Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Lernen


I.

Ich bin geboren im September des Jahres 1857, als ein verspätetes Augustgewitter das enge Waldtal der Ilfis wie im Frühjahr mit dem Donner von krachenden Lawinen füllte und das Dorf Trubschachen mit Wasserstürzen fast ersäufte. Es will mir scheinen, als wäre der Lärm von diesem Morgen nicht mehr aus meinem Leben fortgegangen bis heute, wo ich, mit dreiunddreißig Jahren schon ein Greis, die Niederschrift beginne. Wie die Sonne damals noch fleißig die Gärten beschien, so hab ich freilich zwischendurch auch ein paar Dinge, soweit ich konnte, bis an die Grenze der Vollendung gebracht – warum ging es so schnell mit mir und warum kam ich nicht ins Alter wie die andern – nur hieße das wohl Maß und Inhalt meines Lebens verwechseln, wenn ich die paar radierten Blätter als Sinn und Ziel von soviel Aufwand betrachten wollte.

Ich war das erste Kind von sechsen; doch wenn ich meiner Mutter glauben darf, und was berechtigt mich zu zweifeln, da mir die Sonne ihrer klaren Liebe allzeit den Weg beschien, hab ich ihr mehr zu schaffen gemacht als die fünf andern, von denen allerdings nur einer, der Eduard, ein Knabe war. Meine Mutter stand noch im Anfang ihrer Pfarrhelferei, als sie mich trug: und wenn ich mir ihr Bild betrachte – es ist längst blaß geworden und gibt die Schatten nur noch verblassen auf dem Silbergrund – wie sie mit breiter Krinoline neben meinem Vater dem Pfarrhelfer sitzt, der den Zylinderhut zwar etwas schief doch sonst gemessen trägt: muß ich vermuten, daß sie ein Mädchen von nicht alltäglicher Schönheit gewesen ist. Was ich von ihr als Bild in der Erinnerung trage, ist freilich älter – auch die Erinnerungsbilder unserer Lieben altern unmerklich mit, sodaß wir mühsam aus der Erscheinung der letzten Zeiten nach den Zügen suchen, wie sie früher waren – es ist die Frau, wie ich sie malte, immer noch mit einer Farbe im Gesicht, die wie das Fleisch auf Rubensbildern ist, jedoch mit vielen Zwickelfalten und einem Paar Augen, das darin fast mit einer blanken Kälte steht. Sie galt, wie ich vielfach erfuhr, schon früh für eine Frau von freier Bildung und praktischem Sinn; als Tochter eines bernischen Pfarrers war sie in England Erzieherin gewesen und hatte daher eine Haltung mitgebracht, die mir manchmal zu pädagogisch doch immer ungewöhnlich war.

Sie hätte mir – wenn sich für einen Sohn dergleichen sagen läßt – mit der Erbschaft ihrer handfesten Art eine bessere Lebenssicherheit gegeben, wenn nicht mein Blut vom Vater her mit dunkleren Wünschen belastet gewesen wäre. Nicht, daß der jemals so ins Strombett seiner Leidenschaften geraten wäre, wie mirs geschah; er war wie meine Mutter aus gutem Berner Haus und trug den Stolz davon in seiner gemessenen Haltung noch zur Schau, als ihm die Schatten einer ererbten Melancholie den Geist zum zweitenmal und dann für immer verdüsterten. Er schien – gleich mir – von derber Art und galt im Land als Bauernpfarrer, von dem noch heute drastische Späße im Schwange sind; nur innen war die Rasse abgelebt, er kam mit der Wirklichkeit seiner Pfarrkinder nicht zurecht; zu städtisch für die Bauern und für die Stadt dennoch zu ungelenk, litt er sein Leben lang an einer Verletzlichkeit, die ihm zum Schicksal wurde. Indem ich die Unrast dieses Vaters in einem Körper trug, der durch die Mutter mit den Säften bernischen Volkstums gesättigt war, bin ich mir selber und den andern in meiner Jugend als ein Sinnbild gesunder Kraft erschienen, um vor der Höhe meiner Mannesjahre – freilich grausamer vom Schicksal angepackt als er – gleich meinem Vater gebrochen dahin zu müssen.

* * *

Trubschachen ist kein heller Ort; im Tal der Ilfis da gelegen, wo der kalte Trubbach mündet, weist er von seinen Matten ins breite Wiesenland um Langnau hinunter, um selber in den Falten steiler Tannenhänge schon dem Gebirge anzugehören, das sich zum Napf, dem vielgerühmten Aussichtsberg des Emmentals auf vierzehnhundert Meter hebt. Ich bin nur bis zum dritten Jahr in dieser Welt gewesen, weil der Vater schon im Frühjahr 1860 als Pfarrer nach Neuenegg im Sensetal berufen wurde. So blieb mir von der schwarzgrünen Stimmung dieser Landschaft nichts in der Seele als ein Frühlingstag, an dem der Föhn über Nacht den Schnee mit Regen löste, obwohl der Boden noch hartgefroren war, sodaß die gelben Gewässer der Ilfis mannsstarke Tannenbäume, Hütten, Dächer und Gebälk mit totem Vieh, auch einmal Hirten dicht beim Pfarrhaus an meinen erschrockenen Kinderaugen vorüberführten, die das Schreckbild der heimatlichen Bergnatur nicht mehr vergaßen. Nicht aber, um mit Furcht und Wehmut an die Schrecknisse zu denken, vielmehr um mich nach Knabenart zu freuen an diesen Hirten, die nicht mit lahmen Armen nach Hilfe flehten, sondern mit Sparren rudernd immer noch ihr Leben zu retten dachten.

