließ, und ein Sankt Galler, der sie mit spitzen Nadeln zu einer Käfersammlung aufspießte. Wir triebens den beiden Alten so, daß sie mit vollen Rotweinbäuchen lachten, wie wenn Fässer übers Pflaster rollten. Als wir nach Mitternacht aus dem Weinsarg wieder an die Luft krochen und auf die Gasse kamen, mußte der schwere Böcklin, obwohl er selber schon auf sehr breiten Füßen ging, den kleinen Gottfried wie ein altes Frauchen leiten, das seinen Gesangbuchvers brummelnd mühselig den Kirchsteig hinunter wackelt.
Mir saß der Wein noch im Kopf und drängte fürs erste oben hinaus; wie wir an den Brunnen kamen, der da im Winkel dreier Gassen steht, wo vorn das Wasser in das Steinbecken sprudelt, während hintendran die Stadtverwaltung der Freiheit des späten Wanderers eine nasse Hütte gebaut hat: kletterte ich mit dem Einfall solcher Zeiten über die Eisenstange an dem Becken auf das Postament hinüber und stellte mich wie ein Brunnenritter mit verrenkten Hüften auf das Standbein, den Alten eine Spottrede vom Kreislauf der Flüssigkeiten zu halten. Ich hätte mir fast den Hals dabei gebrochen und rutschte nachher auch richtig bis an den Bauch ins Wasser, aber das ist ja schön an solchen Augenblicken, daß man um einer Verrücktheit willen nicht nur das sonst so wohl behütete Leben, sondern selbst den Ruf der Lächerlichkeit ins Spiel setzt.
Zu malen kriegte ich den Seldwyler Meister trotz solcher Wein- und Gassenfreundschaft diesmal zwar noch nicht; aber zum nächsten Sommer versprach er mir, ein paarmal ins Atelier zu kommen, das ich zwar erst in Aussicht, doch so gut wie sicher hatte.
Als ich nämlich am dritten oder vierten Tag in Zürich war und auf dem Bahnhof Enge den Zug nach Kilchberg abwartete, sagte mir kein anderer als der Emil Welti aus Bern guten Tag, der unterdessen Doktor jur. geworden und seit zweieinhalb Jahren mit der Lydia Escher in Zürich verheiratet war. Die Namen gingen gut zusammen; denn wenn der alte Welti als Bundesrat und mehrmaliger Bundespräsident ziemlich in der ganzen Schweiz bekannt war, so hatte der Escher als der Fürst von Zürich gegolten. Er hatte seiner einzigen Tochter zwar kein so großes Vermögen hinterlassen, wie es nach dem herrlichen Wohnsitz auf Belvoir schien, aber doch genügend, um ungehindert kostspieligen Neigungen nachzugehen und das zu führen, was man ein großes Haus nennt. Ich hatte von der Dampfschwalbe aus schon den wundervollen Park gesehen, wie er mit seinen Baumkronen vom See zu einem sanft gerundeten Hügel anstieg; nun erfuhr ich, daß mein Schulkamerad durch seine Heirat der unbeschränkte Besitzer dieser Sache geworden war und somit ziemlich dem ersten Haus der Schweiz vorstand. Wir waren in der Schule nicht Freunde sondern Klassengenossen gewesen; er hatte in seiner soliden Strebsamkeit zu wenig von meinem Schlag: wenn ich nicht unterdessen durch mein Porträthandwerk der Karl Stauffer-Bern und er durch die Neigungen seiner Frau eine Art Mäzen von Zürich geworden wäre, hätten sich unsere Wege trotz dieser Bekanntschaft kaum weiter gekreuzt. So aber lud er mich herzlich ein, ihn zu besuchen; und weil er wirklich nicht nur äußerlich das war, was man einen netten Kerl nennt, und weil ich damals in meiner Heimatfreude mit dem Gedanken liebäugelte, mich als Porträtmaler in Zürich niederzulassen, um in der Heimat für meine Luftwurzeln den Boden zu erreichen, sagte ich ihm gern zu.
