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Wenn ichs genau bedenke, ist auch in den bitteren Stunden meines Lebens immer noch die Neugier dabei gestanden, was nun käme; die saß, als ich die lange Reise nach München machte, getreulich neben mir und hatte immer denselben Trost, daß ich nun so oder so doch in die Malerstadt einzöge; denn daß ich ein berühmter Künstler werden müßte, blieb mir so sicher wie mein Herzschlag.
Obwohl es eine bittere Fahrt für ein Pfarrerssöhnchen war, zu einem Stubenmaler in die Lehre zu gehen, tat ich sie gern und machte die Augen auf. Ich war noch nicht gereist, so kam mir alles neu vor, das Gedränge auf den Hauptstationen, die viele Umsteigerei, wie sie damals noch üblich war, und nicht zum wenigsten, wie sich die Bauart der Häuser mit der Mundart der Reisenden mählich änderte. Als ich endlich über den weiten Bodensee kam, wo die Alpen ferner gerückt vom Säntis bis nach Vorarlberg mit einer unendlichen Zackenreihe standen, die oben wie ein Gebiß scharf in den Rändern abgeschnitten war und nach unten mit den Vorbergen und den Ufern in ein Dunstband verlief, wo ich zum erstenmal die blaue Uniform der bayrischen Beamten sah und ihre Sprache hörte, die mir ganz kauderwelsch vorkam: begriff ich erst, daß Länder keine Landkarten, sondern Weiten waren, darin die Städte nicht einsam sondern in einem unübersehbaren Netz von Höfen, Klöstern, Dörfern standen. Gegen Abend, als es kein Ende nehmen wollte, als ich vom sitzen steif geworden war und der Zug noch immer weiterfuhr, an den Stangen und Drähten vorüber, die sich wie Notenlinien – verrückt geworden von der Musik der Räder – unablässig hoben und senkten, als die Lüfte still wurden und den toten Glanz bekamen, der manchmal abends die Landschaft überfallen kann: da faßte mich das erste Heimweh an. Bei Graffrath hörten die letzten Berge auf, und wie ich dann immer noch weiterfuhr in die bayrische Hochebene hinein, kam mir der Schwindel, als müßte man – weil doch die Erde rund ist wo sie nun flach wurde – bis nach Ungarn hinuntersehen und nach Rußland.
Es war schon dunkel, als wir endlich in das Lichtermeer des Hauptbahnhofs einfuhren, wo mich der Maler Wenzel richtig herausfand und nach der Holzapfelstraße brachte. Er war ein kleiner schweigsamer Mann mit einem schon ergrauten Ziegenbart, den er samt seinem Schnauzer in die hohle Hand nahm und nachdenklich in eine Spitze auszog, wenn er sprechen wollte, was nicht häufig war. Wir mußten noch eine mörderliche Strecke zurück durch schlechte Straßen, daß ich mich wunderte, warum ich nicht schon an der vorletzten Station ausgestiegen war. Er wohnte an der Kante draußen, wo solche Handwerker in der Großstadt wohnen, in ein paar engen Zimmern zwischen lauter kleinen Leuten; wie ich hineinkam und die Frau sah in dem ärmlichen Hausrat, ein verdrücktes blasses Wesen mit einem noch blasseren Kind, wie ich die Luft schmeckte und an das Knabenzimmer mit der Bibliothek in Neuenegg dachte, das nun in dieser Nacht ganz leer war und voll Wiesenduft, indessen hier der Dunst nach schlechter Wäsche und Petroleum roch: da sah ich wohl, in was für eine andere Schule als ein Gymnasium ich nun gekommen war. Doch hielt ich mich noch tapfer, auch den andern Tag, an dem ich früh um fünf Uhr aufstehn und mit zur Arbeit mußte; und so fort die Woche durch, bis endlich der Sonntag kam. Ich hatte mich gefreut, nun einmal einen Blick in die Stadt zu tun; er gab mir einen alten Kleiderkasten abzuschleifen, den ganzen Tag bis in den Abend. Da packte mich das Heimweh mit einer Todestraurigkeit, daß ich nun für mein ganzes Leben in solchem Elend gefangen sei mit meinen Künstlerträumen.