Obwohl das Pfarrhaus in Neuenegg größer war und wie ein Landschlößchen am Hügel stand, kam mir der Abschied von Trubschachen erst garnicht recht; ich hatte einen Spielanschluß im kinderreichen Nachbarhaus gehabt, wo ich als der Pfarrsohn verhätschelt wurde, sodaß ich mich aus Neuenegg noch lange klagend nach den gewohnten Kindern sehnte. Auch meinem Vater bekam das Sensetal nicht gut; es zieht sich zwischen Hügeln nicht ohne Anmut bis nach dem alten Städtchen Laupen hin, wo die Sense in die Saane mündet und mit ihrem Wasser weit unterhalb von Bern der Aare zufließt. Doch sind die Hügelketten nach der Art von solchen Tälern im flachen Vorgebirge einförmig gebildet, und weil der Blick sich durch die Biegungen des Flusses stets von neuem in einer andern Mulde gefangen sieht, sich niemals an die weißen Berge oder in blaue Fernen verlieren kann, sondern immer durch die Grashänge und die schmalen Tannenränder darüber beschränkt ist: so stellt sich leicht die atemdrückende Beklemmung ein, daß man um Sterbens willen den Himmel und die Welt dahinter sehen und einmal einen weiten Ausblick haben möchte. Dazu kommt noch, daß die Sense mit Überschwemmungen ihr Bett vielfach verändert und so den Talgrund mit Tümpeln und sumpfigen Stellen ausgefüllt hat, darum die breiten Erlen- und Weidenstände in feuchten Mondnächten wie Geisterscharen auf mitternächtige Kämpfe warten. Wenn da hinein ein regnerischer Sommer kommt, sodaß die grauen Wolkenmassen tagsüber den Wiesenkessel bis unter den Tannenforst hinunter mit einem lastenden Deckel schließen und abends immer wieder aus dem Wasser und den klebrigen Wiesen die weißen Schwaden steigen, um den Wolkendeckel an den Rändern neu zu dichten für den andern Tag: dann muß schon einer in dieser einsamen Welt geboren und der Sonne entwöhnter als andere Menschen sein, um nicht mit jedem neuen Regentag in stärkere Traurigkeit zu fallen.

Wenn dann noch Widerstände menschlicher Herkunft einem Mann den Beruf verbittern, wie es meinem Vater zu Neuenegg geschah, bevor er sich mit den veränderten Verhältnissen zurechtfand: kann einen, der beschaffen ist wie er es war, der Trübsinn schon befallen. In Trubschachen hatte er nur Hirten als Pfarrkinder gehabt, die einen Oberhirten brauchten, das Vieh zu segnen und zu den kirchlichen Gelegenheiten ihres einfachen Lebens mit seinem Gotteswort dabei zu sein; im Sensetal, wo es schon damals Fabriken und reich gewordene Bauern gab, wo mancher Weiser nach dem Uhrwerk der bernischen Bürgerpolitik gestellt war, sollte auch der Pfarrer Parteimann werden. Ich sehe mich noch genau mit meinem Vater zum erstenmal das Tal abschreiten, darin die Häuser von der Brücke bis ins Gehölz verstreut und feindselig gegeneinander standen, wie die Gesichter neugierig an die Fenster kamen und grinsten, wenn er vor einem Falschen den Hut abzog. Der Frühling brachte ihm diesmal nicht so viel Blumensträuße ins Haus, wie er aus Trubschachen gewohnt war, wohl aber sah er seine gutmütige Unerfahrenheit in manchen Zank hineingezogen. Dazu der Regen, unaufhörlich die Wege weichend, daß Heu und Frucht verdarb; zuletzt die Überschwemmung, nicht wie in Trubschachen mit dem Föhn anschwellend und verschwindend, sondern Tag um Tag das breite Tal ausfüllend, bis die gelbe Flut langsam versank und alles Wiesenland unter einem klebrigen Schlamm zurückließ. Als der September danach noch heiße und endlich schöne Tage brachte, war ihm schon alles so mit Regentraurigkeit gefüllt, daß ihn der Onkel Schärer in eine Anstalt besorgen mußte, aus der er uns nach dreißig Monaten erst wiederkam.