Ich war unterdessen nicht mehr der Stubenmaler aus München; ich hatte mich in der Berliner Gesellschaft gründlich frei geschwommen, und als ich mir einen der nächsten Tage für Pflichtbesuche ansetzte, war ich den Zürchern eher zu elegant, was sie mich teilweise erstaunt auch fühlen ließen. Im Belvoir wurde ich empfangen, wie ichs gewohnt war, nur daß die Hausfrau mir um den Schritt entgegen kam, mit dem die Form in solchen Fällen überschritten werden darf. Es widerstrebt mir, mit Worten den Eindruck aufzuzeichnen, den sie mir damals machte, als sie mich in dem halbrunden Gartensaal empfing, in dem sie zufällig war; ich mag nicht von den Streichhölzern erzählen, an denen mir nachher mein ganzes Haus abgebrannt ist; noch weniger vermag ich, mich nun zu rächen, indem ich in ihr Bildnis häßliche Züge hinein male, die ich erst später sah. Nur fragen darf ich mich, warum mir gerade diese Frau zum Schicksal wurde, da ich doch weder in der Liebe noch sonst in Menschensachen den schwärmerischen Neuling spielte?
Wohl war es ein reiches Haus in einem herrlichen Park, in das ich trat, doch war es nicht das erste. Ich hatte Frauen von größerem Reichtum, wirklicher Schönheit und auch mehr Geist gekannt. Auch war ich das nicht, zu keiner Stunde, was man einen Don Juan nennt, weil das ein Diener immer der Frau ist, mit der er sich gerade einläßt. Obwohl es mir nicht an Abenteuern gefehlt hat, als Stuben- und als Modemaler nicht, obwohl die Frauen augenscheinlich an meiner Art von Männlichkeit etwas schätzten, was sie sonst an Männern zu entbehren schienen, obwohl ich mich, wenn mich der Teufel hatte, durch keine Bedenklichkeiten abschrecken ließ, ihm in den Hörselberg zu folgen: ein Schmachtlappen bin ich weder vorher noch später bei der Lydia gewesen. Auch bin ich sicher, wenn ich ihr in München oder Berlin begegnet wäre, ich würde ihrem Einfluß nicht so verfallen sein, wie es mir schließlich doch – wie sagt man – auf den ersten Blick geschah.
Was mich an Zürich so entzückt hatte und was mir den alten Herrn auf Kilchberg sympathisch machte, daß hier am Limmathsee die Schweiz der Welt die Hand reichte, daß von hier aus weltmännischer Geist in die Schweiz eindrang, zum wenigsten in die deutsche: das alles fand ich nun in einer Art Sinnbild verkörpert durch die Lydia. Als das einzige Kind des großen Escher und von der Mutter schon im dritten Jahr verwaist, hatte sie seit ihren frühen Mädchenjahren die Hausfrau in einem Haushalt vertreten müssen, darin die Gäste aus Berlin, Paris und Rom zu den Täglichkeiten gehörten. Sie war vielleicht ein launisches, exzentrisches Wesen geworden, wie man mir sagte, und gereichte einer Schweizer Bürgerin sicher zum Verdruß, wenn sie mit ihren weißen und goldbestickten Kleidern aus dem Belvoir nach Zürich kam: aber dafür war auch nichts von der Enge meiner Heimat in ihr. Sie war keine Bernburgerin, die stolz auf ihre Herkunft aus der zweit- oder drittältesten Familie war, sondern eine Weltbürgerin, die sich etwas darauf zugute tat, die erste Mode in der Kleidung oder auch einmal in der Kunst nach Zürich zu bringen. Ihre Seltsamkeit war dabei, daß sie selber offensichtlich aus Zürich stammte; weil ich mir aber damals nichts inniger ersehnte, als meiner Heimat wieder nahe zu kommen nach soviel Fremdlingsjahren, war sie mir ein willkommener Schlüssel, die Tore aufzuschließen. Denn nur in Berlin war ich das hergeschneite Hätschelkind im Westen; hier in der Heimat blieb ich vorläufig der Pfarrerssohn aus Neuenegg, und daß der nun im Belvoir der Escher von Zürich Hausfreund wurde, das machte immerhin ein großes Stück der Geltung aus, die ich ersehnte. Und schließlich war sie, was alle Frauen der Gesellschaft für mich bis dahin nicht gewesen waren, doch eine Schweizerin, mit der ich über die Dinge meiner Kunst in den Heimatlauten sprechen konnte; das machte mir die Lydia gleich schwesterlich vertraut.