Als es nun wirklich wochenlang so fortging, und ich noch außerdem der Frau die Schuhe putzen, Milch kochen, Wasser tragen und das Kind verwahren mußte, wenn weniger zu tun war, sodaß ich mir nur recht viel Arbeit draußen wünschte, um nur nicht in solcher Luft zu sein; und als ich bald merkte, wie ich mit meiner Geschicklichkeit zum Marmorieren und Schildermalen dem Wenzel für seine eigene Ungeschicklichkeit in feineren Arbeiten wertvoll wurde: da ließ ich eines Tages zwar nicht gegen ihn sondern gegen die erschrockene Frau meinen Zorn ausplatzen, meine Eltern hätten dazu das Lehrgeld nicht für drei Jahre voraus bezahlt. Das half dann so viel, daß sie für die Hausarbeiten ein Mädchen nahm und mir Sonntags wenigstens den Nachmittag freigab. Doch blieb es sonst das harte Leben, darin sich solche Lehrlinge durchbeißen müssen, nur daß ich doch viel älter und immerhin durch etwas Schulbildung verwöhnt war. Einmal hatten sie auf meinem Bett eine typhuskranke Frau ins Krankenhaus transportiert, sodaß ich nicht mehr darin liegen konnte und wochenlang auf einer Bank im Zimmer des Meisters schlief, bis es sich anders machte; ein anderes Mal kam auf der andern Seite eine Frau ins Kindbett nieder, daß ich sie durch die dünne Wand schreien hörte die ganze Nacht: Es war ein böser Sommer für einen Menschen von siebzehn Jahren, der Griechisch und Latein gelernt hat und Künstler werden will; und wenn ich manchmal an das Sensetal dachte, wie ich daheim ein schmuckes Bürschlein gewesen war, dem alle geschmeichelt hatten, wenn es mit seinem stattlichen Vater Sonntags spazierenging, dann schmeckte ich die Tränen in den Mundwinkeln, wie wenn ich Bitterwasser getrunken hätte.
Die Arbeit selber schreckte mich nicht, ich fand sogar allmählich etwas Tüchtiges darin, so jeden Morgen mit dem Handwerkzeug hinauszuziehen; denn weil es vielmals Neubauten waren, darin wir arbeiteten, mit lichten Zimmern, und weil es überhaupt kein fröhlicheres Handwerk gibt, als mit einem Pinsel den Leuten Türen, Wände und Schilder anzumalen, weshalb auch die Stubenmaler – freilich auch dem schönen Echo in den leeren Zimmern zuliebe – meist am singen oder pfeifen sind: kriegte ich bald einen richtigen Eifer. Es war wohl auch, daß meine Unrast endlich einen Berg vor die Füße bekommen hatte, der bewältigt werden mußte; ich lernte gipsen, anstreichen, marmorieren, masern, schablonieren, Schilder malen, und lernte es so bald, daß ich dem Meister täglich meine zwei Gulden verdiente, die er bei diesem merkwürdigen Lehrling einsteckte.
Meine Absicht war, bis in den Winter soviel zu lernen, daß ich selber als Geselle gehn und mir dadurch die Mittel zum Besuch der Akademie verdienen könnte; den Eltern zum Beweis, daß ich doch etwas anderes als der Taugenichts war, den sie verachtet hatten. Aber alles muß gelernt sein, selbst als Lehrling einem Meister durchzubrennen; denn als ich das zu Neujahr tat und kurzerhand bei einem andern als Geselle eintreten wollte, fiel unvermutet ein so kalter Winter ein, daß alle Arbeiten draußen und an Neubauten aufhörten. Er konnte mich nicht annehmen, sonst Arbeit fand ich auch nicht und weil ich als Lehrling trotz meiner Geschicklichkeit keinen Lohn erhalten hatte, etwas zu sparen: stand ich nach wenigen Tagen wirklich auf der Straße. Ich hätte freilich jederzeit zum Meister Wenzel in die Holzapfelstraße zurück gekonnt; so aber war mein Trotz nicht beschaffen, daß er sich duckte, wenn es nicht gleich geriet.