Wie eine Mutter dasitzt mit drei Kindern, deren Vater und Ernährer in eine Heilanstalt gesperrt ist, das hab ich selber zwar miterlebt, weiß aber das Bittere davon nur aus Erzählungen späterer Zeit; damals war ich ein Knabe, dem der Vater – wie Trubschachen – allmählich aus dem Bewußtsein fortgegangen war. Am meisten wohl, weil auch in Neuenegg die Nachbarschaft mir bald Vergnügen machte: Es wohnten gegenüber im alten Schulhaus nicht nur die Lehrersfrau, die sich später mit mir in der Unterklasse plagen mußte, sondern auch ihre Töchter, die mir im Alter etwas vorausgingen und mich mit meinen blauen Augen und den roten Backen – wie sie mir später sagten – ein allerliebstes Buebli zum spielen fanden. Sie kamen täglich in den Pfarrgarten herüber, der sich hinterm Haus auf dem Hügelrand in ein Wäldchen zog, wo wir Igel fangen, Begräbnis spielen, klettern und graben konnten, und wenn mir etwas Unangenehmes aus dieser Zeit geblieben ist, so doch nur dies, wie oft ich mit zerrissenen Hosen und verlorenen Strümpfen die Sorgfalt meiner Mutter ärgerlich machte, die sich mit ihren drei Kindern allein redlich abplagen mußte.

Ich hätte damals einen jungen Dichter vorstellen können mit meiner Naturempfindlichkeit; ich weiß genau, es war das Frühjahr, bevor der Vater wiederkam – ich kann also höchstens erst fünfjährig gewesen sein – daß ich mit meinem Schatz, ich war schon frühzeitig auf der Suche nach den Liebesfreuden, die jungen Birkenbäume in dem Wäldchen nacheinander abküßte, weil sie nun wiederkamen mit Knospen, Blättern und den lustigen Kätzchen. Es hat mich danach jedes Frühjahr, wenn auch nicht mehr so kindlich, gepackt: wenn dieses Gesause durch die schwellenden Zweige geht, das im Winter niemals kommt und mit den ersten Blättern aufhört: es ist, wie wenn die Ruten, biegsamer geworden vom steigenden Saft, einen andern Klang gäben. Der Geruch von den harzenden Knospen mag dazu beitragen, daß man den Frühlingswind so aufregend um die heißen Ohren fühlt, und dies vielleicht, daß für uns Berner der Winter länger als sonst mit seinem nassen Schnee den Frühling zurückhält, der dann mit einem Föhnsturm gewaltsam aus dem Neuenburger Land einbricht.

In der Schule ging es mir vom ersten Anfang an nicht nach dem Wunsch der Eltern. Obwohl ich doch die Lehrersfrau, die in den untern Klassen selber unterrichtete, als die Mutter meiner Gespielinnen kannte – oder kam es daher, daß sie nichts über mich vermochte – hab ich die erste Schulzeit noch garnicht als Lernzeit in der Erinnerung, wie später ein gutes Stück von meinem Leben; mein Gemüt muß schwer begriffen haben, was der Verstand mit lesen und schreiben oder gar mit rechnen sollte. Dagegen muß eine komische Nachahmungssucht in mir gewesen sein, indem ich jeden Großen, der ins Pfarrhaus kam, so lange beobachtete, bis ich etwas an ihm nachzuahmen fand, um ihn nachher dem Gelächter preiszugeben. Natürlich wurde mir die moralische Anzüglichkeit darin mehr verübelt – noch lange hat man mir als Pfarrerssohn einen grausamen Charakter daraus ableiten wollen – als daß man auf meine natürliche Beobachtungsgabe einging; bis die im Zeichnen einen Ausweg und damit auch die moralische Rechtfertigung fand: Denn das ging mit einer künstlerischen Neigung zusammen, die in der Familie beiderseitig erblich war; mein Großvater, vom Vater her, war eine Art Dilettant gewesen, und meine Mutter hatte in England, wo zu aquarellieren bei den jungen Damen damals fast gebräuchlicher als lesen und schreiben gewesen sein soll, sogar im Ernst daran gedacht, Künstlerin zu werden.

Sie zeichnete wirklich nicht ungeschickt; vor allem aber leuchtete in unserer Häuslichkeit ein künstlerischer Stern, der einmal wirklich dem Schweizer Volk geschienen hatte. Der Bruder unserer Mutter nämlich, der schon erwähnte Onkel Schärer, von Beruf Irrenanstaltsdirektor, war ein Freund von Walthard dem Maler gewesen, der den Jeremias Gotthelf hatte illustrieren wollen, aber damit nicht fertig geworden war, weil ihm der Dichter darüber starb. Er hatte, was bis dahin fertig gewesen war, meinem Onkel geschenkt, und von dem hatte wiederum unsere Mutter einen Teil der Blätter in Verwahrung. Es waren meist Figuren aus dem bernischen Volksleben im Sinn der dreißiger Jahre, dünn und sauber gezeichnete Umrisse, alte Guggisberger mit Regenschirmen und sonstiges Bauernvolk; es gab aber auch Feuersbrünste, Raubschlösser und Galgen, namentlich die Bewegung war manchmal nicht übel festgehalten. So muß ich diesen verschollenen Künstler, der ehemals Theologe gewesen war und erst 1870 starb, als meinen ersten Lehrmeister in der Kunst ansehen; wenn nicht schließlich doch das meiste auf meine Mutter fällt, die unermüdlich in der Anleitung war, seine Figuren sauber und richtig nachzuzeichnen.

