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Der »Seehund« am Elbstrand
Meister Wöllers hatte die Kämpfe mit den Hafenpiraten satt und entfloh mit dem »Seehund« nach den friedlichen Gestaden von Neumühlen, wo es für Takel-Jan nichts zu holen gab, und ein Schiffer wenigstens ruhig schlafen konnte, ohne befürchten zu müssen, daß ihm sein Fahrzeug des Nachts über dem Kopfe abgetakelt werde.
Der Meister wälzte sich in unendlichem Behagen und einem nie gekannten Gefühle der Freiheit auf dem Deck seines Fahrzeuges und blickte über die weite Wasserfläche, indem er seine Mahlzeiten genoß, wobei er die Romane von Kapitän Marryat Kapitän Marryat, englischer Romanschriftsteller, 1792–1848, schrieb namentlich Seeromane, die gerne gelesen wurden. las und dadurch mehr und mehr zu dem Entschlusse kam, in See zu gehen. Die Elbe wurde dem Waghals zu klein. Er verlangte mehr »Segelraum«.
Als er über die Reise nachdachte, die er machen wollte, fiel es ihm eines Tages plötzlich ein, daß er jedenfalls mit Fischereigeräten versehen sein müsse. Er kaufte sofort alle möglichen Angelgerätschaften und ein Büttnetz, das er jeden Tag mit Krischaan aufstellte, so daß dieser junge Mann ein ebenso guter Fischer wie Seefahrer zu werden versprach. Es war dann ein besonderes Vergnügen, die gefangenen Fische zu putzen und zu braten und sein eigener Wirt und Gast zu sein. Dabei studierte Wöllers eifrig die Nordseekarte und konnte nicht mit sich einig werden, ob er direkt nach London oder nach Paris gehen solle. Außerdem machte ihm auch noch ein alter Sextant, den er eines Tages auf der Judenbörse Judenbörse. Die zweite Elbstraße wird so benannt, weil hier Israeliten auf Karren Waren feilzubieten pflegen. entdeckte, das Leben sauer, denn es fehlten einige notwendige Gläser daran, weshalb Wöllers vergeblich guckte, drehte und schob, um die »Höhe« zu finden, wenn die Sonne kulminierte.
Während sich der Meister in Neumühlen des Lebens freute und in ungebundener Freiheit schwärmte, schmiedete die Meisterin Pläne gegen dies kostbare Gut, und Takel-Jan suchte mit seinen Spießgesellen alle Winkel des Hafens ab, um das Versteck des »Seehund« zu entdecken. Nach vielen vergeblichen Bemühungen erfuhr er endlich, daß das Schiff bei Neumühlen liege. Er rekognoszierte sofort die Gegend ab und kreuzte dort mit unheilvollen Plänen umher.
Wöllers kehrte eines Abends mit dem Boot von der anderen Seite zurück, wo er mit einigen Freunden in den Riedbrüchen nach Enten gejagt hatte. Als er an den Kutter kam, teilte ihm Krischaan, der mit einem Pistol bewaffnet in der Luke saß, mit, daß er Takel-Jan in den Weidenbüschen habe umherschleichen sehen. Der Meister erklärte seinen Bekannten, wer dies sei und tat den Schwur, ihm die Beine voll Schrot zu schießen, sobald er nur den Kutter anrühre. Ein Bekannter machte ihn jedoch aufmerksam, daß ein solcher Schuß in der Nähe tödlich werden könne, und schlug vor, die Schrote aus der Flinte zu ziehen, und Salz dafür hineinzuladen, was auch eine recht hübsche Wirkung habe, während es zugleich den Schaden wieder heile, den es angerichtet. Die Sache wurde ausgeführt und die ganze Gesellschaft begab sich nebst Krischaan lärmend an den Strand und zu Lüddemann ins Wirtshaus, um Takel-Jan, der sie jedenfalls beobachtete, sicher zu machen. Von Lüddemanns Garten aus schlich man sich dann einzeln in die Weidenbüsche, woselbst man sich, den Kutter im Auge, auf die Lauer legte.