Ich habe dann, um nicht zu hungern und zu frieren, die kläglichen Arbeiten getan, die den Obdachlosen für ein paar Pfennige übrigbleiben, ich habe Holz gespalten, Gepäck zur Bahn gebracht und bin mit Handwagen durch die Stadt gefahren. Es war am Ende kein Vergnügen mehr, weil ich nicht immer etwas fand und nicht genug zum Essen verdiente, kaum meine Schlafstelle bezahlen konnte. Ich mußte schließlich versetzen, was überflüssig an meiner Kleidung war, sah wie ein Strolch aus, und wenn man dabei nichts mehr zu essen hat und hungrig durch die Menge der Pelzkragen und warmen Mäntel geht, ist es keine Maskerade mehr.
Als es garnicht mehr ging und ich vor Entkräftung und Bitterkeit fast am Heulen war, wie ich mich eines Tages arbeitsuchend um die warmen Stellen im Hauptbahnhof herumtrieb – es war so kalt, daß man den Atem der Pferde wie Alphörner vor ihren Nüstern sah – fiel mir mein Spruch ein, den ich im Herbst noch meinem Bruder Eduard ins Waisenhaus geschrieben hatte, das schwerste wäre doch, sich einen Willen anzueignen, sodaß man jederzeit zu sich sagen könnte: ich will, und dann auch kräftig sei, es zu tun. Ich mußte einsehen, daß solche Sprüche immerhin noch auf der billigen Grundlage einer gesicherten Existenz ihr Wesen machen, und wieviel reeller die grausame Weisheit Goethes war, daß, wer den letzten Taler ausgegeben, auch den Zusammenhang mit der Menschheit verloren habe. Ich war mit meinem Willen und der Geschicklichkeit eines ordentlichen Handwerks wirklich ausgeschlossen und hätte gern die Säue des verlorenen Sohns gehütet, wenn das bei dieser Winterkälte gegangen wäre; schon aber in mich zu schlagen und heimzuschreiben vermochte ich noch nicht. So recht in der letzten Verdrossenheit geriet ich schließlich vor eine Anschlagsäule und hätte nicht gedacht, daran einen Ausweg zu finden. Wie ich aber grimmig die Ankündigungen der Theater las und etwas von der Ausstattung durch den Hoftheatermaler Quaglio, fiel mir erst ein, daß diese Institute nicht bloß vorn einen Eingang fürs Vergnügen sondern hinten auch einen für die Arbeit hätten, und mir am ehesten Beschäftigung bieten könnten, weil da im Gegensatz zu allen andern Gelegenheiten meines Fachs hohe Saison war.
Ich machte mich gleich zum Hoftheater hin und war so tückisch in meinem Willen und einer bibelhaften Sicherheit, hier aus meinem Elend erlöst zu werden, daß ich trotz allen möglichen Abweisungen schließlich doch zum Quaglio selber vorkam. Der schien aus irgendwelchen Gründen Gefallen an mir zu finden und stellte mir Beschäftigung in Aussicht, freilich erst nach vierzehn Tagen. Ich war so wenig geübt in der Bettelei, daß ich mich damit abfertigen ließ; zwar wie ich wieder draußen auf der kalten Straße war und dachte, daß ich in vierzehn Tagen dreimal verhungert und erfroren wäre, mußte ich vor Wut lachen und mit den Zorntränen in den Augen machte ich mich sogleich noch einmal an den Mann zurück, als wenn ich etwas vergessen hätte. Er sah mich erstaunt an, daß ich zum zweitenmal daherkam und raunzte nur, wie das die Münchener machen, wenn sie unwirsch sind, immer noch den Kohlestift in der Hand, mit dem er an einem großen Karton herumfuhr. Ich sagte ihm nun mein Elend, was er sich gleichmütig arbeitend anhörte, wobei sein Schatten in dem schlecht belichteten Raum wie ein Teufel an der weißen Fläche je nach der Drehung größer oder kleiner wurde. Zum Schluß fragte er mich recht von unten her wie eine Dogge, ob ich denn keine Eltern hätte? und als er hörte, wer sie waren, holte er aus der losen Tasche einen richtigen blanken Vereinstaler heraus, zu anderthalb Gulden, und gab mir den als Handgeld, wie er sagte: aber heimschreiben, raunzte er dann noch, heimschreiben und in vierzehn Tagen pünktlich da sein.