Meine eigene Sucht zur Nachahmung mimischer Züge und Gebaren aber nahm mit einer so gebildeten Fertigkeit der Hand doch wieder ihren eigenen Weg, wie er der Mutter nicht ganz recht war; ihr blieb die Zeichnerei immer ein Teil von dem, was man in Bürgerkreisen Bildung nennt, und daß ich etwa einmal ein Künstler werden könnte, lag damals noch ganz außerhalb. In der Schulstube stand die große schwarze Holztafel, und darauf mit der griffigen Kreide zu hantieren, war mir bald ein viel größeres Vergnügen als die spitzige Arbeit mit dem Bleistift. Zuerst die Lehrerstöchter und danach andere Kinder mußten mir herhalten und bald war ich der angestaunte Held, der ihre Köpfe in wenig Strichen ähnlich auf die Tafel bringen konnte. Daß ich den Umkreis dieser Geschicklichkeit rasch erweiterte und auch die Erwachsenen auf die Tafel zeichnete, brachte mir dann wieder den selben verhaltenen Vorwurf ein, wie meine Grimassenkünste vorher. Man ließ mich machen; doch nur mit der Besorgnis, was für Übel sich für mich selber daraus entwickeln könnten. Wenn ich bedenke, was für einen Gang mein Leben später gelaufen ist, und wie sich das Böseste, was einem Mann geschehen kann, an mir erfüllte, kann ich die Sorge der Mutter wohl verstehen; doch weiß ich dann erst recht, wie unerbittlich alles kommt – von innen heraus wie eine Pflanze treibt unser Schicksal die Geschehnisse, und wenn es rote Blüten tragen will, trägt es sie trotz dem Gärtner – und wie unnütz es war, in meiner Jugend soviel Tage schwarz durchzustreichen.

Auch daß der Vater mich – er kam zurück, als ich sechs Jahr alt war – später sechs Monate lang fort aus dem Pfarrhaus in ein Nachbardorf zum Lehrer tat, war gut gemeint im Sinne der Pädagogik; nur daß die leicht dem Kind und jungen Menschen ein Ziel vorsteckt, das für sein Wesen unerreichbar ist. Aus einem Bernhardiner kann kein Hundezüchter der Welt eine Dogge machen; wie man ihn schert, die Haare wachsen wieder. Man kann ihn wohl dressieren, doch ist ein Mensch kein Hund, und alle Bildung, die auf Dressur beruht, kann nichts mehr aus sich selber leisten. Sie meinten damals zu Hause in ihrem treuen Erziehersinn, daß ich nur deshalb in der Schule nichts lernte, weil ich mit der Lehrersfrau zu gut bekannt war und ihr darum nicht folgte. Doch habe ich dem strengen Schulmeister auch nicht gefolgt, in meinem Leben nur das erste böse Loch gehabt; denn eines Tages wie ein verkaufter Hund anfangen müssen, sich in ein fremdes Haus, in fremde Menschen und Gebräuche, in eine fremde Landschaft hineinzufinden, wo er gewohnt war, Bäume und Wege wie Spielgenossen zu haben, die er morgens nach der seltsamen Nacht gleich sich erwacht begrüßte und in denen seine Träume sich erlebten: dazu liebt ein so junger Mensch die Dinge seiner Welt im ersten Verständnis noch zu sehr.

Der Anlaß war freilich, daß mein Vater schon alle Nichtsnutzigkeit aus mir kommen sah, die im Volksmund den Pfarrerssöhnen zugesprochen wird. Er hatte eines Tages, ich weiß nicht mehr von welcher Kasse, ein Zwanzigfrankstück mitgebracht, das ihm von einem Kassierer ausgezahlt war, weil der seinen Sammlerwert nicht bemerkte. Es war der junge Napoleon als Konsul darauf und schönes gelbes Gold, wie es neuerdings nicht mehr geprägt wird. Abends bei der Lampe zeigte er es vor, wie das Anneli von drüben dabei war. Ich fand selber nichts Besonderes an dem Stück, nur daß der Kopf noch nicht so fett und gar nicht so tyrannisch war, wie ich ihn aus den Zeichnungen von Walthard kannte; doch sah ich, wie die braunen Blicke des Anneli sich an dem Gold verzehrten, und als mein Vater trotz seinem Ernst und seiner schönen tiefen Stimme zu Scherzen geneigt sein konnte, es ihm an den Halssaum hielt: Wie, Anneli, das wäre jetzt ein Bröschli für dich? und sie mit ängstlich aufgerissenen Augen totenblaß wurde, da konnte ich nachher lange nicht schlafen vor Gedanken. Denn weil ich gerade von einem verkleideten Prinzen und Drachentöter gelesen hatte, der sich die Liebe einer Königstochter eroberte durch kühne Taten, indem er ihr zuletzt aus umständlichen Gefährnissen den sehnsüchtig gewünschten Gürtel der Sultanin von Bagdad brachte – warum gibt man Kindern dergleichen zu lesen, wenn die Tugenden darin so garnicht gelten sollen – und weil es gerade wieder einmal im Frühjahr war, wo mich der Föhn in meinem Blut bedrängte, und wo die Wildheit noch keinen Ausweg hat und ahnt: so ging ich andern Morgens, als die Eltern aufgestanden waren, an den Ort im Schlafzimmer, von dem ich wußte, daß der Schlüssel zum Sekretär dalag, und nahm den Napoleondor an mich.