Wöllers befand sich etwa zwanzig Schritte vom »Seehund«, der, anscheinend ganz verlassen, nach dem Strome zu geneigt, auf dem Sande lag. Es begann eben zu dunkeln, als er bemerkte, daß ein Boot langsam dahertrieb, in dem niemand zu sehen war. Kurz vor dem Kutter blieb es am Strande sitzen, worauf eine Figur auf allen vieren heraus- und am Boden hinkroch, bis sie den »Seehund« erreichte. Hier richtete sie sich, an der dunklen Schiffsseite fast unsichtbar, auf und sah vorsichtig über Bord; dann bückte sie sich wieder und tastete am Bauche des Fahrzeuges umher. Da es um die hohe Sommerszeit in dieser Gegend nie ganz dunkel wird, so konnte Wöllers, der Takel-Jan schon lange erkannt hatte, genau jede seiner Bewegungen erkennen. So sah er denn auch, daß der alte Spitzbube jetzt einen großen Bohrer aufhob, um dem »Seehund« ein Loch in den Bauch zu bohren. Das war doch zu toll, und da sich Takel-Jan eben recht einladend bückte, um den Bohrer anzusetzen, und dabei die Hose auf seinem Stern sehr straffzog, so richtete Wöllers seine Flinte nach diesem Ziel und knallte los. Auf den Schuß wurde es in den Weidenbüschen lebendig, denn die dort Versteckten kamen mit einem Hurra hervor. Vom Strande aus liefen einige Grenzjäger herbei, während sich Takel-Jan mit einem Schrei nach achter griff und von seinen Freunden, die plötzlich aus dem Boot auftauchten, hineingezogen wurde, worauf es eiligst verschwand. Man lachte über die »Einpökelung« Takel-Jans, und Wöllers glaubte nun Ruhe vor ihm zu haben und legte sich, da die Grenzjäger aufzupassen versprachen, nebst Krischaan schlafen.
Am nächsten Vormittag saß Wöllers auf dem Verdeck und machte eine Angelschnur zurecht. Da kam mit eiligen Schritten Gevatter Schünnemann auf dem Strande daher und brachte die Nachricht, daß der Meister wegen des Schusses auf den Strolch von der Hafenrunde gesucht würde, von der Schünnemann einen Wink erhielt. Daß die Meisterin mit darunter steckte, war ausgemacht, denn Schünnemann hatte sie bei den Beamten gesehen, worauf einer mit ihr nach Altona gefahren war, jedenfalls, um die dortige Polizei zur Aushebung des Kapitäns am Neumühlener Ufer aufzufordern. Da die Sachen so standen, riet ihm der Gevatter, einen Kreuzzug zu unternehmen und sich dabei möglichst drüben am hannoverschen Ufer zu halten. Wöllers dankte für die Nachricht und sprach die Absicht aus, lieber gleich eine Tour an der holländischen Küste hin nach Havre de Grace und Paris zu machen. Er gab Schünnemann deshalb für seine Abwesenheit einige schriftliche Geschäftsanweisungen, trank eine Flasche Wein mit ihm, nahm Abschied und ging bei einem gelinden Ostwinde sofort elbabwärts unter Segel. Schünnemann stand am Ufer und sah dem »Seehund« nach, bis er wie ein kleines Boot erschien und hinter Övelgönne Övelgönne und Neumühlen, zu Reinhardts Zeit noch zwei getrennte Ortschaften, die später in Altona eingemeindet wurden. verschwand. Dann schüttelte er mit dem Kopf und sagte: »Ein verfluchter Kerl! Wenn das nur gut abläuft!« worauf er langsam am Strande nach Hamburg zu ging.
Der Kutter lief ein paar Stunden mit der Ebbe hinab und war etwa bis Schulau gekommen, als die Flut eintrat. Da der Wind nun zwar abwärts stand, jedoch schwach war, und der Kutter nicht gern gegen das Wasser ging, so kam man nur sehr langsam vorwärts und war gegen Dunkelwerden erst in der Gegend von Twielenfleth bei Stade, wo die Ebbe wieder begann. Weil es indes Nacht geworden, wollte Wöllers nicht mehr weiter segeln und gab Befehl, den Anker fallen zu lassen. Krischaan machte denn auch ein großes »Endchen« Kette klar und warf den Anker los, worauf die Kette aus dem Klüsenloch rasselte. Als sie jedoch abgelaufen war, bemerkte man, daß der Kutter weitertrieb und der Anker keinen Grund faßte. Krischaan meinte, daß die Elbe hier fürchterlich tief sein müsse und ließ die ganze Kette, etwa fünfundzwanzig Faden, auslaufen. Der »Seehund« trieb jedoch ruhig weiter, und Wöllers kam auf die Vermutung, daß der Anker losgegangen sei und die Kette auf dem Grunde nachschleppe, was man auch deutlich hörte, da es sehr ruhig war.