So hatte ich auf einmal den Anschluß an die Menschheit wieder in der Tasche, wo ihn meine Hände aus Vorsicht nicht losließen, und meinen Willen auch; obwohl ich mir den Taler eigentlich erbettelt hatte und damit weder ein Hoftheatermaler noch sonst ein Künstler geworden war, wovon mein Ehrgeiz geträumt hatte, fühlte ich mich nun doch wieder gesichert genug, meinen Eltern heimzuschreiben und sie um einen Vorschuß zu bitten, den ich auch erhielt. Allerdings mit einem größeren Posten Vermahnungen, als ich sie damals verwerten konnte: denn auf dem Dachboden eines Hoftheaters geht es anders zu als in einem bernischen Landpfarrerhaus; auch mit dem besten Gottvertrauen allein kann sich da keiner durchbeißen. Solange der vertrackte Winter so kalt blieb, ging es mir wie einer ins Haus verschlagenen Feldmaus; fast zwei Monate lang habe ich ausgehalten, schlecht bezahlt aber immerhin vor Straßenbettelei bewahrt. Und was ich auf diese Art zu sehen kriegte von der Rückseite der Kulissenwelt, hat mir jedenfalls für später alle Illusionen der Theaterkunst genommen und das war kein geringer Erfolg. Denn wenn ich bedenke, daß es Menschen gibt, die sich vor Bildern und Statuen wie ernsthafte Kenner benehmen und nachher vor dem geschmacklosen Unsinn einer mit dem Tüncherquast zusammengemalten Pappdeckelwelt entzückt sind, muß ich einen Zauber für wirksam halten, aus dem ich damals schon Ernüchterung fand.
Mit dem März kamen dann endlich die Regenwinde, daß man vor der Stadt die ferne Alpenkette frühmorgens in einer unnatürlichen Veilchenfarbe sah. Nach dem strengen Winter gab es nun Anstreicherarbeiten die Fülle, weil viele Neubauten zum Frühjahr noch bezogen werden sollten; alle Tage wurde in den Zeitungen nach Gesellen gesucht. Ich kletterte von meinem Dachboden herunter, sagte dem Quaglio meinen schönsten Dank und wurde ein gesuchter Geselle für die kleinen Meister, weil ich einen Raum selbständig dekorieren konnte, was sie nicht vermochten. So malte ich ziemlich alle Räume im Schloß zu Laim und verdiente meine zwei Gulden dreißig Kreuzer im Tag, konnte mir Kleider kaufen, ein ordentliches Kosthaus nehmen; und war auch richtig bald so weit, mir um dreißig Gulden mein Malzeug anzuschaffen: Palette, Staffelei, Pinsel und Farben.
Alltags war freilich keine Zeit, da hieß es von der Frühe bis ins Dunkel die Helligkeit ausnützen für die Arbeit: aber Sonntags war ich dann Künstler für mich selber. Und wenn es auch nicht einmal ein Lehrlingsstück wurde, hab ich damals doch mit achtzehn Jahren mein erstes Bild, ein Selbstporträt gemalt. So war ich immerhin noch früh genug ans Ziel gekommen; denn daß ich mit dem Herbst auf die Kunstschule konnte, schien mir sicher. Ich hatte mir den Berg gewaltsam unter die Füße getreten und ob ich auch noch über den Sommer als Stubenmaler in München geblieben bin, täglich zwölf Stunden Brotarbeit und Sonntags für mich selber nicht weniger, es war doch keine unfröhliche Zeit. Ich wußte nun und hatte es jedermann bewiesen, daß ich kein Nichtsnutz und Faulpelz sondern ein Kerl war, der sich trotz Griechisch und Latein im Leben selber half.