Bis zum Mittag blieb er in meiner Tasche; dann als das Anneli zum Spielen kam, zog ich sie in den Kirchhof hinunter, der hinter einer Mauer vor unserm Pfarrhaus lag und die kleine Kirche so umschloß, daß die Kirchgänger von unten her durch einen gewölbten Treppenaufgang heraufstiegen. Er war mir nicht so schauerlich wie den andern Kindern, diesmal aber schien er mir der richtige Ort; da, wo er hinter unserm Stallschuppen mit einer verborgenen Bastei ins Tal vorsprang, ließ ich sie schwören, daß sie mich nicht verraten werde. Sie tat zwar sehr erschrocken, als sie mit geschlossenen Augen die Arme vorstrecken mußte und ich ihr das runde Gold in die bläßliche Kinderhand legte; doch half es ihr nichts, daß sie weinte, ich war ein Prinz, der seine Taten nicht zu bereuen braucht, und so mußte mir das Anneli den Willen tun, das Ding in ihrer Tasche heimzutragen.

Mir war natürlich nicht wohl zumut; ich wußte gleich, daß dies nur böse ausgehn konnte, aber wenn es mich alles, was mir lieb war, gekostet und wenn mir die Strafe zehnmal strenger als sie kam, gleich vor Augen gestanden hätte: das Gold wäre doch in ihre Hand gekommen. Denn – daß die Eltern darin einen Knaben verstehen möchten – etwas Ungeheuerliches dem Anneli zuliebe zu tun, einen Aufruhr der Gefahr um mich zu versammeln als ihr Held: das war es doch allein, was mich den Diebstahl – wie sie sagten und auch nicht anders sagen konnten – begehen und meinem Knabentrotz diese Schuld aufladen ließ.

Es wurde an dem Tag nicht mehr gemerkt; nur am Abend nach dem Essen, als der Vater in seiner Stube war, indessen wir noch bei der Lampe mit der Mutter saßen, kratzte es dreimal leise an dem Fensterladen, was unser Zeichen war, und als ich unter einem Vorwand noch hinauskam vor die Tür, stand mein Schatz im Mondschein an der Mauer und zog mich an der Hand in die dunkle Ecke, wo wir hinterm Holzbock unser Spielversteck hatten. Sie zitterte so, daß ihr der Atem schnatterte: ich hätte eine Sünde getan und würde mich unglücklich machen; sie brächte darum das Gold zurück. Ich war natürlich trotzig und wollte mich als Drachenprinz nicht lächerlich machen; sie aber spielte mir auf ihre kindliche Weise das Register der klagenden Frauen vor, bis mein Zorn sie fügsam machte. Darüber trat ihre Mutter drüben vor die Haustür und rief nach ihr; sie sprang fort und drückte mir das Goldstück rasch in die Hand. Ich ließ es fallen, daß sie es klirren hörte, noch einmal stehen blieb, dann aber fortlief und es trotzig liegen ließ wie ich, der kaltblütig durch den Streifen Mondschein nach unserer Steintreppe ging und mit Absicht polternd die Haustür öffnete.

Als ich am nächsten Morgen in der besten Helligkeit aufwachte, stand die Mutter mit meinen Kleidern neben mir. Sie ahnte nichts, als sie erzählte, daß die drüben nach ihren Fiebertropfen geschickt hätten, das Anneli sei krank geworden über Nacht; ich hatte gleich meinen Grimm bei der Hand, daß es nun bös ausgehen müßte durch sie; denn daß ich das Goldstück draußen immer noch aufheben und unbemerkt an seinen Platz legen könnte, übersah ich nicht. Als ich nach dem Frühstück anscheinend absichtslos an dem Holzbock vorüberging, lag es wirklich noch zwischen braunen Tannenspänen auf dem Pflaster; ich ließ es liegen und erwartete mit Trotz das Elend, wie es nun kommen mußte. Es dauerte bis zum Nachmittag – unterdessen war unsere Magd ein paarmal und auch die Mutter selber auf dem Holzplatz gewesen, einer hatte mit den Füßen darauf getreten, wie man später sah, gesehen wurde es von keinem – da bat das Anneli in seiner Angst und Verwirrung seine Mutter, auf unserm Holzplatz nachzusehen, ob sie was fände. Sie ging, die Ärmste zu beruhigen, und hob erstaunt das Goldstück aus den Spänen.

