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siehe Bildunterschrift

Der Turm von Neuwerk

Dreiunddreißigstes Kapitel
Sturmflut

Die Leute, deren Geschäfte mit der Elbe in Verbindung standen – und bei wem wäre dies in Hamburg und Umgegend nicht der Fall? –, sahen mit höchster Ungeduld auf den Strom, der durch Januar und Februar unbeweglich unter seinem Eispanzer blieb. Er hob und senkte zwar seine Decke in den langen Atemzügen der Ebbe und Flut wie ein schwer schlafender Riese, mochte das Volk an seinem Ufer auch den Tag über noch so sehr auf seinem Rücken herumtrampeln und -fahren, er schlief aber fort und hielt den Handel durch seinen Schlaf gefangen.

Das Eis hielt er hartnäckig fest, und die eingefrorenen Schiffer waren nahe daran, sich selbst aufzuzehren. Sie blickten verzweifelt nach unten und seufzten nach einem guten Südwester, der Tauwetter mitbrächte. Endlich kam er über Spanien daher und jagte zuerst den Schnee davon, indem er ihn schmolz. Dann machte er die Eisdecke so mürbe, daß die verwegensten Grogschenken ihre Kessel zusammenpackten und das Ufer suchten, wohin die Zelte schon gebracht waren.

Plötzlich kam das Gerücht, bei Blankenese sei ein englischer Dampfer, der seinen Weg von Glückstadt herauf erzwungen habe und noch heute an die Stadt kommen wolle. Alles lief und drängte sich auf die Landungsbrücken und streckte die Hälse, um nach Altona hinab und um die Ecke zu blicken, obgleich es nicht möglich war. Es war, als käme zum ersten Male ein Schiff herauf, solange die Elbe bestände. Man brachte Nachrichten. Man bezweifelte und glaubte endlich Rauch hinter Altona zu sehen. Die Neugierigsten liefen hinab nach dem Fischmarkt und weiter, um das Ereignis aus erster Hand zu haben.

Endlich stieg eine schwarze Rauchsäule hinter den Häusern und Schiffen Altonas empor. Es mußte entweder brennen oder der Dampfer war wirklich da.

Da kam der schwarze Koloß denn um die Ecke und zerstampfte mit seinen schweren Rädern das mürbe Eis. Ein allgemeines Hurra empfing ihn. Er bahnte sich und anderen den Weg von und nach der See. Der Zauber des Winters war gebrochen.

Wenn die kleinen Lotsenhäuser in Neumühlen im Sommer das Bild netter Gemütlichkeit boten, so konnte man sie im Winter die Stätten gemütlicher Ruhe und Behaglichkeit nennen. Wein und junge Obstbäume waren sorglich in Stroh gepackt, die Fenster gegen den Winter verwahrt und der Kälte jeder Eingang verwehrt. In dem braungeteerten Schuppen lagerten ausreichende Vorräte von Torf und Kohlen für den Ofen und in den Kellern Besseres für den Magen. Ein Haus aber, das sich noch kürzlich vor allen schmuck hervortat, sah jetzt traurig aus. Es war das des Lotsen Nielsen, in dem der Zollwächter Jörs sein Wesen trieb.

Für diesen boshaften Trunkenbold war der Winter eine schlimme Zeit. Trocknete die Hitze des Sommers seine Gurgel aus und zwang ihn zum Trinken, so mußte er im Winter einen Schluck mehr nehmen, um einzuheizen. Da aber um diese Zeit die Sommergäste fehlten und sich die Eingeborenen, trotz der größten Wachsamkeit, nicht mit den unverzollten Viktualien erwischen ließen, so schlich Jörs aus Mangel an Spiritus wie ein erfrorenes Gespenst umher, dessen Nase als ein blaues, verlöschendes Flämmchen erschien.

Die karge Löhnung reichte nicht aus, um bei Lüddemann nach Lust und Bedarf bezahlten Grog und Rum zu trinken, wenn noch andere Bedürfnisse davon bestritten werden sollten. Es galt deshalb, diese zu vermindern oder sich Nebeneinkünfte zu verschaffen.