So wurde ich auch brieflich mit den Eltern wieder einig und als ich über den Sommer mir Geld für die Reise gespart hatte und auch wieder gut in Kleidern war, dacht ich mir nach diesem Jahr nicht nur rechtschaffener Arbeit auch einmal Ferien machen zu können; außerdem wollte ich mit meinen Eltern jetzt im Ernst die künstlerische Zukunft bereden. Im Juni 1874 war ich gekommen und im August 1875 machte ich mich wieder fort aus München, nach vierzehn sauren Monaten. Die Fahrt war diesmal drollig genug, weil ich als ein richtiger Stubenmaler mir angewöhnt hatte, mit allen Leuten lustig darauf los zu schwadronieren. In Lindau fand ich lärmende Genossen, mit denen ich in Romanshorn richtig den Zug vertrödelte. Statt nach Bern kam ich an dem Tag nur noch bis Zürich. Es machte mir nicht viel, als daß ich da hängen blieb; ich mußte an den grünen Heinrich denken, wie der mit seinem Totenschädel noch übler daran gewesen wäre und wie es dem zuletzt noch leidlich gut ausging. Ich fand bei dem einen der lustigen Kumpane – es war ein schwäbischer Schneider, der bei seinem Onkel in ein kleines Konfektionsgeschäft eintreten wollte – für die Nacht merkwürdigerweise Unterschlupf in seinem Bett, was mir insofern schlecht bekam, als er mich nach den ersten Stunden mit seiner Sägemühle weckte. Ich konnte drum die halbe Nacht nicht schlafen, sah durch das offene Dachfenster in den Himmel, der garnicht dunkel, nur immer tiefer in einer herrlichen Bläue wurde, und hob mich in der Frühe über ihn fort, um aus dem Dunst der Kammer zum wenigsten an frische Lust zu kommen. Das ging so einfach nicht, weil das Klappenfenster in dem schrägen Dachboden viel zu hoch lag. Ich kletterte also im Hemd auf einen Stuhl und habe, die Arme auf das Dach hinausgehängt, eine Stunde lang gestanden und mir Zürich wie ein frühwacher Kater angeschaut.
Ich hatte schon vorher Wasser rauschen gehört, nun war die Limmath tief unter mir, die hier geräuschlos floß und nur bei den Brücken unten ihr Geschäume hatte. Ich sah zwar mit dem schrägen Schnitt des Daches kaum noch einen Streifen von ihr; rechts guckte der schlanke Turm vom Fraumünster herüber und daneben, wie wenn er auch wie ich aus einem Dachfenster glotzte, ein Stück vom Turm der Peterskirche mit seinem Zifferblatt. Darüber stieg mit seinen Gäßchen, vom Großmünster überwacht, das stadtbedeckte Ufer lustig in die grünen Höhen. Ich war noch nicht zu Hause, war erst in Zürich, nicht in Bern, und doch war ich daheim, und nie in meinem Leben hat mich das herrliche Gefühl der Heimkehr so überwältigt wie damals, als ich halb schlafend in dem Dachfenster wie ein Kind in Mutters Armen hing. Als ich schließlich in einem süßen Gähnen die Arme hob, fiel mir ganz rechts der See mit seinem blinkenden Licht auf und wie noch schwarz vor dem Morgen die Alpen darüber standen. Er war hier reichlich so fern wie von München die Zugspitze auch, nämlich der Glärnisch, aber er stand doch anders vor dem Himmel und war ein Schweizer Berg: da faßte mich die Unruhe, nun auch mit dem ersten Zug fort und nach Haus. Wie ich aber von meinem Stuhl in die Versenkung der Kammer hinunterkam, schnarchte der Schneider immer noch und hatte dabei sein schlechtes Gebiß so aufgesperrt unter der knopfrunden Nase, daß ich mein Skizzenbuch herausholte und ihn mit aller Zeichenkunst aufzeichnete, die ich damals noch brauchte. Er mag es noch heute haben, mein kurioses Gastgeschenk; denn als ich ihn damit weckte, verwunderte er sich eine schwäbische Waschschüssel voll. Ich aber hatte mit dem Erfolg genug von meiner Gesellenzeit, bat ihn, mir unten aufzuschließen, und klapperte in der Frühe an den Bahnhof hin.