Es war für mich ein rundes Stück Metall; den andern aber war es ein Zwanzigfrankenstück und hatte vordem, wie der Napoleonskopf als Konsul sogleich erwies, im Sekretär des Pfarrers gelegen, wo es auch richtig fehlte: so gab es eine von den Gerichtsverhandlungen, wie sie jedes Elternhaus ein paarmal erlebt, und die nur deshalb so erregt verlaufen, weil der Vater als Gerichtsherr auch noch Ankläger und Anwalt ist. Erst ging er mit dem übernächtigen Napoleon ins Nachbarhaus; er ließ mir einen Blick zurück, der mir um so mehr verhieß, je länger er von drüben nicht wiederkam. Als das endlich geschah – es muß wohl eine Stunde gedauert haben und die Mutter war ihm längst nachgegangen – sah er dem Konsul ähnlich mit dem bloßen Gesicht und dem verkniffenen Pfarrermund. Ich saß hinter dem Haus und sah sie durch die Sträucher kommen, den Vater, wie wenn er die Bibel zum Altar trüge, die Mutter blutrot wie immer, wenn sie aufgeregt war, hinter ihm her. Ich ließ sie zweimal rufen, bevor ich zögernd hineinging; und dies weiß ich so merkwürdig genau, wie wenn es gestern gewesen wäre: als ich den Drücker schon in der Hand hatte und noch einmal zurücksah über den Pfarrgarten, in mein Wäldchen, wo die schlanken Stämmchen sich im Frühlingswind leicht bewegten und über ihnen der wolkenreiche Himmel stand mit einem einzigen tiefblauen Fleck: da fühlte ich mich von den Bäumen und den Wolken, vom Himmel und den Blumen, von allem, was hier mein Spielkamerad gewesen war, so verraten, daß ich am liebsten drunten nach der Sense hinuntergelaufen und ins Wasser gesprungen wäre. Ich hatte den Zorn der Eltern zwar reichlich verschuldet, aber ich war kaum achtjährig und mich hat später nicht gewundert, wenn es so jungen Kindern schon zu bitter auf der Welt geworden war, daß sie freiwillig in Angst oder Trotz wieder fortgingen.

Natürlich hatte das tapfere Anneli mich nicht verraten; aber was vermag ein Kindergehirn an sich zu halten, obwohl es nichts sagt, wenn drei Erwachsene es mit Fragen, Vorwürfen, Strafen und Bitten bedrohen? Was nun der Vater noch von mir forderte, war das Bekenntnis meiner Schuld; das wollte er mir mit Strenge und Strafen und verfänglichen Fragen abgewinnen: Schon mein Stolz, den ein Knabe mehr als ein Großer haben kann, weil der sich viel leichter rührsamen Erwägungen opfert, hinderte mich daran; daß er mir aber Fallen stellte mit berechneten Fragen, brachte mich in einen so verstockten Haß gegen seine Unredlichkeit – wie ich es damals nannte und empfand – daß ich mich wirklich hätte töten lassen, statt ihm ein gutes Wort zu sagen. Als er nicht nach seinen Wünschen mit mir zurechtkam, brach aus dem großen Mann ein Zorn wie aus einem Tier; wie man ein quiekendes Schwein zur Schlachtbank schleppt, so beim Kragen genommen wurde ich strampelndes Bündel in den Keller getragen und eingesperrt.

Drei lange Tage saß ich da, ein Bub von acht Jahren, in dem Lattenverschlag, wo sie mir eine Matratze und einen Stuhl hineingetan hatten und nur Wasser und Brot brachten; oben über die Steintreppe gingen die Schritte und warfen nachher ihren Schatten wie die drehenden Speichen von einem Rad durch meinen halbdunklen Raum. Es war kalt und meine ungewaschenen Hände starrten mir in den Taschen; aber es hätte noch grauenhafter sein können in den Nächten, wo ich die Tiere schreien und die Geister auf dem Kirchhofgehen und flüstern hörte: einmal in diesen Zwang gestellt, Trotz gegen Trotz, wie ich es nicht anders verstehen konnte, gab ich nicht nach.

Es ist verhängnisvoll, daß zwischen Sohn und Vater ein besseres Verhältnis erst dann eintritt, wenn der Sohn anfängt, den Vater zu verstehen, während es doch umgekehrt sein sollte. Heute, wo ich das melancholische Gemüt des Vaters mitberechne, wie er von Ahnungen geplagt ein bittres und böses Leben für mich kommen sah; wie er, der selber im Verkehr mit seinen widerspenstigen Bauern daran litt, daß er sich nicht beherrschen konnte, aus Furcht um die gefährlichen Anlagen meiner Natur nichts anderes dachte, als meinen Trotz zu brechen; heute möchte ich ihm sagen, den nun schon lange kein Neuenegger mehr ärgert: Siehst du, mein Leben ist im Galopp gelaufen und hat den Wagen endgültig umgeschmissen; aber nicht, weil du oder irgendeiner etwas versäumt hat, sondern weil auch das wildeste Leben sich abrollt wie ein Knäuel Schnur. So unbegreiflich grausam ist dies alles, daß wir nicht verlernen sollten, uns an den Augen zu bestimmen, statt böse Worte oder härtere Gewalt zu brauchen. Wenn du mich damals verstanden hättest – und du warst doch ein Mann, wie ich es heute bin – wenn du mich so verstanden hättest, wie ich dich heute verstehe, der Sohn den Vater; du hättest meine Hand genommen und gesagt: Sieh Kari, so einfach ist das mit den Drachenprinzen und Sultanstöchtern nicht, daß man dem Vater einen Napoleonsdor aus dem Kasten nimmt. Du wirst dich noch verwundern müssen, wie grausam sich dein volles Leben einmal in Kleinlichkeiten auflöst, und dann die strengen Sorgenfalten im Gesicht der Eltern deuten. Nun gib der Mutter einen Kuß um den unnützen Ärger und lauf hinüber zum Anneli, daß es gesund wird, wenn die Angst vorüber ist.