Trotzdem war unser Briefwechsel im ersten Winter noch ein spärlicher, er bezog sich fast ganz auf die notwendigen Anordnungen für das Gewächshaus, wo ich sie und den Gottfried Keller im Sommer darauf malen wollte. Auch später ist zwischen uns keine unerlaubte Vertraulichkeit gewesen bis zum Schluß, und daß es dann anders wurde, war zum wenigsten für mich kein langersehntes Ziel, weil ich den Teil vom Leben genossen hatte, nach dem sie mehr als lüstern war.
* * *
Wenn ich die Zeit abwäge, die ich nach diesen glücklichen Ferien noch in Berlin geblieben bin, so ist es auch später eine Hetze gewesen; aber schlimmer war es nie, als im ersten Winter danach. Mir war Berlin nur noch ein Aufenthalt zur Arbeit; daß ich damit sobald wieder in die Raserei geraten sollte, kam von dem immer noch nicht völlig entschleierten Geheimnis der Kupferplatte. Ich nahm natürlich die beiden letzten Bildnisse zurhand; die Platte von der Eva Dohm war rettungslos, die von der Schwester Sophie noch unverdorben; so faßte mich der Teufel der Vollendung, ihr die letzte Feile zu geben. Sie war nicht übel gezeichnet und sprechend in der Ähnlichkeit, auch hatte ich mit meiner Punktmanier den Fleischton ziemlich heraus gebracht: nur, was ich in der Malerei niemals erreicht hatte und was mir doch als Sehnsucht im Blut lag, die stoffliche Erscheinung so zu geben, daß die Zeichnung darin wieder zurück ging: das fehlte ihr. In München hatten wir das mit unserer malerischen Kohle- und Kreidewischerei zuwege gebracht, seitdem ich aber durch den Polyclet von Schadow tiefer in das Studium der Form von innen heraus gekommen war, schien mir das alles Schwindel, um über die Schwierigkeiten mit Handgriffen wegzutäuschen; denn irgendwie mußte sich die Erscheinung der Dinge auch aus der Tiefe ihrer eigenen Form so weich und malerisch in die Bildfläche zwingen lassen, wie sie sich dem Auge bot. Und dazu bedurfte es der Farbe nicht, man mußte alle Farbigkeiten in der Schwärze geben können. Weil meine Schwester blond war, auch im Fleisch, und weil diese Blondheit das entzückende an ihr war, genügte das Erreichte nicht, ich mußte mehr in meine Platte zwingen. Bis jetzt war sie nur frisch und sprechend und richtig gezeichnet, Materie war sie noch nicht.
Ich gab mich also von neuem an die Platte und ätzte zunächst einmal den Hintergrund so tief, daß der Kopf nun, statt mit schwarzem Schatten davor zu stehen, als Helligkeit heraus wuchs. Natürlich war das Resultat wie immer, daß auch diese Platte verdorben war. Sie konnte nur gerettet werden, wenn ich den Grabstichel handhaben lernte, den mir der Peter Halm von Anfang an empfohlen hatte.