Es ist kaum zu glauben, welche Mutlosigkeit der Verlust des Ankers mit sich bringt, da man dann völlig in der Gewalt der Strömung ist. Wöllers blickte ratlos um sich und wußte nicht, was er tun sollte. Den Kutter mit dem Boote nach dem Ufer zu bugsieren, war nicht rätlich, da diese Stromgegend mit einer Menge kleiner Inseln besät ist und man leicht an eine solche getrieben werden konnte, und im Strome weitertreiben, war gefährlich, weil man dann hinüber in das Fahrwasser der Dampfschiffe kommen und von einem solchen in der Nacht in den Grund gerannt werden konnte. Der Meister war in Verzweiflung und dachte, ob es nicht geraten sei, den Krischaan an die Kette zu binden und als Anker auszuwerfen; denn da Ertrinkende sich an alles klammern, so würde er wohl auf dem Grunde etwas packen und den Kutter so festhalten. Dieser kannibalische Einfall brachte den Meister jedoch auf die Idee, die Kette wieder einzuholen, und er zog sie mit Krischaan an Bord. Als das Ende kam, fand man Widerstand; man sah nach, und der Anker war wieder da. Er hatte es nämlich vorgezogen, diesmal oben zu bleiben, indem er mit seiner eisernen Querstange am Wasserstag des Klüverbaumes festhing. Wöllers atmete auf, als er dies bemerkte, und der Anker wurde zum zweiten Male und mit besserem Erfolge ausgeworfen, worauf der »Seehund« umschwenkte und liegenblieb.
Als der Morgen heraufstieg, hatte sich der Ostwind wieder erhoben; man steuerte bei Glückstadt vorbei. Von hier aus wurde die Elbe breiter, worüber sich Wöllers freute, da es nun nicht an Segelraum gebrach. Gegen Mittag sah man den Leuchtturm von Cuxhaven, und der Meister gab Befehl nach der Vorderkajüte, einen Punsch zu brauen, um die See damit zu begrüßen. Krischaan, der in seinem Leben das Meer noch nicht gesehen hatte und eben mit dem Mittagessen beschäftigt war, kam auf Deck und wunderte sich, rundum nichts als Wasser zu sehen, während sich nur zur linken Hand ein Landstreifen hinzog. Da das Wasser sehr ruhig war und die Sonne schien, so freute er sich über den schönen Anblick, besonders über das helle, klare Wasser, das ganz anders aussah, als oben bei Hamburg. Er holte einen Eimer voll heraus und ging dann wieder an seine Küchengeschäfte, um den Punsch rechtzeitig fertig zu haben. Jeden Augenblick tauchte er jedoch aus der Luke empor, um sich umzusehen. Besonders wunderte er sich über die großen Dreimaster, die hier auf der Reede lagen und wogegen die in Hamburg so winzig klein aussahen. Kapitän Wöllers wäre gern in Cuxhaven eingelaufen. Da er jedoch nicht wußte, ob man etwa wegen Takel-Jan hierher telegraphiert hatte (denn seiner Frau war alles zuzutrauen) und er den guten Wind benutzen wollte, so segelte er flott vorbei. Auf dem Bollwerk der »Alten Liebe« standen mehrere Lotsen und Beamte, die sich über den Kutter besprachen und ihre Fernrohre darauf gerichtet hatten. Wöllers winkte mit dem Hute und segelte weiter, bis er bei der Kugelbake seinen Kurs änderte und in die Watten einlief, denn er fand es doch zu gewagt, die offene See zu halten, und zog es vor, an der Küste hinzusegeln.
Am nächsten Tage las man in den Schiffsanzeigen: »In See gegangen: Lustkutter ›Seehund‹. Kapitän unbekannt.« Worüber Madame Wöllers in Ohnmacht fiel.