Die Verstecke waren unzureichend, weil die Weidenbüsche und Bäume kahl geworden, und zwischen den Eisschollen am Strande war das Herumliegen ohne innerliche Spiritusheizung nicht ausführbar und nützte zu nichts. Die schwache Hoffnung, die Jörs im Anfang auf einen Fang an der Villa Eiskuhl und beim Stubbornschen Landhaus setzte, die beide er deshalb zum Objekt seiner Beobachtungen machte, ging auch nicht in Erfüllung, denn diese Gebäude schienen für eine lange Belagerung verproviantiert. Es blieb nur wiederum Lüddemann der einzige rinnende Quell, der aber leider nicht umsonst rann.

Jörs schöpfte im Anfang des Winters nur spärlich aus dieser Quelle. Er hatte ein eigentümliches Manöver erdacht, um den Durst nicht aus seiner Tasche zu löschen. Er vertrank Nielsens Haus im einzelnen und versuchte dabei Lüddemann des Schmuggels zu überführen, indem er insgeheim jedes Glas anschrieb, das er selbst dort trank und trinken sah, wobei er das ausgeschenkte Quantum mit dem versteuerten in den Zollbüchern verglich. Ein Neumühlener ist aber immer so pfiffig wie zwei Zollbeamte, und Lüddemann, der seinem Gast die Spekulation sofort an den Augen ablas, strafte ihn dafür durch Freigebigkeit mit heißem Wasser und notierte den Ausschank bei seiner Anwesenheit ebenso genau, um die Bilanz im Zollbuch in der Schwebe zu halten.

Der Zollwächter, dem Stubborn das Haus des Lotsen zu beliebiger Benutzung überlassen, versuchte dies einigemal zu verkaufen, weil Nielsen mit dem Schiff verschwunden und kein Erbe da war. Da ihm jedoch alle Besitzdokumente mangelten, so ging niemand auf einen Handel mit ihm ein; der Durst brachte ihn endlich auf die Idee, das Gebäude einzeln zu verwerten. Vor der Hand benutzte er, vom Zaun angefangen, alles Holzwerk zur Heizung. Schuppen, Türen, Fensterladen und Dachböden spazierten in den Ofen, Bäume und Sträucher gleichfalls und zum Frühjahr dachte er den Ofen, Fenster und Dachziegel und zuletzt die Steine der Mauer und das Eisenwerk einzeln zu verkaufen. Das Haus bot im Innern ein Bild der Verwüstung, denn die Möbel waren bereits bei Nacht zum Trödler in Altona gewandert oder verbrannt und die Stubenböden teilweise aufgerissen.

Eines Abends, in der Zeit des letzten Treibeises, war Jörs wieder beschäftigt, die Dielen des Wohnzimmers aufzubrechen, um sie dann kleinzuhacken und als Brennholz zu verwenden. Er fror und war in sehr übler Laune, daß er mit Holz einheizen mußte. Die Dielen waren nach Art der Deckplanken aufgenagelt, das Abreißen erforderte deshalb viel Anstrengung. Es war ihm gelungen, zwei sehr hartnäckige Dielen loszusprengen, wobei er schreckliche Flüche und Verwünschungen auf den Baumeister ausrief. Wie er die dritte Diele anpackte, hob sich diese zu seiner Verwunderung sehr leicht, und unter ihr lagen einige Blechdosen, wie man sie auf den Schiffen für Fleisch und Gemüse führt. Jörs stürzte sich darauf und hob sie auf. Er setzte sie mit zitternden Händen auf den Tisch und band die Schnüre los, womit die Deckel festgehalten wurden. Der Inhalt rechtfertigte die ungeheure Schwere. Er sah Gold- und Silberstücke blinken, in denen seine gierigen Finger wühlten. Aber er sah nicht Gold. Die Augen, die ihm weit aus dem Kopfe traten, sahen das Gold flüssig, in Rum und Portwein verwandelt. Er hatte in Nielsens Haus einen Brunnen für seinen Durst vermutet und ihn jetzt entdeckt. Es war die Kasse des Lotsen, die dieser hier stets für alle Fälle verborgen und auch während seiner Abwesenheit für sicher hielt. Jörs wühlte und zählte. Es waren über tausend Taler, das Handelskapital des Lotsen für die Sommermonate.