Darüber kam eine Art Auftrag, indem ich auf Veranlassung des Verlegers Schuster den alten Menzel zu seinem siebzigsten Geburtstag radierte. Er saß mir wirklich sehr geduldig zu einer Kohlezeichnung und ich machte in ein paar Tagen die Radierung von seinem Billardkugelschädel. Mit den gelernten Mitteln, mit den dicken Punkten namentlich im Fleisch, und weil es ein origineller Gnomenkopf war, sah sie nicht übel aus. Und obwohl ich zunächst im Ganzen sieben Stück verkaufte, während der Verleger auf mindestens hundert gerechnet hatte, ließ ich mich bereden, nun für seine Rechnung eine große Platte vom alten Kaiser Wilhelm zu radieren. Es war der letzte meiner Versuche, mit meiner Kunst Geld zu machen; schon, daß ich die Absicht hatte, nahm mir alle Freude daran; so arbeitete ich über die Weihnachtstage wie ein Tagelöhner an der Platte, verhunzte sie, fing sie noch einmal an und stand am Ende vor der Weisheit, daß ich zur Kunst den Schlüssel verloren oder noch garnicht in Händen hätte. Sie machte mir manchmal ein Fenster oder auch die Tür auf; aber wenn ich meinte, recht bei ihr drinnen zu sein, stand ich doch immer wieder auf der Straße, wenn ich nicht, wie damals Weihnachten, auf dem Pflaster saß.
Weil man aber nicht als abgeworfener Sonntagsreiter aufstehen und heimhinken kann, sondern durch die Tür hinein muß – wie der Bär im Berner Graben – nahm ich danach die Platte von meiner Schwester Sophie wieder vor und versuchte daran mit dem Grabstichel weiter zu kommen. Ich war zu unsicher, ob mir die Sache geraten würde, und um das erst einmal ungefährlicher Weise an einer frischen Platte zu probieren, fing ich noch einmal mit der Eva Dohm an. Ich radierte nur die Umrisse und das Haar vor und fing das Fleisch gleich mit dem Grabstichel an; ich war erstaunt, wie butterweich das Metall für den Stichel war und kupferstecherte darauf los. Sie kam nicht übel heraus und so nahm ich denn auch die Schwester Sophie wieder vor und brachte sie vollkommen mit dem Grabstichel zurecht, sodaß ich endlich nicht bloß eine radierte Zeichnung, sondern die ganze stoffliche Erscheinung im Abdruck hatte. Da wußte ich, warum Dürer und Schongauer den Grabstichel so geliebt hatten und warum selbst Rembrandt noch damit in seine Blätter hinein arbeitete.
Einmal soweit, tat ich natürlich auch den letzten Schritt und fing ein paar Platten direkt als Kupferstich, ganz ohne Ätzung an, zuerst das Wallon, mein Modell, dann einen toten Christus. Der kleine Akt der Wally war in zwei Tagen fertig, bei dem großen – die Platte war ziemlich 30 zu 60 Zentimeter – schwitzte ich natürlich Blut; aber er wurde auch im selben Jahr noch ordentlich, zwar kein Christus, wie ich dachte, sondern einfach ein männlicher Akt, nach der Natur gestochen und kein Schwindel mit irgend einer Form. Als ich mich so der Technik gewachsen fühlte, nahm ich die Mutter vor nach dem Porträt und stach sie mit haarscharfen Linien zurecht bis in die letzte Falte; ich sah nun endlich, wie das Papier im Druck lebendig wurde und das Gesicht keine Zeichnung mehr war, sondern recht das welke Fleisch einer ältlichen Frau. So war ich mit dreißig Jahren doch ein Künstler geworden, der keiner Schule und keinem Meister das Seinige entnommen, sondern die Natur rechtschaffen bezwungen hatte. Keiner von allen, die da lebten, hatte dergleichen gemacht, und doch war es nicht der Hochmut auf die paar Blätter, was mich fröhlich stimmte, sondern daß ich nun endlich auch für meine Malerei einen Ausweg sah; es mußte mir auch hier gelingen, mit strenger Formbehandlung die Farbe samt der stofflichen Erscheinung heraus zu bringen.