Ich hatte zwar am Abend den Rest von meinem Geld nicht nachgezählt, doch mußte es für jeden Fall zur Heimfahrt reichen. Wie ich mir aber schon barschaftsfroh ein Billett auf den Frühzug nach Bern gefordert hatte und aus den Nickeln die Silberlinge suchte, die ich mir tags vorher in Romanshorn noch für ein bayerisches Goldstück gewechselt hatte, wars nicht anders, als ob nur noch ein Fränkli für die Nickel als Wache übriggeblieben wäre; die andern waren unterwegs und hatten mirs Grüßgott vergessen. Nun half mir alles Gefluch auf den heimtückischen Schwabenschneider nichts, der natürlich dem einträglichen Zufall unserer Reisebekanntschaft ein bißchen nachgeholfen hatte; denn die Haustür, wenn ich sie fand, war zu; und wenn sie offen gewesen wäre, wer hätte mir den Schwindel geglaubt? Ich saß also zum Schluß der Heimfahrt doch wieder in dem Zustand da, den ich diesmal lieber vermieden hätte; ich ließ das fast erworbene Billett wehmütig fahren und ging vor eine der sauber geschriebenen Tabellen, an den Ziffern meine Barschaft prüfend: sie reichte nur bis Baden. Außer dem spitzbübischen Schwaben hatte ich in Zürich keine Bekanntschaft und sonst fiel mir auch kein Ausweg ein: Diesmal zählte ich am Schalter erst meinen Franken mit den Nickeln hin, bevor ich mir bescheiden mein Billett nach Baden forderte; mit der verbissenen Absicht, mich damit bis Bern zu schmuggeln, wie ichs aus Sonntagsfahrten in Bayern kannte.
So schlief ich denn im Zug gleich ein, nachdem der Schaffner dagewesen war, hatte den Künstlerschlapphut übers Gesicht gezogen und wartete in meine Ecke gedrückt nach einer halben Stunde in Baden ab, was sich begeben würde. Aber der Schaffner war ein Landsmann, der sich bei mir noch einen Dank besonders verdienen wollte, als er mich wachrüttelte und gerade noch rechtzeitig vor der Abfahrt auf den Perron hinausbeförderte. Wie ich dastand im lustigen Sommermorgenwind zu Baden in der Schweiz und die Wagen neben mir schon wieder ins Laufen kamen, doch ich war in keinem drin – es war Platz genug, ob ich mitfuhr oder nicht – kam es von selber, daß ich gerade noch am letzten Wagen die Stange erwischte und mit einem Sprung hineinkam. Leider aber hatte mich der wachsame Schaffner noch erblickt, und war er in Baden mein brüderlicher Landsmann gewesen, so wurde er in Turgi die Handhabe der erzürnten Obrigkeit. Ich hatte gedacht, zum mindesten noch bis Olten zu kommen; aber wie solche Schnellzüge in der Schweiz sind, da hielten wir schon wieder für irgendeinen Anschluß in Turgi und ich, der ich doch im richtigen Zug gewesen war, mußte ihn fahren lassen.