Als der »Seehund« so lustig dahin lief, ließ Kapitän Wöllers von Krischaan ein paar große Gläser Punsch nach dem Steuer bringen, um den ersehnten Augenblick des »In-See-Gehens« würdig zu feiern. Er stieß mit seinem Schiffsjungen auf eine glückliche Reise an, und beide tranken ihre Gläser aus. Kaum hatte jedoch Wöllers das seinige halb hinter, so spuckte er alles wieder aus und zog ein fürchterliches Gesicht, während Krischaan gleichfalls mit stieren Augen das Glas ansah und sich den Bauch hielt. »Wat hest du Mordshalunk dor for a Giftkrom mokt?« schrie der Kapitän seinen Koch an. »Sallst du mi villicht for mien Froo doodmoken? Wat is in dat Tüügs?« Krischaan wußte nicht, woher der verteufelte Geschmack kam. Er hatte doch von dem schönen klaren Wasser genommen, das er vorher heraufgezogen! Als er dies dem Meister sagte, schrie dieser halb ärgerlich, halb lachend: »Na, nu slog eener Rad! Kokt de Esel Punsch ut Seewoter!«
Das Wetter blieb den ganzen Tag über wunderschön, und der Kutter lief mit allen Segeln, die er hatte, vor dem Winde. An der Weser angekommen, mußte Wöllers zu seiner größten Freude nur nach dem Kompaß steuern, da das Land außer Sicht kam. Hier lag eine ganz kleine Fischerflotte, zwischen der er durchlief, und wo man ihm von allen Seiten zurief und nach der Gegend zeigte, von welcher er kam. Wöllers verstand die Leute indes nicht und glaubte, er würde etwa verfolgt, da er ein Segel hinter sich entdeckte. Der Wind blies währenddessen stärker, und der »Seehund« schoß dahin, als sei er lebendig geworden. Da das Wasser dabei etwas wogte, so sah sich Krischaan bedenklich um, und es wollte dem Meister vorkommen, als würde er bei wachsendem Seegange nicht ganz auf seine Mannschaft rechnen können.
Madame Wöllers war wirklich in Ohnmacht gefallen, denn es leuchtete ihr ein, daß Wöllers durchgebrannt und ihr aus den Händen gekommen, oder, wie sich der Kaufmann in Geschäftsbriefen auszudrücken pflegt, ihr durch die Nase gegangen war. Dafür hatte sie freilich Takel-Jan mit seinen Freunden gewonnen, die ihr das Leben mit den Bulletins über das Befinden des »Erschossenen« sauer machten, ihr durch schreckliche Beschreibung seiner Wunden und Aufzählung der Arzneimittel eine Menge Geld abpreßten, das sie mit dem »Eingepökelten« dann lustig verzehrten und dabei den »Seehund« hochleben ließen.
Trotz aller Drachennatur hatte die Meisterin aber doch eine Falte im Herzen, zwischen der die Liebe zu ihrem Manne versteckt lag; denn als acht, vierzehn Tage vergingen, ohne Nachricht von Wöllers zu bringen, schmolz die Pantoffelrinde vom Herzen, und es flossen bittere Tränen um den Hinweggetriebenen.
Bei den Bekannten, die die Sache besser zu würdigen wußten, hatten sich ernstliche Besorgnisse wegen Wöllers eingestellt. Leute vom Fach nannten es geradezu eine Tollheit, sich mit so wenig Kenntnissen und dem armen Teufel von Lehrjungen in dem »Seehund«, der wegen seiner Mucken verrufen war, aus der Elbe zu wagen. Man erkundigte sich bei allen Elb- und Weserlotsen und bei den Helgoländern nach dem Kutter. Es wußte jedoch niemand etwas von ihm, und die letzte Spur hörte bei der Weser auf, wo ihn die Fischer gesehen und vor dem Sturm gewarnt, den sie erwarteten und der kurz darauf eintrat. Man schrieb nach mehreren holländischen Hafenplätzen, nach Havre und sogar nach Paris. Alles umsonst. Es waren nach drei Wochen noch keine Nachrichten da, Kutter und Mannschaft spurlos verschwunden.