Der Zollwächter betrachtete sich schon lange als den Erben seines Feindes, des untergegangenen Kapitäns der »Gebrüder« und sah jetzt in seiner Phantasie unendliche Flaschenreihen aus der Erbschaft erwachsen. Er war niemals in seinem Leben auch nur im Besitz ganzer fünfzig Taler gewesen und hielt die gefundene Summe deshalb für unerschöpflich. Nachdem er sie wiederholt überzählt und durch die Hände hatte laufen lassen, beschloß er sogleich Gebrauch davon zu machen und nach Altona zu gehen, um etwas recht Gutes und Starkes zu trinken. Er steckte zu diesem Zweck zehn Taler ein und wollte gehen, als er von dem Gedanken erfaßt wurde, wohin er sein Geld während seiner Abwesenheit in Sicherheit bringen wolle.

Da fiel es plötzlich wie ein Heer böser Geister über ihn. Er blickte erschrocken nach den Fenstern, von denen die Laden verbrannt waren, so daß jedermann von außen hereinblicken konnte. Die Haare sträubten sich auf seinem Kopfe noch mehr als sonst, wenn er bedachte, daß ihn jemand in dem Gelde hätte wühlen sehen und ihn in seiner Abwesenheit darum bestehlen könnte. Er blies die Lampe aus und ergriff seinen Säbel, mit dem er vor die Tür stürzte, um einen etwaigen Zeugen seiner Erbschaft zu überfallen. Er würde einen solchen wahrscheinlich umgebracht haben, um sicher zu sein. Da er niemand sah, so blieb er lauschend stehen, wurde jedoch plötzlich von der Furcht erfaßt, daß sich ein Lauscher indes zur Hintertür hineinschleichen und seinen Schatz stehlen könne. Er sprang deshalb schnell in die Stube und tastete im Finstern nach den Blechbüchsen, die er jetzt in seinem Lager versteckte, worauf er die Lampe wieder anzündete und dann das ganze Haus durchsuchte, wobei er jeden Augenblick nach der Stube mit dem Schatz hinhorchte.

Hierauf verrammelte er die Hintertür und die rückwärtigen Fenster. Dann verstopfte er die Fenster seiner Schlafstube mit allem möglichen, was er dazu dienlich hielt und untersuchte sie dann von außen, ob man hindurch sehen könne, wonach er auch die Vordertür verschloß.

Nun erst sah er sich nach einem Platz um, wo er das Geld sicher niederlegen könne. Da aber kein anderes Möbel als das Bett übrig war, so mußte er es in diesem lassen und saß wie ein böser Geist darauf, indem er die Ohren nach jedem Geräusch spitzte.

Ein verwünschter Geist kann aber keine schlimmeren Qualen fühlen, als sie Jörs erlitt. Er wurde von der wahrhaften Tantalusqual des Durstes geplagt, zu dessen Löschung er sich nur nach dem nächsten Wirtshaus niederbeugen durfte, wovon ihn jedoch die Angst um das Geld zurückhielt.

Er saß lange unentschlossen auf seinem Schatz und überlegte, wo er ihn verbergen könne. Kein Ort kam ihm sicher genug vor. Er dachte daran, ihn im Garten zu vergraben, sah aber in Gedanken sofort einen Nachbar lauschen und die frisch aufgeworfene Erde betrachten und verwarf diesen Plan.

Endlich schlug er sich mit der Faust vor den Kopf und sagte: »Ich hab' es!« Er sprang vom Bett und wühlte in einem Koffer umher, aus dem er einen großen wollenen Strumpf brachte, wie man sie bis übers Knie in die Jagdstiefel zieht. Dann holte er Bindfaden und steckte nun sämtliches Geld in den Strumpf, wo er es in Papier verpackt, gleichmäßig verteilt, festband. Hierauf wurde der Strumpf zu- und um den Leib gebunden, wo er, eine angenehme Last, unter der Weste verborgen lag, und zwar so nahe und sicher, daß Jörs beinahe in ein Freudengeschrei ausgebrochen wäre.

Jetzt hielt ihn nichts mehr im öden Hause. Er lief mit der Last nach Altona, und erst tief in der Nacht ging er schwer geladen wieder hinaus, um den Strumpf an das Herz gedrückt zu schlafen und ihn dann wachend wieder um den Leib zu binden, in den er ihn nach und nach, flüssig gemacht, zu versetzen dachte. Er kümmerte sich dann um den Dienst und trug seine Last regelmäßig nach St. Pauli und zurück.

So ging der Winter vorbei, von dem ein anhaltender Südwestwind die letzten Spuren zu verjagen suchte.

