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Ich fuhr aus einem Winter fort, der naß und dreckig über Deutschland lag, indessen ich jenseits der Alpen alles blau durchleuchtet in feuriger Blüte glaubte, sodaß man durch das Loch im Gotthard nur in die Herrlichkeit hinein zu fahren brauchte. Doch kam es anders, wie so ziemlich alles in Italien anders kommt, als der fremde Einwanderer denkt: In Zürich, wo ich für einen Tag im Belvoir Halt machte, hing der blaue Himmel überm See und in den Knospen schien das Frühjahr schon zu drängen. Ich war noch nie bis an den Gotthard hinauf gekommen und kannte also das königliche Reußtal noch nicht und wie die Bahn da ihre Wunderkette über Wasserstürze, Abgründe und durch die Fundamente der Felsriesen zieht. Vor Göschenen sah ich für einen Augenblick die weiße Herrlichkeit des Hochgebirges aus dem Geschenental leuchten; so unvermittelt nach dem Anhalter Bahnhof und den nebligen Ebenen überfiel mich zum Abschied die Schönheit meiner Heimat, daß ich erschrak. Ich fuhr mit einem beunruhigten Gewissen, nicht frei und leicht, wie ich geglaubt hatte, durch das schwarze Loch und dazu stimmte es, daß drüben nach der herrlichen Bläue alles in einem bläßlichen Dunst lag.
Es ist auch noch bei solchem Wetter ein Märchen, nach der mühsamen Steigung, die man deutlich miterlebte, so gemächlich talwärts zu rollen, bis bei Lugano nach der strengen Einförmigkeit des Hochgebirges das Theater der oberitalienischen Seen beginnt. Da lag noch überall Schnee, aber es näßte hinein, je näher wir der lombardischen Ebene kamen, und in Mailand fiel schon ein kalter Landregen. Ich war so neugierig, in der ersten italienischen Stadt zu sein, daß ich trotzdem noch ein paar Stunden lang durch die Gassen und Straßen ging. Es kam mir zwar alles nicht viel anders als in Zürich auch vor, nur größer und geschäftiger: aber mit dem Dom fing doch die Welt der italienischen Wunder für mich an. Ich sah ihn erst in der Dämmerung; als ich aus der Galleria Vittorio Emanuele heraus trat, stand er unerwartet vor mir mit seinem Überfluß von Statuen. Zunächst kam er mir gegen unsere gothischen Kirchenschiffe breit wie eine Scheune vor, aber als ich um den herrlichen Chor außen herum gegangen und trotz der Nässe aufs Dach hinauf geklettert war und ihn nachher wieder von unten sah, nun schon im ersten blassen Licht der Gaslaternen, das auf dem nassen Marmor merkwürdig glitzerte: da wuchs sich alles zu einer Baumasse ineinander, vor der ich einen ganz neuen Eindruck von der Gotik bekam, die hier wirklich einmal in den rauschenden Überfluß, nicht mit der kargen Strenge wie meist vollendet war.
Am andern Morgen ging ich noch in die Brera, wo ich in meiner Torheit alles nur mit der Unrast weiter zu kommen sah, weil es da unten doch viel schöner würde; denn wenn ichs bedenke, habe ich dort eine der schönsten Bildersammlungen Italiens vor Augen gehabt. Frühmittags aß ich in der Galleria zum letztenmal für lange ein sauberes Mittagessen, dann ging es mit dem Schnellzug gleich nach Florenz. Da es noch zu früh in der Saison war, bekam ich ziemlich gut Platz; wenn nur nicht unterwegs merkwürdige Leute ein- und ausgestiegen wären: Existenzen, die ich in Preußen ohne weiteres auf die vierte Klasse taxieren mußte, kamen hier mit einem Gleichmut in die zweite, wie wenn sie die Billets geschenkt bekommen hätten. Dazu diese erbärmlich engen Abteilungen, die nicht nur nach dem Gang, sondern auch nach der andern Seite aufgingen und immerzu geöffnet wurden, obwohl es doch ein Schnellzug sein sollte, sodaß ich wie in einem zu engen und auf Kosten der Reinlichkeit gepolsterten Hausflur für viele Stunden angenagelt saß. Und immer noch der Regen, der wie aus der Gieskanne unaufhörlich träufelte und alles grau in grau malte, die endlose Ebene der Lombardei mit ihren steinichten Flußbetten und den gelben Flüssen darin: ich glaubte eher, von Berlin ostwärts nach Rußland als ins gelobte Land Italien gefahren zu sein; und dabei war es die gerühmte Emiglia.
Endlich bei Bologna kam der Apeninn näher heran und war ein Gemengsel kahler Hügel, auf denen die Kapellen und Häuser obenauf standen. War bis dahin noch eine Hoffnung bei mir gewesen, wenn wir nur erst aus dieser endlosen Feldwirtschaft heraus wären, daß es dann besser würde, so wuchs meine Enttäuschung, als wir in das Felstal des Reno hinauf fuhren, in diese verknöcherte abgenagte Welt, wo bestenfalls krüppelige Ölbäume wie ein grüner Schorf und dazwischen melancholische Cypressen standen. Und auch hier alles im Regen, der die Natur nicht wie unsere Matten tränkte, sondern nur auf italienische Art Wäsche zu halten schien. Ich gab am Ende die Hoffnung auf, mit meiner Sehnsucht nach dem Land wo die Zitronen blühen hier schon zurecht zu kommen, hockte in meiner gepolsterten Fahrkiste hin, die von den unaufhörlichen Mahlzeiten der Reisenden voller Fettflecke war, und wartete ergeben die Viertelstunden ab. Endlich, wie wir bei Pistoja in langen Bogen hinunter rollten, war eine Art verhüllter Fernsicht ins Arnotal doch wieder schöner, besonders, als wir gegen Prato schon ziemlich im Tal fuhren und zur rechten die bewegte Hügelkette den Blick abschloß.
War aber eine Ahnung von Florenz dadurch in meiner Hoffnung wieder aufgekommen als einer Landschaft, die wie der Name dieser Stadt blühte, so fiel alles in ein schmutziges Loch, als endlich der Bahnhof kam. Ich hatte schon an den Stationen unterwegs mit Ernüchterung diese rauchigen Fabrikgebäude gesehen, die sich mit den lieblichen Namen meiner gelernten Geographie ganz unrechtmäßig schmückten. Nun in Florenz die Bahnhofshalle erstickte meine letzte Hoffnung in Lärm und Dreck, besonders als ich mit meiner Tasche durch die Pfützen endlich auf die ärmliche Gasse kam, immer wie eine Kuh auf der Weide umschwärmt von Kerlen, die mich sicher in Stücke gerissen und als Raub hier auf der Straße verteilt hätten, wenn es möglich gewesen wäre. Ich war in meiner Casa Nardini vorsichtig angemeldet und wußte nach dem Stadtplan auch den einfachen Weg dahin; aber bis ich mich endlich in den Flur und durch die freiwillige Überlieferung an das Hotelpersonal vor den andern draußen gerettet hatte, war mir in meiner Berliner Erinnerung doch ein paarmal der Ruf nach dem Schutzmann durch den Sinn gefahren.