Es ist keine üble Landschaft um Turgi, wo die Reuß und die Limmath mit der Aare ineinanderfließen und so ziemlich das ganze Seewasser der deutschen Schweiz zusammenläuft, während hinten die alte Habsburg ihren dicken Zeigefinger hebt. Es half mir auch nichts, daß sie mich an den Rudolf von Habsburg erinnerte, der in der Schweiz bis auf die kümmerliche Ruine heruntergekommen war und den die Deutschen doch zu ihrem Kaiser machten. Es war ein richtiger Sommermorgen, wo die weißen Frühwolken von selber auf der dicken Wärme schwammen, und es wäre nicht einmal so übel gewesen, jetzt von der lockenden Ruine am blauen Horizont Besitz zu nehmen und auf einen abenteuerlichen Umschwung zu warten; aber ich wollte nach Bern und stand noch immer auf dem kleinen sauberen Bahnhof von Turgi, wo mich der rot bemühte Vorsteher von der Seite musterte, als er sein Signalgestänge zurechtgekurbelt hatte und sanft schwitzend dem Zug nachsah. Er mochte meinen, daß ich den Anschluß nach Waldshut abwarten wollte, um so mehr, als ich danach durch meine Brille die Fahrpläne eifrig musterte.
Als nach einer halben Stunde aber das Zügli von Waldshut angekommen und nach reichlichem Aufenthalt mit verkehrter Lokomotive wieder abgedampft war, als schließlich auch der Frühzug nach Zürich mit kurzer Haltezeit durchfuhr und ich noch immer meine einsamen Gänge, von der Pumpe in den Schatten der Kastanie, in den Wartesaal und durch das Vorgärtchen machte: schien ich ihm wohl verdächtig; er hatte auf einmal allerhand mit rasselnden Schlüsseln zu verschließen, bis ich mich verdrießlich in das Örtchen wandte. Es war so sauber wie der Bahnhof und hatte ein Gasthaus, in dem ich gern gefrühstückt hätte, weil mir der leere Magen zu schaffen machte. Doch fand ich auch da den Stein der Weisen nicht, soviel ich grübelte, ging weiter hinaus und legte mich seitab vom staubigen Weg in den Schatten von einem Apfelbaum, der leider noch keine Herbstfrüchte trug, bis in den Mittag verkatert und verdrossen auf das Glück zu warten. Ich konnte von dem Platz aus die Bahnstrecke sehen, wo hinter Bäumen und einer grünen Hecke die Reisenden in den Zügen an mir vorüberfuhren, wie ich noch gestern mit dem Schwaben und dem andern aus dem Glarnerland an den Heuern und Häusern vorbeigefahren war.
Ich wollte schließlich noch einen Versuch machen, ohne Billett einzusteigen; wenn ich auch jedesmal an der nächsten Station hinausgetan wurde, mußte ich mit Geduld doch einmal nach Bern kommen. Wie ich an den Bahnhof kam, hatte der Bahnhofsvorsteher gerade seinen Hühnerstall nach Eiern abgesucht und kam mit beiden Händen voll daher. Er war ein schwarzer Tessiner mit einem sanften Schnurrbart und sah wie ein gutgepflegter Kater aus. Ich ging schon wieder nach der Pumpe, weil dahinter der Schatten von der Kastanie war; das mochte ihm zu dumm erscheinen, er kam mir nach und fragte, beide Hände voll von Eiern und die rote Kappe wie einen Fes im Nacken: was ich da wollte? Wasser trinken, sagte ich und wollte mich ans Pumpen geben; er aber ließ nicht locker und hatte bald das Sinnbild und die blöde Wirklichkeit heraus, daß ich mit einem Zug abfahren möchte, wo kein Schaffner nach den Billetten sah. Wie ich ihm meine Lage erklären wollte und die Geschichte mit dem Schneiderschwaben erzählte, merkte ich erst selber, wie dumm sie war und daß sie keiner glauben würde.