So aber zuckte das Leben der Eltern drei Tage und zwei Nächte lang in Bitterkeit und Sorge um mich hin und meines trotzte sich abseits in einen Keller gesperrt bis in den bösen Haß hinein.

Jeden Morgen, Mittag und Abend kam der Vater herunter und fragte kurz, ob ich gestehen wollte? Ich brauchte nur die Falten um den Mund zu sehen, seine wunden Augen, und sofort schnürte sich inwendig alles zu. Es kam wohl auch dazu, daß er in der Zeit meiner ersten Eindrücke so lange fort gewesen und mir dadurch ein Fremder geworden war; um so mehr als sein dunkles Wesen gegen die Helligkeit der Mutter so herb abstach. Als sie am dritten Tag in meinen Käfig kam – die Dämmerung fing schon wieder an, sich zur Nacht zu verdichten – und nichts tat, als bitterlich weinend ihren Arm um meinen Hals legen: da heulte ich jämmerlich und heiß mit ihr; und als sie fragte: Gelt, mir sagts mein Bub, da nickte ich ihr zu und ließ mir mein Geständnis abstreicheln in einer sehnsüchtigen Dankbarkeit.

Es war die erste schwere Bitternis in meinem Leben, das erste Loch der Lieblosigkeit darin, daß ich mich von allem verraten sah, was sich sonst in täglicher Übereinstimmung mit mir befunden hatte. Ich konnte mich danach weder an den Pfarrgarten noch an meine andern Spielplätze zurückgewöhnen, und daß ich dann bald fortmußte zu dem fremden Lehrer im Nachbardorf, empfand ich wie eine Folgerichtigkeit; es war mehr ein Gefühl, daß ich im Trotz aus dem Pfarrhaus fortgelaufen wäre, als daß ich die Pädagogik darin spürte, oder gar ein Schuld- und Besserungsgefühl, wie mein Vater sich erhoffen mochte.

Glücklicherweise ist mir sein Bild auch noch in anderer Erinnerung lebendig geblieben, sonst hätte ich von meiner Jugend in Neuenegg nicht soviel Helligkeit in der Erinnerung behalten, daß ich alles, meine verlorene Kunst und meinen gestürzten Ruhm auf ein armseliges Häuflein legen und heimrennen möchte, wo ich nichts als der Pfarrersbub, aber von Grund aus glücklich war. Nichts war doch schöner als der Sonntagnachmittag, wenn wir alle miteinander auszogen, meist in den dunklen Tannenforst hinauf, der dem Sensetal mit den Sagen und Siegen der Landesgeschichte wie ein Heiligtum aufgesetzt war. Der Vater summte nur selten mit seiner schönen Stimme ein paar Töne, hatte es aber gern, wenn die Mutter mit uns sang, während wir durch die Hügelhänge ins hohe Korn hineingingen, das selbst die Großen auf dem schmal geschlängelten Weg bis über die Hüte aufnahm in das bewegte Meer schwankender Ähren. Bis wir oben in dem feierlichen Wald zwischen den uralten Stämmen und den hundertjährigen Riesenbärten hängender Silberflechten von selber still wurden und zaghaft hineinschritten in die tausendjährige Dunkelheit. Das war dann die Stimmung, in der seine ernsten Augen heller wurden, weil er von dem anfing zu sprechen, was ihm mehr als andern und mehr als alle Bauernpolitik, selbst als das Gotteswort den Seelengrund mit Liebe und Ehrfurcht füllte: von der stolzen Geschichte der Bernburgerschaft, die in diesem abgeschlossenen Vorgebirgstal zweimal den Sieg gegen fremde Machthaber gewonnen hatte, einmal vor so wenigen Jahrzehnten, daß noch Augenzeugen lebten, gegen die Franzosen; dann aber vor einem halben Jahrtausend gegen den fribourgischen und savoyischen Landadel. Während der Widerstand gegen die Franzosen ein vergeblicher gewesen war, indem sich die bernische Regierung doch andern Gewalthabern beugen mußte, hatte Rudolf von Erlach dem Landadel bei Laupen für alle Zeit den Helm zerschlagen.

Hie Panner, hie Erlach! Wenn so der Vater den Schlachtruf des alten Erlachers, mit uns am Laupendenkmal sitzend, über das Schwarzimburger Land hinsprach, das sich mit seinem Hügelgewirr zur zackigen Stockhornkette hinzog, über der dann wieder die reinen Berner Alpen in den Abendhimmel leuchteten, um endlich aufzublühen in rosiger und danach tiefroter überirdischer Herrlichkeit: dann war er nicht mehr der verärgerte Pfarrer zu Neuenegg, kaum noch unser Vater, vielmehr ein Augenzeuge, der auf geheimnisvolle Weise von der Schlacht berichten konnte, um allen Laumütigen die Heimatliebe des alten Erlachers einzupredigen. Er sprach dann unser ehrliches Bernerdeutsch mit der lieben Heimeligkeit und dem Brustton darin. Er holte uns den Erlach gleichsam von seinem Pferd auf dem Münsterplatz herunter und stellte ihn hier an den Laupenstein, wo er die Fähnleinführer vor sich versammelte in markiger Rede, bis die Schmiede mit ihren Wagen und all die andern Zünfte aus dem Forst niederprasselten ins Tal und das übermächtige Aufgebot der Adelsmannschaften fürchterlich vernichteten.