Ich habe seitdem nicht nur gelernt, daß man in einer italienischen Stadt nicht mit einer Reisetasche in der Hand über die Straße gehen darf; ich spreche die Landessprache wie mein Berndeutsch, auch habe ich die Anspruchslosigkeit der Italiener in mancher Bekanntschaft festgestellt: aber das ist mir an ihnen noch immer bis in die Seele zuwider, daß sie den Fremden von dem erbärmlichsten Teil ihrer Landsleute überfallen lassen, daß sie ihn nötigen, auf der Straße roh und empfindungslos zu sein, weil er sonst aufgefressen wird, und daß sie die Grundlage alles menschlichen Verkehrs, die Achtung vor der Menschlichkeit durch schamlose Existenzen fortwährend gefährden, ganz abgesehen davon, daß sie Tierquäler und Baumfrevler aus unausrottbarer Neigung sind.
Damals in Florenz wagte ich erst abends in der Dunkelheit wieder auszugehen; der Regen träufelte noch immer, daß die ungekehrten Straßen dicke Schlammrinnen zeigten und die Wagenräder mit Kot um sich spritzten. So konnte die Stadt natürlich keinen heiteren Eindruck auf mich machen; aber die Enttäuschung kroch mich doch lähmend an, als ich am Dom, am Campanile und dem Baptisterium die schönen Formen mit gefleckten Flurplatten überdeckt sah. Mein Gefühl für Form und Architektur kriegte einen Stoß vor die Brust, den es lange nicht vergaß. Auch sonst war es eine Kleinstadt, als ich es andern Tags zwar immer noch im Regen doch wenigstens in der Helligkeit besah. Was für eine Enttäuschung die Uffizien für mich waren und namentlich die Gallerie Pitti, die von außen nicht viel anders als die deutsche Rennaissance von 1878 aussah, wie ich die Medizäerkapelle klein in der Wirkung und den David in der Akademie einem Gipsmodell ähnlich fand, und einzig im Bargello vor den Bronzen Donatellos und Verrocchios einen Atem der Renaissance spürte, freilich auch da noch abgeschwächt gegen den Brand meiner Vorstellungen: das trag ich heute der Stadt Florenz nicht nach, weil ich sie unterdessen in der Sonne und mit gütigeren Augen, auch mit geringeren Illusionen sah. Damals war es der Beginn eines Katzenjammers, den ich so schleunig, wie es auf den italienischen Bahnen geht, und wieder unter den selben Widrigkeiten nach Rom trug; immer noch im Regen, bis auf den neunten Tag.
Rom: das ist der Mittelpunkt der alten und mittelalterlichen, auch der modernen italienischen und der ganzen katholischen Welt. Man sieht, wenn man an Rom denkt, den Tiber in schönem Bogen durch ein ungeheures Stadtgebreite ziehen, wo die Trümmer der alten Römerwelt sich mit dem Sitz des Papsttums und dem Quirinal des neuen Königreichs zu einer machtvollen Herrlichkeit verbinden. Wenn man hinkommt, ist es eine mäßig große Provinzstadt, darin die alten Trümmer als Sehenswürdigkeiten abgesperrt liegen und der Vatikan draußen überm Tiber sein abgesondertes und garnicht großartiges Dasein führt. Das einzige, was auf den ersten Blick überwältigt, ist die Lage der Stadt wie eine Oase in der ungeheuren Wüste der Campagna. Nur darf man nicht in der Dunkelheit ankommen wie ich und so im Regen, daß die Scheiben dick davon beronnen sind, sodaß man von dieser ganzen fremden Welt nichts sieht als die abgegriffene Geistlichkeit, die den ganzen Zug mit ihren schäbigen Gewändern zu füllen scheint. Die Anfangswochen in Rom sind für mich der Anfall einer Seekrankheit gewesen, die ich erst nach Monaten überwand. In den ersten Tagen glaubte ich, daß es das Regenwetter wäre; aber als das endlich vorüber war, blieb immer noch diese klägliche Art von Stadt übrig, die so garnicht dem Sammelbegriff von Renaissance, Antike, Marmor, Cypressen, Tempel, Lorbeer entspricht, wie ihn der Deutsche seit Winkelmann im Herzen trägt, die mit ihren Gassen nicht einmal besonders malerisch und mit ihrem Korso gegen andere Großstädte gehalten ärmlich ist. Am schlimmsten freilich waren die Menschen darin, deren Lebensgewohnheiten mir um so schrecklicher schienen, je weniger ich von ihrer Sprache verstand. Wenn ziemlich aller geschäftliche Verkehr mit Handwerkern, Spediteuren, Ladenmenschen und Modellen auf den elendesten Betrug angelegt scheint, wenn sich kein Lohndiener oder Droschkenkutscher die natürliche Habgier verkneifen kann, einen um ein paar Soldi zum wenigsten zu betrügen, wenn man dann ein ordentlicher Bernburger mit einem Hang zur Reinlichkeit ist: so pfeift man eine Zeitlang auf alle Altertümer und die edlen Vorstellungen klassischer Bildung.
Noch dazu, wenn es so kalt ist, wie es damals war, und so gut oder schlecht wie nirgends ein Ofen steht, sodaß ich niemals in meinem Leben so gefroren habe wie in den ersten römischen vierzehn Tagen. Ich konnte mich ertappen, daß mir die Zähne schon seit einer Viertelstunde schnatterten, und ich hatte es nicht gemerkt. Damals in meinem bösen Winter in München hatte ich mit leeren Taschen wenigstens noch den gewärmten Bahnhof gehabt; hier saß mir die Brusttasche voll von den lappigen Geldscheinen und die Soldis zogen mir die Hosen herunter: aber frieren mußte ich doch.
Ich hatte mir natürlich mein Atelier in der Villa Strohl-Fern gemietet, wo ziemlich alle unberatenen Ausländer für die ersten Monate landen, wenn sie Geld genug haben, die teure Miete für die feuchten Löcher zu bezahlen. Denn wenn man den Corso Umberto bis zu Ende gefahren oder gar gelaufen ist und vor der Porta del Popolo gleich die fürchterlichen Baracken anfangen sieht nach Ponte molle hinaus, dann mag man nicht in die Via Margutta zurück, wo sich die ausländischen Künstler unterm Pincio eingenistet haben, und ist erfreut, neben dem Eingang zum Park Borghese noch einen Gartenweg zu finden, der eine Art Mausefalle für Künstler vorstellt; wenn man ihn erst hinauf gegangen ist bis an das Portierhaus, wo sich ein Treppenweg unter Weinlauben fast heimelig schweizerisch hinaufzieht in den Garten, darin die Atelierhäuser unter Cypressen stehen, glaubt man sogleich erlöst das einzig richtige in dieser Stadt der Wohnungslöcher gefunden zu haben und mietet rasch, was frei ist.