Dieser Tessiner beispielsweise glaubte sie nicht; er ließ die Eier fast aus den Händen fallen vor Gelächter. Als er mir aber höhnisch kommen und mich wie einen Landstreicher von dem Bahnhof verweisen wollte, packte ich mit einem Einfall meinen Paß aus und hielt ihm den hin. Er konnte ihn nicht in die Hand nehmen, weil ihn die Eier hinderten, sah nur hinein und las; dann wars, wie wenn über der Strenge seines vorsteherlichen Gesichtes ruckweise die Sonne menschlicher Güte aufginge. Er trug die Eier eifrig in seine Stube, wo die Apparate tickten, kam wieder vor und war für meine Dinge auf einmal von einer Gläubigkeit, die mich erstaunte. Erst dachte ich, es könnte ein entfernter Verwandter, irgendwie ein vergessener Stauffer sein, der seinen Namen auf meinem Paß gelesen hätte. Er stellte sich aber richtig vor und hatte einen Thurgauer, keinen Tessiner Namen. Wohl aber war er wie ich ein Pfarrersohn und zwar auch darin mir gleich, daß er nach einem vergeblichen Gymnasium sich auf ein Nebengeleise der Bildung gerettet hatte. Er war aus der Erinnerung ähnlicher Leiden gerührt und besorgt wie ein Bruder um mich; brachte mich schließlich, weil noch kein Zug nach Olten kam, hinauf zu seiner Frau, die recht eine blonde Ostschweizerin war. Sie mußte mir den Rest von seiner Mahlzeit wärmen, es gab sogar einen Halben Most, und meinetwegen hätten unterdessen zwei Dutzend Züge nach Bern abfahren können, so hungrig war ich. Nur, als er mir nachher noch ein Billett vorschießen wollte, kam es heraus, wie viel er selber in solchen Quetschen gewesen und wie mancher Schneiderschwab ihm über den Weg gelaufen sein mußte; denn er verlangte auf einmal ein Pfand: da die Uhr anscheinend schon im Pfandhaus zu München geblieben wäre, wollte er sich mit der Weste zufrieden geben, wo zum wenigsten noch die Tasche dafür säße, zumal sie bei der Hitze für mich entbehrlich wäre.
Als er die Weste hatte, die seine Frau sauber gefaltet in die Kommode legen mußte, war die Freundschaft wieder ganz in Ordnung und blieb auch so, bis ich von ihm und der blonden Frau, selbst von den Kindern – es schienen ihrer viele zu sein – wie ein Vetter herzlichen Abschied nahm und mit einem Billett bis Bern in der Tasche meines zugeknöpften Rockes nach soviel Mißgeschick doch noch fröhlich aus Turgi fuhr. Ich kam auch richtig mit dem blassen Abend nach Bern, nur nach Flamatt nicht mehr, und mußte in der Dunkelheit die drei Wegstunden nach Neuenegg laufen, bis Flamatt übers Bümplitzer Feld und dann ins Sensetal. So kam ich doch nicht, wie ich gedacht hatte, als Sieger am hellen Tag nach Haus, sondern tief in der Nacht nach einem schwülen Marsch, weil die Luft tagsüber gewitterhaft und dick geworden war.
Ich mußte ein paarmal am dunklen Pfarrhaus klopfen, das noch immer wie ein Schlößchen an dem Hügel stand, wie wenn ich gar nicht weggewesen wäre; nur auf dem Kirchhof schien mir ein neues Kreuz zu leuchten. Als endlich oben die Mutter ihren Kopf vorstreckte, die mich seit gestern erwartend nicht geschlafen hatte, und dann nach einer Weile der Vater die Haustür öffnete, war ich nach meiner ersten Ausfahrt wieder zu Hause, wenn auch ein bißchen wie ein läufig gewesener Hund; und nichts war drastischer für meine Lage, als daß der Vater, der sich doch freute, daß es mit mir soweit noch gut gegangen war, und der die Mutter vor Freude weinen sah, weil sie nun ihren Ältesten wieder hatte, den Mund zu keinem Wort auftat, bis er mich endlich – ich war schon längst bei einem verspäteten Abendbrot – strafend fragte, nachdem er mich mit väterlicher Sorgfalt gemustert und meinen Mangel längst entdeckt hatte: wo hast du deine Weste?