So kramte ich mit neuem Mut mein großes Bild hervor; dazwischen aber kam der Sommer, wo ich meine Leute in Bern wiedersehn und mich bei meinen Gastfreunden in Zürich, wenn auch malend, rechtschaffen erholen wollte.
* * *
Soweit ich mich an diesen zweiten Aufenthalt im Belvoir erinnere, hat er wohl zu meinem Unglück den Grund bereitet; und wenn ich etwa an einen Satan glauben könnte, der den Menschen nach dem biblischen Glauben die Schlingen der Versuchung legt, so hätte er die meinige damals nicht übel eingefädelt: daß er den Emil Welti mit einem Freund nach Norwegen schickte und mich allein wochenlang mit der Lydia im Belvoir ließ, war sicher eine Teufelei. Als ich von Berlin aus die Einladung, dort zu wohnen, annahm, wußte ich von diesem Plan noch nichts, da er mich sonst wohl bestimmt hätte, die Einladung abzulehnen. Doch war es schließlich kein Bahnwärterhaus, sondern eine große Besitzung im Park mit viel Dienerschaft, wo die äußeren Grenzen peinlich gezogen waren; so passierte nichts, was einem Roman im Sinn der Zeitungsfantasie entsprochen hätte. Ich war kein Glücksritter und kein Einfaltspinsel, und die Lydia Escher war keine Gans, die gleich beim ersten Loch im Zaun ausbrechen will; es gibt auch freundschaftliche Neigungen zwischen einem Mann und einer Frau, die nicht aufs Bett abzielen. Und wenn auch sicher der Instinkt der Geschlechter solche Beziehungen wohliger macht, und also immer, wenn beide noch im Alter dazu sind, unter der fröhlichen Eisdecke, darauf sie mit Gesprächen und Gedanken ihre Schlittschuhkreise zirkeln, der tiefe, lockende Wassergrund ist, in den sie beide doch einmal einbrechen können – weshalb die Orientalen auch schon richtiger ihre Weiber in einen Harem sperren und ihnen dahinein keinen Porträtmaler und Radierer aus Berlin einladen – so scheint mir der Reiz solcher Beziehungen immerhin auch etwas zu sein, das aus der Welt der geistigen Genüsse nicht allzusehr hinaus fällt. Es kommt nur darauf an, daß keiner von beiden das ist, was das Wort lüstern so drastisch benennt.
Was mich betraf, war ich in Liebessachen auch nicht mehr so gestellt, daß ich allein mit einer Weibsperson schon ins Flackern geriet: ich hatte mir den ersten Appetit der Liebe gestillt und war darin nicht auf die Frau von einem Schulkameraden angewiesen. Es zog mir freilich in ihrem reichen und ordentlichen Haushalt ein paarmal wehmütig durch die Seele, daß ich in der Bedrängtheit meines Lebens nie äußerlich so ins Behagen kommen würde, weshalb ich ihr vielleicht ein bißchen häufig in Briefen und auch mündlich das Wort von Hölderlin zitierte: »Uns ist gegeben an keiner Stelle zu ruhn«: doch konnte ich den Welti nicht beneiden, weil ich zu deutlich die Unrast als ein Erbteil meines Temperaments empfand.