Für mich war es ein großer Raum im Parterre, mit Atelierfenstern hinten und vorn in einem Garten gelegen, der zwar verwildert wie so ziemlich alles andere auch war, aber Rosen und Cypressen im Überfluß hatte. Die Spinnwebennetze, groß genug um Karpfen darin zu fangen, die Wandöffnungen, durch die ein geschickter Bengel freihändig hinaus ins Freie werfen konnte, zerbrochene Fensterscheiben und feuchte Ecken: das alles sieht der poesievolle Anfänger nicht. Er hört auch nicht die Hunde bellen und argwöhnt noch garnicht, daß es sechs oder sieben dieser Hofproletarier sind, die den ganzen Tag und die halben Nächte aus Bedürfnis heulen oder weil sie gerade getreten oder mit Steinen geworfen sind – denn dafür scheinen die Italiener ihr Viehzeug zu halten, daß sie es mit einem natürlichen Vergnügen quälen. Weil mir der Raum schon teuer genug war, nahm ich mir sonst keine Wohnung, sondern logierte mich dort ein, womit natürlich eine Quelle unendlicher Mißhelligkeiten ins laufen kam; ich mußte Möbel kaufen, ehe ich italienisch zu sprechen, zu handeln und zu fluchen verstand, und mir aus Berlin meine Bettwäsche kommen lassen. Bevor ich die ausgeliefert bekam vom Zollspediteur, war ich aus nutzloser Warterei so weich geworden, daß ich jedem Zollbeamten, Gepäckträger und sonstigen Beamten, wer nur die Hände aufhielt, mein gutes Geld hinein warf, um nur endlich von ihrer Gier und dem widerwärtigen Geschrei befreit zu sein.
So kam der italienische Frühling für mich wie ein unnütz strahlender Sonntagmorgen, wenn man von einer wüsten Nacht noch traurig in allen Gliedern ist. Da freilich zog ich den Mißmut und die Erinnerung an die nasse Kälte, an diesen kläglichen Anfang meiner Auswanderei wie ein paar nasse Socken aus und lief mit nackten Füßen in die Pracht hinein. Denn Italien, wie es in den Herzen von uns Nordländern lebt, das ist der Frühling, der auf einmal als ein Geriesel von Blüten, von Blust und Glut aus dem schäbigen Boden quillt. Dann hat es Zweck, sich auf dem Pincio zu entzücken und weiter oben in den Gärten der Villa Borghese; noch ist der schreckliche Sommerstaub nicht da, den welkenden Sirocco hat man noch nicht gespürt und daß die Sonne stechen und brüten kann, sodaß man auf den Schattenbändern vorsichtig wie über Brücken geht: wohlig warm entzündet sie statt gleißendem Licht noch farbige Pracht, darin die Vögel mit den Menschen um die Wette jubilieren.
Unterdessen hatte ich auch einen Zugang zu meinem neuen Metier gefunden; ich wollte nach einigen rasch verworfenen Versuchen einen Jüngling in Bronze machen, der einmal vorn an die Terrasse im Belvoir kommen und mehr mit der Haltung seines Körpers als mit einer Geste betend vor der Landschaft stehen sollte, die leicht gehobenen Handflächen wie das Gesicht den Alpen zugekehrt. Ich fand auch bald ein Modell dazu, den Domenico; einen braunen Bengel, der das Handwerk von seiner Knabenzeit her übte, zwar faul und verlogen gleich den andern, aber von gutem Wuchs war. Weil ich sofort ein freies Werk schaffen, also im Wasser schwimmen lernen wollte, jedoch des Handwerks noch längst nicht mächtig war, machte ich ihn zunächst in der Höhe von einem Meter, absichtlich naturgetreu, um ihn später in Lebensgröße frei zu wiederholen. Um aber nicht wieder in die Raserei meiner Kupferstecherzeiten zu verfallen, andererseits um meine Zeit auszunutzen, machte ich mir von Anfang an einen festen Stundenplan, von dem ich in der Folge auch nicht abwich: morgens um sechs Uhr warf mich der Domenico aus dem Bett und kochte Kaffee im Atelier, um sieben Uhr fing die Arbeit an bis zwölf; dann ging ich essen, legte mich ein halbes Stündchen aufs Ohr, nahm eine Waschung und modellierte von drei bis sieben Uhr den Nachmittag zu Ende. Ich hielt die neun Stunden besser aus als mein Modell, das mit der steigenden Hitze und je nach der Stärke seiner nächtlichen Lumpereien schläfrig wurde, jedoch von einer Tonspritze kalten Wassers über den Leib rasch wieder wach war. Abends um halb zehn Uhr sank ich dann freilich todmüde ins Bett; aber schöner hab ich in meinem Leben nicht geschlafen als in dieser ersten römischen Bildhauerzeit.
Der Sonntag, den ich in Berlin stets als den besten Arbeitstag für mich verschlissen hatte, wurde peinlich ausgespart; anfangs, um irgend etwas von den Altertümern der Stadt zu sehen, später, besonders mit dem heißeren Sommer, um irgendwo draußen in der Landschaft oder am Meer den Kopf zu kühlen. Ich war in meiner letzten Berliner Zeit mit Klinger in einen respektvollen Verkehr gekommen, wir hatten abends miteinander modelliert in meinem Atelier und hatten unsere Erfahrungen mit der Radierung ausgetauscht, die er schon länger betrieb als ich. Was ihn mir wertvoller als den sonstigen Künstlerumgang machte, war seine Belesenheit und daß die Bildung bei ihm nicht nur als Theorie an seinem Handwerk klebte, wie leider oft bei mir. Er war in vielen Geistesdingen mit klugem Eifer zuhaus und probierte gleich mir ziemlich auf allen Gebieten der Kunst herum. Jetzt malte er in Rom an einer großen Kreuzigung; er hatte sein Atelier am Kolosseum, also ganz abseits vom Künstlerviertel, das er ziemlich mied. Wir sahen uns fast nie im Atelier und dann nur, wenn wir abgesprochener Maßen einer dem andern eine Arbeit begutachten wollten; aber jeder Freitag Abend war zur Besprechung angesetzt, was wir am Sonntag gemeinsam unternehmen wollten. Ich habe mit ihm zuerst die Albanerberge und die Campagna von da aus, das Meer und die Sabinerberge gesehen, wir sind gemeinsam nach Orvieto, Viterbo und Corneto, auch nach Florenz gefahren, wir haben miteinander geschwommen, gewandert und geritten, geschwärmt und diskutiert, und sind dabei kühl wie zwei Brüder zueinander geblieben, von denen jeder weiß, daß er ein anderes Erbteil mitbekommen hat und damit haushalten muß. Ich mag auf ihn, der mir schlimmer als ein Feind geworden ist, nun keinen von den Steinen zurückwerfen, mit denen ich selber gesteinigt worden bin; jeder kann nur soweit das richtige tun, wie seine Einsicht reicht, und seine ging bei mir gerade in dem Augenblick zu Ende, als er mir helfen sollte.