Der Südwest setzte sich aber in West und Sturm um, der anhielt und von Stunde zu Stunde wuchs. Es begann zwischen den Tauen zu heulen und hell durch die Mastringe und Blöcke zu pfeifen. Der Sturm hielt viele Tage lang an und trieb deshalb unablässig große Wellenberge aus dem Ozean in den Kanal. Er jagte die Fluten vor sich her, während er die Ebben zurückstaute und endlich große Wassermassen in den Nordsee-Winkel gegen die Elbe und Weser trieb.

Zum Unheil für die Küsten kam noch Vollmond und die dabei eintretende hohe Flut dazu. Das Wasser stieg zu bedenklicher Höhe und die Wellenköpfe bäumten sich an den Deichen hinauf und begannen über diese in das Land zu schauen und ihren Schaum darüber zu spritzen. Die Bewohner der eingedeichten Länder hörten mit Zittern das Brausen und Donnern der Wellen und sahen einzelne weiße Schaumflocken über die Wälle aufspritzen, die ihr Eigentum gegen die Fluten schützten. In der Nacht lagen sie schlaflos und zagend und horchten auf das Heulen des Sturmes. Sie erbebten bei jedem neuen Stoß, den der Wind auf das Haus führte, und fürchteten die Rohrdächer fortgeweht zu sehen.

Kämpften die Bewohner der Marschen und Deichländer einzeln gegen den Strom, der ihre Ländereien in ausgebreitete Seen verwandelte, so wehrte sich die ganze Bevölkerung der niedrig liegenden Stadtteile von Hamburg auf einem kleinen Raum gegen die Sturmflut.

Sobald das Wasser die gewöhnliche Fluthöhe überstieg und der Telegraph einen noch höheren Stand von unten anzeigte, räumten die Kellerbewohner der Altstadt in den zunächst bedrohten Lagen aus. Man horchte ängstlich auf das dumpfe Dröhnen der Alarmschüsse und brachte in Sicherheit, was möglich war.

Vor den Kellerwohnungen an den Vorsetzen entwickelte sich ein bewegtes Bild. Dort befanden sich an der Häuserfront eine Reihe steinerner Pfeiler, in die Doppelfalze eingemeißelt waren und die von etwa drei zu drei Ellen standen.

In diese Doppelfalze wurden Bretter geschoben, die in jedem Hause schon für solche Fälle vorrätig waren. Zwischen diese Bretter stampfte man dann Lehm und errichtete so einen Damm gegen das Wasser, wenn es bis über das Niveau der Straße steigt. Wächst es jedoch über diese Schranke, die etwa vier Fuß in der Höhe mißt, so ist für die Keller alles verloren, und die Flut ergießt sich unaufhaltsam hinab und füllt sie aus. Wer dann nicht vorsorglich geräumt hat, der muß froh sein, sich selbst fortzubringen und das Leben zu retten. Die Keller müssen nach Abfluß des Wassers ausgeschöpft werden und bieten ein schauerliches Bild von schlammiger Nässe.

Haben sich aber auch die Kellerbewohner noch so tapfer gewehrt und dem Wasser jeden Zugang versperrt, so dringt dieses doch oft ganz unerwartet von hinten ein oder bohrt sich durch die Mauern und Fußböden und treibt die Menschen hinaus. Die niedrig gelegenen Straßen bilden Kanäle, in denen hochgestiefelte Männer das Amt des heiligen Christoph versahen und die Leute hinübertrugen, die das Wasser in ihrem Weg hemmte. Für die Unbeteiligten war diese Christopherei eine Quelle großer Unterhaltung, weil die Christophe allerhand Possen mit ihren Passagieren trieben, sich mitten im Wasser über die zu große Last beklagten und behaupteten, sie könnten nicht mehr weiter und müßten den Getragenen ins Wasser setzen, worauf dieser zappelte, bat oder drohte und schließlich fast jedesmal einen Extraschilling versprach, worauf Christoph wieder frische Kräfte erhielt und ihn trocken hinüberbrachte. Den größten Spaß für die Zuschauer und Christophe gab es aber, wenn eins jener schmucken Hamburger Dienstmädchen erschien, die stets einen kleinen Korb unter dem Arm trugen, über den ein prächtiges Tuch gedeckt war. Wurde solch ein hübsches Kind vom Wasser in Verlegenheit gebracht und sah sehnsüchtig nach dem andern Ufer, so kam gewiß ein junger Christoph und bot freundlich seine Dienste an. Was blieb dem Mädchen übrig? Ein Boot war nicht da und der Umweg um das Wasser gar zu groß. Sie fragte, was es koste, wenn man sich hinübertragen lasse. Der Christoph weist jede Idee an Bezahlung für eine Gefälligkeit einem so süßen Kind gegenüber entrüstet zurück und nimmt das Mädchen halb mit Gewalt auf den Arm, aber so zart und rücksichtsvoll, daß sie Vertrauen fassen muß. Er watet vorsichtig ins Wasser und schmunzelt stillvergnügt wie die ganze Nachbarschaft an den Türen und Fenstern. Plötzlich bleibt er stehen, wo es am tiefsten ist, und erklärt, daß er es doch nicht umsonst tun kann. Die Zeiten wären schlecht, übrigens müsse er auch darauf dringen, daß er gleich bezahlt werde, da ihm die Passagiere, einmal im Trockenen, öfter durchgegangen wären.