Sie stand in der Beziehung mit anderen Ansprüchen da; als Tochter eines Mannes aufgewachsen, der sich – darin ein bißchen uns Künstlern gleich – im Leben zerrieben und die Tochter von frühauf ihren Launen überlassen hatte, war sie erst mit fünfundzwanzig Jahren in die Ehe gekommen. Ihre Stellung im väterlichen Haushalt, wo sie seit Jahren die Herrin spielte, war so, daß jede Heirat leicht einen Wechsel bedeutet hätte, der ihrer herrischen Natur nicht lag. Sie war nach ihrem Wesen, ihrer Herkunft und Erziehung darauf gestellt, eine Rolle in der Welt zu spielen. Man sagte, daß sie deshalb den Sohn vom Bundesrat, trotz allem Einspruch ihres Vaters, genommen hätte, weil sie sich in der Diplomatenstadt Bern ein großes Haus als Brennpunkt europäischer Beziehungen ausmalte. Doch war der alte Welti dafür nicht zu haben, daß er als nicht vermögender Mann in Bern zum Haus der Schwiegertochter den gesellschaftlichen Anhang lieferte. So war die Lydia im väterlichen Belvoir geblieben, und weil ihr Mann die Rolle des großen Escher nicht übernehmen konnte, war sie mit ihrem Ehrgeiz doch auf den Hausstand angewiesen, den sie mit schweizerischer Pünktlichkeit verwaltete, obwohl sie ihre Sehnsucht nach einer Rolle in der Welt gerade in der hartnäckigen Abkehr von dem Gesellschaftsleben am deutlichsten dartat.
Mich faszinierte sie als freie Schweizerin im Sinn des Kilchbergers, dem sie sogar in der Erscheinung nicht unähnlich war, robusten Schlages scheinbar und innen doch verletzlich und auch schon verletzt. Daß ich ihr als ein vielgenannter Künstler der deutschen Reichshauptstadt von Schweizer Herkunft eine Luft mitbrachte, die ihr genehm war – wie überhaupt wohl immer die Kunst dem Luxus dann herhalten muß, wenn er sich sonst nicht recht betätigen kann – das sagte sie mir offen, wenn wir durch die beschatteten Gänge des alten Parks schritten oder vorn auf der Terrasse den Gletscherkranz des Hochgebirges im Abendrot glühen sahen. Und daß wir beide mit unserer Unrast und abgehetzten Leidenschaft uns menschlich näher standen, als sie zu ihrem Mann, der sich zur Kunst wie zu den andern Dingen des Lebens im Sinn des korrekten Genießers hielt: war ich verpflichtet, innerlich taub zu sein, das nicht zu merken?
Nun saß ich Tag für Tag, zunächst als gern begrüßter Gast, danach als eingewöhnter Hausgenosse mit ihr zumeist allein die Mahlzeiten ab, und mußte unvermerkt im äußeren Betrieb, wenn wir spazierten, auf dem See fuhren und auch sonst die Rolle des abwesenden Beschützers übernehmen: wenn das nicht eine Masche des Schicksals war, eine unsichtbare Schlinge, die sich für spätere Zeiten um unsere Füße legte, dann müßte das Leben nicht in jeder Sekunde auf das Wachstum solcher und anderer Beziehungen abzielen, die ja nichts anderes als das Leben selber sind, und müßte nur das Gemisch von furchtsamer Pflichterfüllung und peinlicher Grenzabmesserei darstellen, als welches die papiererne Moral es gelten läßt. Bevor die Konventionen das Leben der Menschen regelten, war es doch selber aus dem Strudel der Natur geboren; wie nie ein Lehrbuch die Säuglinge hindern wird, daß sie in ihre Windeln machen, und die Leichname, daß ihre wächsernen Gesichter wie die faulen Blätter und Küchenabfälle zur Nahrung des neuen Lebens dienen – das in seinem natürlichen Ursprung nicht so peinlich sein kann, wie nachher, wenn es für den Betrieb der Kultur durch die sogenannte Erziehung dressiert ist: so wird die höchste Vernunft sich selber und andere nicht zu bedruckten Blättern der Weisheit machen können, die Stunde für Stunde als Summe alles Lebens abgelesen werden, von der Geburt zum Tod.