Als ich zum erstenmal mit ihm hinaus nach Frascati ging, war ein schöner leiser Frühlingstag; da sah ich denn zuerst die ungeheure Campagna wie ein braunes Meer zu Füßen liegen, nur hin und wieder noch eine Ruine wie ein gescheitertes Segelschiff darin und mitten auf einer Insel Rom mit dem Petersdom. Das Meer sah ich damals noch nicht, das blieb mir vorbehalten, bis wir am nächsten Sonntag den Höhenweg am Albanersee entlang marschierten und nachher in Albano auf der Hotelterrasse zu Mittag aßen: Klinger, der überhaupt auf solchen Gängen schweigsam war, hatte mich nicht aufmerksam gemacht; so sah ich denn beim Essen immer erstaunter ein Phänomen, daß sich der Himmel nicht wie sonst im Dunst des Horizonts verlor, sondern noch einmal ein fast blaues Auge mit einem Schimmer auftat, der am Horizont wie von einem Scheinwerfer hin und widerlief. Es war das Meer, das blaue Mittelmeer, und nun ging unsere nächste Fahrt dahin.
Wer seine Pracht und Bläue noch nicht gesehen hat, wie es bei Porto d'Anzio die Felsen und Ruinen anläuft in einer klaren, nicht der milchig verschlämmten Luft der Nordsee, und doch mit der gleichen metallenen Kraft: der hat vom Gegensatz der nordisch-gothischen und der klassischen Welt das Sinnbild nicht gespürt. Mir wars, wie wenn im Buch der Weltgeschichte vorn ein neues Kapitel aufgeschlagen würde, während ich in hartnäckiger Befangenheit nur immer in den letzten gelesen hatte. Wenn mir sobald die garnicht Thorwaldsensche Kraft und Schönheit der griechischen Plastik aufging, ist dort in Porto d'Anzio der Riegel geöffnet worden, und heute noch kann ich mir kein griechisches Steinbild vorstellen, ohne daß die blaue Mittelmeerluft mit klarem Licht um seinen Marmor spielt. Nur weil uns Nordländern diese blaue Meerluft fehlt, weil unsere Lichter grau und verschleiert sind, haben wir uns die marmorne Natürlichkeit der Griechenwelt in staubigen Gips verwandeln können.
Ich war nach Italien gekommen im Zeichen Donatellos, mein Begriff der Plastik war seine Bronze mit der straffen gothischen Form, wogegen mir die Griechen weibisch vorkamen. Nun sah ich auf dem Kapitol, im Vatikan und sonst griechische Werke aus guter Zeit und von erster Hand, sah die andern auch, die mir von der Schulzeit her geläufig waren, und merkte, daß meine Vorstellungen von griechischer Kunst – wie die der meisten – fast nur auf schwächlichen vielfach kopierten Alterswerken beruhten: daß weder der Apollo noch der Meleager, noch die Laokoongruppe, noch die Venus vom Kapitol – besonders nach der Politur im siebzehnten Jahrhundert – genügend Originalwerke waren, um von der griechischen Kunst mehr zu sagen, als schwächliche Reproduktionen. Es schien mir ein komisches Schauspiel, wie die Griechen nach zweitausend Jahren ganz Europa mit einer Gipskunst erstickten, während ihre eigenen Bildwerke garnicht diese gipserne Objektivität, sondern ein höchst ursprüngliches Leben zeigten. Wenn ich und die andern etwas von ihnen lernen konnten, waren es nicht die Maße ausgeklügelter Schönheitslehren, sondern die natürlichen Funktionen ihrer Körper, wie sie richtig in den Gelenken standen und lebensfähig waren. Die Erzählung vom Pygmalion war keine Fabel ohne Sinn: wenn eine solche Statue auch kein Glied rührte, ja gerade dann, wenn sie nur als Organismus empfunden und gebildet war, konnte sie in ihrer steineren Ruhe ewiges Leben haben.
Je klarer mir diese Dinge wurden, je besser ich das Ziel meiner Kunst erkannte, umso emsiger strebte meine Arbeit, weil sie im Einverständnis mit dieser Einsicht begonnen war; und so schwer es mir zuerst wurde, plastisch zu bilden, d. h. die Dinge rund zu sehen: innerlich beruhigter hatte ich noch nicht gearbeitet. Freilich gingen sechs Monate darüber hin, bis mein Mannli ungefähr nach meinem Sinn dastand, wenn auch noch nicht vollendet im Detail, doch so, daß alles nur noch zu ergänzen, nicht mehr umzubilden war.
* * *
Am zweiten September, meinem Geburtstag – es war der zweiunddreißigste – lud ich einen spanischen Maler, namens Senet, mit dem ich mittags beim Essen bekannt geworden war und der auch in der Villa Strohl-Fern hauste, zu einer Flasche Wein ins Atelier. Er brachte seinen Hund und seinen Photographenkasten mit, zwei Dinge, mit denen er nach dem Scherz seiner Freude auch ins Bett ging. So erhielt ich meine erste Aufnahme von dem Adoranten, wie ich das Mannli übermütig nannte; ich sandte einen Abdruck ins Belvoir und einen zu der Mutter nach Biel. Die Figur gefiel mir schon, viel weniger wie ich selber auf der Platte im Bildhauerkittel daneben stand. Ich war bei der Arbeit ziemlich verwahrlost, von der italienischen Kost arg im Fett, mein altes Leiden, und als ich mich im Spiegel prüfte, waren die Schläfen schon meliert und mein Gesicht mit den Bartstoppeln so gedunsen und blaß, daß ich mir krank vorkam. Ich mußte einsehen, daß mir eine Pause nötig war, und weil der Domenico für einige Wochen im September zum Militärdienst eingefordert wurde, nahm ich mir einen kurzen Urlaub vor.
Unterdessen aber hatte ich gleich meinen Vorgängern – und Nachfolgern wohl auch – mein Lehrgeld mit dem ersten Atelier bezahlt, auf das ich dem schönen Aufgang und den poetischen Cypressen zuliebe herein gefallen war; es hatte sich als eine finstere melancholische Höhle, als eine wahre Grabkammer erwiesen. Ich wäre vielleicht noch nicht umgezogen, wenn nicht in einem andren Atelier der Villa ein Bildhauer gestorben und dadurch ein helleres Atelier frei geworden wäre, das mir der Padrone anbot und das ich zum 1. Oktober mietete. Sowie die Figur dann abgeformt war, reiste ich – Mitte September – nach Terracina, um meinen Körper und mehr noch meine Nerven zu kurieren; denn nun die Spannung zurück ging, merkte ich an meiner Schlaflosigkeit, wie sehr mich dieser Sommer, der arbeitsreichste meines Lebens, angepackt hatte. Ich half mir mit täglichen Meerbädern und Kletterübungen in den glühheißen Bergen soweit auf, daß ich mich im Ganzen um dreiundzwanzig Pfund zurück brachte; es war vielleicht gewaltsam, wie mir die Ärzte später sagten, weil mich anfangs merkwürdige Zustände überfielen, daß ich etwa meinte, soeben noch mit einem Berliner Freund gesprochen zu haben und mich allein am blauen Meer auf irgend einer ausgeglühten Klippe fand.