Das Laupendenkmal ist nichts als ein hoher Stein; doch brauchte ich in der Fremde bloß daran zu denken: so stand und steht die Geschichte meiner Landschaft auf mit aller Heimatliebe, mein Vater sitzt wieder da und spricht in unsere Augen hinein. Der Ernst ist noch in seinen Zügen, aber alle Bitterkeit ging fort; es leuchtet von einer uralten Feierlichkeit und seine tiefe Stimme spricht berndeutsch, wie wenn die Landschaft selber zu sprechen begonnen hätte.

Wenn wir danach im Mondschein aus dem unergründlich dunklen Forst hinunterstiegen in unser Tal, wo der Friedhof um die alte Kirche vorgebaut war wie eine Bastei, dahinter auch das Pfarrhaus vor dem Wäldchen dastand wie ein uralter Herrensitz: dann kamen wir selber mit heißen Köpfen aus der Laupenschlacht zurück, um den Frieden zu genießen als freie Bürger eines freien Landes. Er war kein Buchstabenmensch, mein ernster Vater, nur gab es Fäden in seinem Geist, die zu scharf gespannt waren durch den Straßenkampf der Gegenwart; die Fäden sind ihm zuletzt ganz gerissen und auch wir Kinder haben unser Teil dazu getan: trotzdem, wenn ich später aus dem Übermut meiner Jünglingsjahre ein rechter Mann zu werden dachte, war es sein Bild, was mir vorschwebte.

Daß ich so bald aus dem Nachbardorf zurückkam, schon im Frühherbst, und also nur über den Sommer bei dem Lehrer bleiben mußte, verdankte ich der Tante Sophie, die überhaupt durch ihren seltenen Besuch gleich einem Kometen mit dem Schweif ihrer Talente und Einfälle unser Pfarrhaus beglückte. Sie war an einen Engländer namens Read verheiratet und konnte nur jedes dritte Jahr im Spätsommer ihrem Heimweh nachgeben. In ihr war die Jugend unserer Mutter lebendig geblieben, ohne die Sorge um widerspenstige Kinder und einen kranken Mann; sie sang, daß wir Kinder uns nichts herrlicheres denken konnten, sie zeichnete und malte mit Wasserfarben, aber nicht wie die Mutter nach Vorlagen, sondern nach der Natur; wenn sie uns hinausführte und einen Rucksack voll Fröhlichkeit mitnahm: es waren wahre Freudenfahrten der Selbstgenügsamkeit. Ihr Wonnegefühl, wieder einmal für ein paar Wochen in der geliebten Heimat zu sein, war wie einer von unseren Bächen; das rauschte, plätscherte und quirlte den ganzen Tag, trieb unsern Kinderunsinn wie Mühlen an und glitzerte im flüchtigsten Sonnenstrählchen. Was man mir nachsagte in meiner ersten erfolgreichen Zeit, daß ich ein paar Dutzend Menschen mit fortreißen konnte in dem fröhlich stürzenden Schwall meiner Gedanken: das hat sie mir wohl beigebracht, die leider nach diesem Sommer ausblieb und drei Jahre später an einer langwierigen Krankheit zugrunde ging, ihrer Fröhlichkeit bis in die letzten Stunden mächtig, wie die Verwandten, gleich beglückt von ihr und darum tief betrübt, uns danach schrieben.

Ihr letzter Sommer in Neuenegg war auch mein letzter dort, indem ich mit dem Frühjahr 1866 als Zögling ins Waisenhaus zu Bern gegeben wurde. Damit begann das Leben, in das mir der gezwungene Aufenthalt bei dem Lehrer das erste böse Loch gerissen hatte, langsam die Fäden zu zerschneiden, die mich als Kind der bernischen Landschaft so an die Jahreszeiten, die Bäume und Berge darin gebunden hatten, wie es die Glücklichen zeitlebens hält, die als Bauern oder Hirten treu bis zu Ende in ihrem Gehege bleiben. Noch war es nicht mein eigener Unruhgeist, der mich forttrieb; nur die Zukunftssorge, die alljährlich Tausende von Eltern ihre ängstlich behüteten Söhne als Bildungsmaterial in die Städte liefern läßt, von wo nicht alle die Wege ihrer Jugend wiederfinden. Mich aber, der sie sehnsüchtiger suchte, als irgend einer mein rasches kurzes Leben lang, mich hat die Heimat in dieses fremde Land geworfen mit einem Fluch, daß ich daheim nicht gehen kann, wenn ich auch wollte, weil wir uns beide treulos geworden sind.


 << zurück weiter >>