Äußerlich war ich ein Porträtmaler aus Berlin, der die Hausfrau malte. Sie hatte mir dafür nach meinen Angaben das Gewächshaus eingerichtet mit ganz erträglichem Licht; da malte ich denn auch den Gottfried Keller, der täglich auf seinen kurzen Beinchen von Hottingen um den See herum nach der Enge kam und sich geduldig hinsetzte, wie er im Wirtshaus auch dasaß: die Schultern seines Bäuchleins wegen zurück gezogen, den großen Kopf schwer vorgehängt und mit den Beinchen kaum auf den Boden reichend. Ich malte ihn einmal en face und fand dabei, daß er garkeinen Blick hatte, wenn er nicht sprach, die Augen schienen erloschen und starrten traurig ins Leere; gerade das Gegenteil vom Meyer, dessen kluge Mausaugen den Beschauer freundlich ansahen. Es kam dies wohl zumeist durch die Brille, aber der Lebensüberdruß sprach doch zu deutlich daraus, und keine Frage drängte sich vor seinem Kopf mehr auf als die, wo denn der überreiche und tiefe Humor des Mannes seine Wohnung habe? Der aus seinen Büchern statt der Strahlen ganze Bündel von Sonnenschein in die Welt warf, war in seiner Alltäglichkeit ein verdrießlicher Gast.
Es machte ihm keine Freude zu sitzen, aber da er hinterm Weintisch auch nichts anderes tat, als rauchend vor sich hin zu starren, hielt er es ziemlich aus. Nur, als es in dem Gewächshaus ein paar Tage lang heiß wurde, daß die Brummfliegen ihn umsummten und er sich unaufhörlich den perlenden Schweiß abtrocknen mußte mit seinem rotseidenen Sacktuch, schien es mir ratsam, ihm die weiteren Sitzungen zu schenken. Ich hatte mit dem Zeichenstift und dem photographischen Apparat alles notiert, was mein Gedächtnis unterstützen konnte, sodaß er mir mit seiner Erscheinung verfallen war. Daß ich später gerade den drolligen Zustand radierte, wie er auf seinem Armensünderstuhl erschöpft dasaß, hat er mir übel genommen, und ich mußte ihm versprechen – als er den Abzug endlich sah – keine weiteren Drucke davon zu machen. So ist bei uns Menschen noch die Verdrießlichkeit des Alters den kleinen Eitelkeiten unterworfen; es war ein Mißverhältnis, daß der Dichter des grünen Heinrich und der goldigschönen Legenden körperlich so aussehen konnte: mir aber schien das doch wieder schließlich wie ein Stück Humor, von ihm selber gedichtet.
Ich radierte ihn freilich erst, wie auch den Conrad Ferdinand Meyer mit dem Hutschatten im Gesicht, im Januar des nächsten Jahres. Als ich damals im Herbst nach Berlin zurück kam, nach einer prachtvollen Fahrt über den Bodensee ins Bayerland, saß mir die behagliche Sauberkeit des Haushalts am Belvoir so im Gemüt, daß ich mir meine Räume mit alten Möbeln neu herrichtete, eine Haushälterin nahm und somit aus dem Dasein eines in Staub und Unordnung hausenden Malers in den Stand eines häuslich eingerichteten Junggesellen trat. Es war mir auch fürs erste wohl dabei, und es schien mir damals sogar in einem innerlichen Zusammenhang damit, daß ich zuerst den sauberen kleinen Akt ganz ohne Ätzung in die Platte stach und danach die große Platte mit dem Christus. Die langen Ferien hatten mich ausgeruht und die Erfolge meiner Stecherei kamen dazu, mich fast übermütig zu machen. Wenn damals die Berufung als Professor an die Münchener Akademie wirklich gekommen wäre, von der sie mir nachher den Speck durch die Zähne zogen: es wäre möglich gewesen, daß meine Geleise wie so manche vor mir in den Bahnhof zurück geführt hätten, wo ich als Weichensteller oder Stationsvorsteher – meinem verunglückten Freund in Turgi gleich – die Ausfahrt der neuen Kunstzüge betreuen konnte. In meinem Schicksal aber war vorbestimmt, daß meine Lokomotive dem Felddienst der Kunst ausgeliefert war, bis sie entgleist an der Böschung hing und ihre letzte Explosion abwartete.