In Terracina fing dann auch ein sonderbares Scherzspiel des Zufalls an: Als ich jeden Tag zweimal ins Meer hinaus schwamm, morgens zur Erfrischung und gegen Abend nach dem Schweiß der Bergkletterei noch einmal, hatte sich mir, wie es so geht, ein baumlanger Italiener angeschlossen, der auch zur Kur da zu sein schien; wir schwammen ziemlich gleich und so machte sichs, daß wir uns abends gemeinsam weit ins Meer hinaus wagten. Er war etwas ein prahlerischer Kerl mit gekräuseltem schwarzem Haar; als wir nun eines Tages ziemlich weit draußen waren und ich ihn warnend zurückrief, weil ich erschrocken ein Gewitter anziehen sah: winkte er mir lachend zu und schwamm erst noch ein paar Stöße weiter hinaus. Ich hatte schon einmal bei einem Unwetter fast dran glauben müssen, rief ihm deshalb noch einmal zu und setzte alles dran, selber vor dem Ausbruch möglichst nahe ans Land zu kommen. Er folgte mir nun zwar, aber nach wenigen Minuten sprang der Wind um und setzte mit jener mahlenden Wellenbewegung ein, deren Ende ich kannte. Wir kamen ganz auseinander, weil er einen andern Weg nahm, und während ich mich endlich ans Ufer warf, mit müden Armen, die mir in den Gelenken abgebunden schienen, zwar meine Kleider in dem prasselnden Regen nicht fand, sie aber auch in der Erschöpfung garnicht zu suchen fähig war, sah ich ihn ein paarmal so in den Wellen, daß mir kein Zweifel für sein Schicksal bleiben konnte.
Ihn schwimmend zu retten, war unmöglich, und ein Boot erst recht nicht zurhand, weil wir die einsamste Klippenecke für unsere Schwimmfahrten gewählt hatten. Ich lief dennoch mit nackten Füßen über den Klippenrand nach der Gegend, wo er war, sah ihn zuerst nicht mehr und blieb vor Schrecken stehen, bei dem Anblick, den er mir plötzlich bot: Die Luft war blauschwarz, aber das aufgeregte Wasser lag in einem glasigen Schein, wie wenn das Licht von innen aus den Schaumkronen bräche; gleich dunklen Tierleibern warfen sich die Wellenrücken darunter her und eine hob den Körper des Ertrunkenen steil auf: bis an die Kniee aus dem Wasser, grellweiß beleuchtet vor der blauschwarzen Dunkelheit. Nur einen Augenblick, dann warf der nächste Wellenkamm das Denkmal von seinem Postament herunter, aber dieser Augenblick war so, daß er mir nicht mehr aus den Augen ging.
Glücklicherweise kam der Wirt, der meine Gewohnheiten kannte und besorgt geworden war, durch die Klippen mit ein paar Knechten heran, die Stangen und Stricke trugen. Der Zufall half uns und so fischten wir nach wenigen Minuten den langen Körper aus der Brandung heraus. Es gelang uns auch, mit den vorgeschriebenen Handgriffen das Wasser aus dem Italiener heraus zu bringen, daß er schon wieder atmete, während der Regen immer noch über uns prasselte. Meine Kleider fand ich wieder und mit dem nassen Bündel unterm Arm kehrte ich in den Gasthof zurück, während die andern den Italiener erst in die nassen Hosen steckten.
Andern Morgens, als die Zeit zu meinem Frühbad war – das Meer wogte wie unter einem blauseidenen Tuch nur noch ganz leicht – war mirs nicht recht zumut ums schwimmen; ich fand mir selber einen Vorwand, aber nach meinem Bergspaziergang am Nachmittag half es mir nichts, ich mußte ans Meer hinunter. Der Italiener war nicht da; ich zog mich also zögernd aus und ging noch zögernder bis an die Kniee ins Wasser: ich hatte das Element zu deutlich gefühlt, um mich ohne Grauen hinein zu wagen, auch ging mir die weiße Gestalt des Italieners nicht aus den Augen. Darüber kam er selber, schon von weitem seinen Hut fröhlich schwenkend, in einem Strandanzug, der die Gestalt fast weiß wie gestern vor den blauschwarzen Wellen zeigte. Als er bei mir war, warf er dem Meer eine Kußhand zu, bübisch lachend, wie es diese Kerle nie zu verlernen scheinen, und riß in einer wahren Gier nach dem Wasser die Kleider herunter, während ich noch immer das Grauen nicht überwand. Ich dachte gerade, wieviel naiver solche Menschen doch zum Element ständen und wie zerstört dagegen unsere Nerven wären, als etwas Unerwartetes geschah: Wie nämlich dieser lachende Mensch noch einmal seine Löckchen zurecht gestrichelt hatte mit der flachen Hand und ans Wasser trat, spritzte ihm die nächste Welle nur ganz leise bis an den Knöchel; er aber, der leichenblaß wurde, zog den Fuß zurück, sah noch einmal, wie wenn ihn jetzt erst die Todesfurcht packte, in die still wogende Ferne hinaus und kleidete sich fast rascher, als er die Kleider ausgezogen hatte, wieder an. Nicht einmal den Hut schwenkte er nach mir, als er in seinen gelben Schuhen davon ging. Ich schwamm mit Überwindung hinein, aber ich badete seit dem Tag allein; der Italiener kam nicht mehr, bis ich ihm nach Wochen sonderbar in Tivoli wieder begegnete.
Als ich nämlich Anfang Oktober wieder zurück kam, schien ganz Rom verrückt geworden zu sein, weil der deutsche Kaiser ankommen sollte, der selbe Prinz Wilhelm, dem ich zur Hochzeit damals bei Anton von Werner den Fächer gemalt hatte, und der nun den Italienern seinen Antrittsbesuch als Kaiser machte. Es ging damals der Scherz, die Römer hätten ihm zuliebe die Albanerberge angestrichen, wenn nicht ein willkommener Regen den Staub davon gewaschen hätte; jedenfalls sah ich sie die Ruinen jäten und das Kolosseum blank wie einen preußischen Kasernenhof fegen. Gleichzeitig traf für mich ein anderer Besuch in Rom ein, der alte Bundesrat aus Bern, dem ich ein Cicerone zu sein brieflich versprochen hatte. So kam ich noch nicht an die Arbeit; denn obwohl der alte Herr an dem schweizerischen Gesandten Bavier den pünktlichsten Betreuer hatte: wenn ein solcher Mann nach Rom kommt, will er Kunst sehen, und es gibt mehr als einen Künstler in Rom, der solcherweise Fremdenführer für seine Landsleute geworden und schließlich bei dem Metier als dem fauleren geblieben ist. Ich brauchte es bloß drei Wochen auszuhalten; daß ich dadurch noch ein wenig im bummeln erhalten wurde, war aber gut für mich, ich kam wieder einmal recht herum durch Rom und in die Umgebung.
Freilich auch zugleich in die Narrheit solcher Leute, mit dem Reisebuch in der Hand die Kunstwerke abzulaufen und überall Verständnis oder Begeisterung zu heucheln; wo unsereins, durch eine natürliche Begabung, durch die Erfahrungen seines Metiers diesen Betrachtern um Jahrzehnte voraus, manchmal erst nach Monaten zum Genuß durchdringt, da sind die reisenden Kunstfreunde schon nach einer Viertelstunde mitten drin. Ich mochte nicht entscheiden, wer lächerlicher war, die englischen Jungfrauen, die sich von einem bebrillten Drachen stundenlang die Kunstgeschichte zu den Bildern vorlesen ließen, oder der deutsche Professor im Jägerrock, der in der Sixtina seinen Strohkopf kühn nach hinten werfend mit einem Bleistift die großen Geberden Michelangelos auf einen Bogen Zeichenpapier bannte, indessen seine rundliche Gattin im hochgeschürzten Wetterrock daneben saß und ihn entzückt anstaunte. Gegen den englischen Drachen half ich mir eines Tages, indem ich mein Skizzenbuch heraus holte und vor den kichernden Jungfrauen das dozierende Untier unverfroren abzuzeichnen begann, bis es meine Absicht merkend zornrot davon sauste; aber gegen einen zeichnenden deutschen Professor ist im Himmel und in der Hölle kein Schreckmittel zu finden. Er ist das schlimmste Ungemach, was einem deutschen Künstler begegnen kann; denn weil man selber als tedesco von den Italienern mit ihm in einen Topf geworfen wird, bringt man die Lächerlichkeit nicht von sich los, solange man noch blond gefärbt wie solch ein Mensch ist. Wo ich auch hinkam in den drei Wochen mit meinem Bundesrat – es war gerade die Fremdenzeit des Herbstes – überall waren die mit einem Stern im Baedecker berühmten Kunstwerken von Bildungshorden belagert, und es ist mir damals recht aufgegangen, wie lächerlich dies alles auf die Italiener wirken muß, die zu den Dingen der Kunst ein viel naiveres Verhältnis haben.
Wie ich nun eines Tages mit dem alten Herrn zum Mittag draußen in Rocca di Papa war, auf einer Wagenfahrt über Castel Gandolfo, Albano und den Nemisee, wurde er mir müde und wollte gern bis in den Nachmittag ein paar Stündchen ruhen. Ich wußte nichts anderes mit meiner Zeit anzufangen, als durch das aufgetürmte Steinhöhlenwerk der Gassen bis an den Sommerübungsplatz der römischen Soldaten und von da die alte Feldherrnstraße hinauf zum Monte Cavo zu gehn. Es ist ein wehmütig feierliches Gefühl, das man nicht leicht vergißt, auf den zweitausendjährigen Platten dieses Weges in einer schön geschwungenen Spirale den Gipfel des Berges zu erreichen, der zu Roms Zeiten eine Art Heiligtum seiner militärischen Weltmacht vorstellte: Das Meer war weithin zu sehen in einem gleißenden Streifen, die weißlichen Sabinerberge, und rundum dieser Klang von braun und blau, der für die Campagna bezeichnend und von so seltsamer Schönheit ist.
Oben bei dem Observatorium ging es weniger feierlich zu; ein paar junge Mädchen in weißen Kleidern waren mit Eseln herauf geritten und vergnügten sich nun im Schatten der uralten Bäume nach dem mühsamen Trott auch noch mit einem Trab, wobei die Treiber nach italienischer Art wild schreiend und ihre Stöcke schwingend nebenher sprangen. Ich wollte mich schon, wie ich es in dieser Vita d'Inglese gewohnt war, schweigend vorbei drücken, als es mir schien, wie wenn die jungen Damen über den Tedesco kicherten. Darüber ärgerlich aus der Stimmung dieser Wochen sprang ich mit dem Entschluß einer Sekunde dem Esel nach, der gerade vorbei kam, riß dem Bengel Stock und Zügel aus der Hand und begann, ebenso schreiend, nur mit meinen großen Beinen schneller springend die Reiterin auf dem Rasen herum zu führen. Sie erfaßte nach dem ersten Schrecken den Scherz und lachte mich mit ihren Glasperlenaugen an, als ich im schönsten Straßenitalienisch – wie ichs von Domenico kannte – ihren Eseljungen machte. Als es mir genug schien, lenkte ich den Esel aus dem grünen Rasen in den steinichten Weg hinunter; sogleich sprangen alle Bengel mit ihren Stöcken hinter mir her; ich ließ sie erst ein gutes Stück laufen, bevor ich den Esel anhielt und der Schönen meine gefalteten Hände zum Steigbügel bot. Sie trat auch richtig hinein, noch blaß von der Entführung; dem Esel aber gab ich einen Klapps, daß er mit aufgeregten Sätzen hinunter lief, von seinem schreienden Herrn verfolgt.
Bekanntlich sieht der Fremde in Rom auf der Straße selten eine schöne Römerin, weil sich die Damen sehr zurück halten. Dies aber war wirklich ein feiner schwarzer Teufel, und weil ich einmal mit ihr angebendelt hatte, blieb ich dabei, den Cavalier zu machen, und führte sie schließlich, weil die Genossinnen abreiten wollten und ihr Esel fort war, immer vor denen her – anders wollte sie es nicht – nach Rocca di Papa hinunter. Es gab dabei Gelegenheiten genug zu Anspielungen, und da es mir wirklich schien, als hätte ich bei der Kleinen ganz unitalienisch Glück, ließ ich mich verleiten, in Erinnerung vergangener Waldfesttage an der Havel für den nächsten Sonntag ein Stelldichein in Tivoli zu verabreden, das sie auch schließlich zusagte.
Den Bundesrat traf ich schon ungeduldig vor dem angespannten Wagen auf und ab spazierend; doch war es Zeit genug, noch durch die Campagna nach Rom zu kommen, da wir acht flinke Pferdebeine statt der unsern hatten. Wir speisten an dem Abend wie meist bei dem Gesandten Bavier, der mich schon vorher manchmal auf dem Atelier besucht hatte. Beim Abschied am dritten Tag danach ließ mir der Bundesrat seinen Cicerone als Andenken zurück; Herr Bavier und sein Sekretär Rochette waren mit mir auf der Bahn, um ihm nachzuwinken. Es mußte für den Italiener fast wie eine Familienscene aussehen, so herzlich gab es sich, was nicht einmal eine Freundschaft, kaum eine Bekanntschaft war, wie ich danach erfahren sollte.
So kam mir sieben Wochen lang kein Modellierholz in die Hand; ich hatte meinem äußeren Menschen wieder einmal täglich die Bartstoppeln abrasieren lassen und gesellschaftlichen Umgang gepflegt; nun war ich froh, daß der Herbst zu Ende ging, weil mir die Hitze zugesetzt hatte. Ich suchte mir einen schönen Ofen aus und bestellte die Anstreicher in mein Atelier, um besser als im vergangenen Jahr für den Winter gerüstet zu sein. Darüber kam schon wieder der Sonntag und weil ich gewohnt war, den draußen zu verbringen, gab ich mir nach und fuhr wirklich hinaus nach Tivoli. Während der Dampfzug über die staubige Landstraße ratterte und nachher mit vielen Umständlichkeiten an der Villa Adriani vorbei durch die Ölbaumhänge nach Tivoli hinauf kletterte, mußte ich an mein tragikomisches Erlebnis denken, wie ich zum erstenmal dahin kam und die Villa d'Este nicht fand. Ich hatte mir den späten Nachmittag dafür vorbehalten, der glutvollen Stimmung wegen, war zunächst an den kuriosen Löchern der Wasserfälle herum geklettert und hatte mich nach einem vergeblichen Versuch, in dem Grand-Restaurant Thee zu bekommen, endlich nach der Villa aufgemacht. Ich konnte damals nur ein paar Worte italienisch und fragte deshalb nicht gern, ging nach der Karte und verirrte mich ein paarmal in dem konfusen Nest, umsomehr, als auf dem Markt konzertiert wurde und also die Gassen mit sonntäglichen Menschen überfüllt waren. Ich wurde darüber eigensinnig, ging an die große Brücke zurück und versuchte es zum vierten- oder fünftenmal, wie es so gehen kann; weil die Dämmerung rasch einfiel, mußte ich mir schließlich, um nur wieder aus den Gassen heraus zu kommen, doch einen Bengel für ein paar Soldi als Führer nehmen, und kam gerade auf dem kleinen Platz vor dem Portal an, als die Tür geschlossen wurde.
Ich war seitdem oftmals dort und auch genügend in der Villa d'Este gewesen, und ich hätte meinen Sonntag gescheiter anwenden können als zwischen den Cypressen gleich einem entzündeten Tasso hin und her zu wandern. Meine Schönheit vom Monte Cavo ließ mich nämlich warten und als sie endlich kam, war sie fast feierlich; sie ließ sich von mir alle möglichen Phrasen in meinem noch ungewandten Italienisch vormachen, lachte ein einziges Mal, als ein Fehler zu drollig herauskam, war aber gleich wieder bitterernst und wollte ins Hotel hinauf geführt sein. Es war der selbe Garten, wo ich mich damals gewundert hatte, daß man Erinnerungstafeln an fürstliche Gäste, aber keinen Thee bereit hielt, neben dem Sybillentempel über der großen Schlucht. Es saßen Fremde und Römer dort im Durcheinander eines schönen Sonntags, und für uns beide schien kein Platz mehr frei. Meine Begleiterin aber ging mir voran an einen Tisch, wo ein ältliches Ehepaar anscheinend mit einem erwachsenen Sohn saß. Der Alte war ein gebräunter Herr mit einem weißen Bart und gelben Handschuhen; sie hatte ein lilafarbenes Seidenkleid an mit wahren Kaskaden von Spitzen: weglaufen wie ein ertappter Schüler konnte ich nicht, und so saß ich nach wenigen Minuten ehrbar in einer römischen Familie, von dem Alten mit verkniffenen Nasenflügeln, von der Mutter aber mit sorgfältiger Taxierung betrachtet, während der Herr Bruder mir keinen Blick gönnte, wie wenn er sich in der Erwartung irgend einer Affaire die volle Aktionsfreiheit bewahren wollte. Es war eine dämliche Angelegenheit; ich mußte an meine Professur in München und die dazu gehörige Frau, an die majestätische Madame Böcklin und an die Nana von Feuerbach denken, kam mit den Schlagwörtern vom Domenico nicht mehr zurecht und wäre am liebsten mit dem großen Wasserfall drüben nach Rom hinunter gerutscht.
Als die Situation über die erste Verlegenheit in eine Art von Lähmung geraten war, half mir kein anderer heraus als mein Schwimmfreund aus Terracina, der augenscheinlich als Sicherheitswache hinter den Cypressen der Villa d'Este gestanden hatte; denn garnicht verdutzt, kam der – wie wenn er sich über die Sachlage freute – zur offenbaren Verwunderung der Seinigen als ältester Sohn dieser vortrefflichen Familie dazu, schüttelte mir herzlich die Hand, stellte mich als seinen Lebensretter vor und erlöste mich endlich mit seiner komischen Feierlichkeit. Da wußte ich, warum mir diese schwarze Schönheit vom Monte Cavo gleich so bekannt gewesen war; zugleich aber sah ich, daß nicht nur die Straßenhändler in Italien geschickte Leute waren. Es wäre übrigens für einen deutschen Maler, dem das Geld zur Rückreise fehlte, keine üble Partie gewesen; die Tochter war wirklich schön in ihrer gesunden Bronze und gerade arm schienen die Leute auch nicht zu sein. Weil es mir damals noch nicht an Reisegeld fehlte und die häusliche Liebe nicht in meiner Sehnsucht stand, feierte ich das Wiedersehn mit gutem Wein von Orvieto, fuhr mit in ihrem Wagen zurück nach Rom, befreite mich aber schon an der Via Cavour aus ihrer familienhaften Herzlichkeit; beim Abschied sah ich mir die Tochter noch einmal an, die mit einem ungewissen Blick errötete, und dachte garnicht einmal unzufrieden über diesen Nachmittag, indem ich mich gleich links hinauf zum Quirinal schlug, ob ich dem Senet diese Familie empfehlen sollte. Er war aber so schwarz und klein, wie ich blond und lang war, und also hätte der Hinweis einen Hinkfuß gehabt; denn daß die Vorzüge meiner Persönlichkeit mitgesprochen hatten, das mußte ich mir doch wohl einbilden.
Im Ganzen brachte mir diese scherzhafte Erfahrung jedoch zum Bewußtsein, in was für Torheiten ein Bummelleben führte, wie ich es sieben Wochen lang getrieben hatte. Als ich an dem Abend von einer guten Mahlzeit nach dem Schrecken wieder in mein Atelier kam und die Spritzer der Anstreicher sah, von denen der Padrone behauptete, daß sie nicht weggingen, würgte mich mein schweizerisches Reinlichkeitsgefühl derart, daß ich andern Morgens früh aufstand und eigenhändig anfing, den ganzen Boden nicht nur von den Farbspritzern sondern überhaupt von dem verkrusteten Dreck einiger Jahrzehnte zu reinigen. Es ging nicht so rasch, wie ich dachte, und ich rutschte wirklich zwei Tage lang auf den Knieen herum; dabei fiel mir ein, wie wir uns früher in München, als ich noch selber den Stubenmaler spielte, ein Vergnügen daraus gemacht hatten, die Farben recht am Boden herum zu spritzen. So büßte ich buchstäblich im Schweiße meines Angesichts zwei Tage lang die Sünden meiner Anstreicherjugend ab. Einmal im Werk, vernagelte ich noch alle Tür- und Fensterspalten mit Wollenden und legte alles reinlich mit Cocos und Teppichen aus. Darüber war Allerseelen gekommen und nun endlich hatte ich wieder mein Modell.
Ich war mutig geworden über meinem Adoranten und wollte es nun gleich mit einer lebensgroßen Figur versuchen, einem Speerwerfer, wie ich ihn nennen wollte, einen Jüngling, der auf seinen Speer gestützt, die Würfe der andern beobachtet, bis die Reihe im Wettkampf an ihn kommt. Es glückte mir mit der ersten Anlage gleich viel besser als damals, weil ich nebenbei doch etwas Handwerk gelernt hatte. Als ich aber glaubte, recht im Zug zu sein, so gegen Ende November, fiel die erste Kälte ein und ich ließ heizen, ein bißchen früh vielleicht aus Stolz darauf, daß ich nun einen richtigen Ofen hatte. Es war aber nicht wie in der Heimat, daß nach dem ersten Qualm sie sagen, bis die Feuchtigkeit aus dem Schornstein sei – der Gestank aufhörte, sondern es ging so Tage fort mit dem scharfen Kohlendunst, daß ans arbeiten nicht mehr zu denken war. Ich mußte schließlich den Ofen wieder abreißen und untersuchen lassen; doch war nur der Kamin seit Jahren irgendwie in sich zusammen gestürzt, ein Gemengsel von Ruß und Steinen, durch das natürlich der Rauch nicht abzog. Bis es in Ordnung kam und mein Atelier wieder sauber wurde, diesmal unter scharfem Kommando, war es längst Dezember.
Dann ging die Arbeit endlich wieder voran und gab mir bald die ersten Nüsse zu knacken. Was ich bei dem Adoranten erkannt hatte, daß – wie der Maler darstellt, was man nicht photographieren kann – auch der Bildhauer geben müßte, was der Naturabguß nicht bietet, nämlich die organische Erscheinung der menschlichen Bewegung in der Ruhe seiner Figur, also kein Stilleben, sondern im Sinn der Antike den wundervollen Aufbau und die Mechanik eines Körpers: das erwies sich nun als eine leichte Erkenntnis aber als eine schwierigere Aufgabe. War ich mir in den ersten Monaten vorgekommen wie ins Wasser geschmissen, so fühlte ich mich endlich nun am festen Land, weil meine praktische Arbeit auf dem Boden einer Einsicht ein handgreifliches Ziel hatte. Am glücklichsten machte es mich, daß ich wieder oder eigentlich zum erstenmal in meiner Kunst das spürte, was man den langen Atem nennt; ich wußte nun, daß ich dergleichen nicht wie eine Radierung oder eine gemalte Studie in ein paar Tagen hinwerfen konnte, vielmehr wie an einem Bauwerk Tag für Tag meine Steine schichten müsse. Die Kunst war immer weniger eine rastlose Leidenschaft für mich und wurde eine schöne ruhige Liebe.
Ich kam mir so geborgen vor, daß es mir nicht mehr richtig schien mit meinem Schlafzimmerprovisorium im Atelier; ich mochte nicht mehr Nacht für Nacht, wie ein Tier seinen Raub behütet, an der Arbeitsstelle schlafen, mietete mir also nicht allzuweit eine kleine Wohnung mit zwei Balkonen im sechsten Stock, wo ich nach der einen Seite die Gärten am Pincio, nach der andern halb Rom als Aussicht hatte. Wenn ich dann morgens aufstand und die Sonne von allen Gebäuden Roms zuerst die Kuppel am Petersdom bescheinen sah, gab mir das einen andern Eindruck vom Tag und meiner Arbeit darin, als wenn ich gleich im Tongeruch meiner Figur erwachte.
Auch sonst lebte ich mich mit dem zweiten Winter endlich ein. Klinger sah ich nicht mehr soviel, weil ich in den italienischen Alpenklub eingetreten war und ziemlich jeden Samstag zu einer Wanderung oder Besteigung ausrückte. Es waren einfache Menschen, mit denen ich da ging, wenig Künstler und fast nur Italiener; ich lernte sprechen bei ihnen, lernte den besseren Italiener in seiner bescheidenen Tüchtigkeit lieben und das Land an Stellen kennen, in die selten ein Fremder kommt – weil wir überall Ribasso hatten, noch dazu auf die billigste Weise. Ich bin so ziemlich auf allen größeren Gipfeln in den Abruzzen gewesen, auch auf dem höchsten, dem Gran Sasso d'Italia; es waren im Winter bei Eis und Schneegestöber Bergtouren wie bei uns im Sommer etwa aufs Wetterhorn, mit Seil und Eispickel, und manchmal herrlicher Aussicht nach beiden Meeren hin.
Am lebhaftesten ist mir trotzdem die ungefährliche Wanderung auf den Monte Soracte im Gedächtnis geblieben, weil sie zum erstenmal die Klostergedanken in mir anregte, mit denen ich erst in den Tagen dieser Niederschrift ganz auseinander kam. Auf der Spitze des schönen Berges steht nach italienischer Art ein kleines Kloster, zu dem man durch einen Wald von uralten Ahornbäumen und noch älteren Steineichen hinauf steigt; nur einigemale sinkt der Blick aus den Blattgewölben in die Tiefen der dunstigen Ferne. Oben aber lag auf einmal das mittelländische Meer vor uns und eine Rundsicht übers Sabinergebirge und die Höhen um Viterbo, auf die Campagna und die Abruzzen, wie ich sie aus den Alpen kaum von einem Berg so schön kannte, weil der Monte Soracte ganz isoliert steht.
Die Patres kamen uns entgegen und freuten sich in ihrer Einsamkeit wie Kinder über unsern Besuch. Wir durften mit ins Refektorium, wo der mitgebrachte Proviant verzehrt wurde, nicht ohne daß die Mönche mit ihrer Nahrung, Oliven, Brot und Kastanien nachhalfen; selbst einen sauren Klosterbergwein hatten sie. Es wurde ein freundliches und helles Klosterfest auf der Berghöhe, und als ich bei der Besichtigung des meteorlogischen Observatoriums das dem Pater Cölestin sagte, zeigte sich der auf einmal als ein gebildeter Mann Mitte der Dreißiger mit einem fein gebauten Kopf, der garnicht lächelte, als er entgegnete: wenn ich es einmal in Rom von Herzen satt hätte, sollte ich hinauf zu ihnen kommen; ich könnte es noch immer mit der Kutte versuchen, man befände sich darin viel besser, als die Leute da unten in ihrem Werktag dächten. Aber als ich ihn verdutzt und auch wohl in der Vermutung eines bitteren Schicksals ein wenig mitleidig ansah, lächelte er schon wieder und strich mir mit einer milden Bewegung über den Arm: Ich spreche nicht von mir, es weiß keiner, wie ihm das Rad am Lebenswagen einmal zerbricht; bevor sich einer nutzlos ans flicken gibt, soll er sich fragen, ob es nicht besser wäre, still beiseit zu gehn.