Das Mädchen holt den Geldbeutel hervor und sucht, unter steter Angst ins Wasser zu fallen, einen Schilling heraus, den sie dem Habgierigen hinhält. Dieser schüttelt mit dem Kopfe. Das Mädchen holt noch einen Schilling hervor. Wiederum Kopfschütteln. »Nun, wieviel soll es denn kosten?« fragt der Passagier ärgerlich. »Wenn ick't billig mok, een Seuten« (Süßen), meint der Christoph, den Mund spitzend. Unverschämt! Die ganze Nachbarschaft lacht. Das Mädchen verlangt augenblicklich abgesetzt zu werden, was der Christoph sogleich tun will. Da er aber bis an die Knie im Wasser steht, so klammert sich die hübsche Köchin krampfhaft fest und sieht den Unverschämten von der Seite an, wobei sie die Entdeckung macht, daß es ein ganz hübscher, sauberer Junge ist. Die schreckliche Wassersnot drängt, und sie entschließt sich endlich, um nur aufs trockene zu kommen, die Passage mit einem Kuß zu bezahlen, was unter dem Beifall der Zuschauer geschieht.

Der Sturm brauste fort und fort über die See und die Elbniederungen einher und wälzte schäumende Wassermassen gegen den Strand und die Deiche. Die Wellenberge stiegen und bäumten sich übereinander und rollten ungeheure Schaumkämme auf ihren Gipfeln, die der Sturm abriß und wie einen dicken Nebel vor sich hertrieb, bis er sie zur konsistenten Wassermasse ballte und damit donnernd und alles was er traf zertrümmernd wieder in die Fluten stürzte.

Mitten aus diesem brüllenden, donnernden und heulenden Wogenschaum ragte der alte Feuerturm von Neuwerk ernst und unerschüttert hervor, während die Hütten der Insel nur mit den Dächern aus der Flut schauten und ihre Bewohner sich alle nach dem Turme geflüchtet hatten, an dessen achtzehn Fuß dicken Grundmauern die Brandungen emporspritzten.

Die Insulaner saßen trübselig beim Strandvogt an den Fenstern oder bei den Lampenwärtern im Lichthause des Turmes und blickten auf ihre Hausdächer hinab, die wie einzelne Inseln oder große Felsenstücke aus dem Wasser ragten. Sie erwarteten jeden Augenblick, sie verschwinden und forttreiben zu sehen und dachten mit Schauder an den Zustand, in dem sie ihre Wohnungen nach Abzug der Flut finden würden.

Die Aufmerksamkeit lenkte sich jedoch schnell vom eigenen Unglück in der Nähe ab, wenn man ein Fahrzeug im wilden Gewässer draußen erblickte, und alle Augen und Fernrohre wurden auf diese Punkte gerichtet, von denen manche die Elbe gewannen, manche hinübergeweht wurden, wo die friesischen Inseln mit ihren Watten verderbenschwanger auf sie lauerten, und andere von den überschlagenden Wellen, den Brechern, niedergeschmettert, oder vom Vogelsand und Schaarhörn erfaßt, spurlos verschwanden.

Die Bewohner des Turmes richteten ihre Blicke am späten Nachmittag gegen Westen, wo man in äußerster Ferne ein großes Schiff erblickte, das offenbar bemüht war, den Stört, das Ende von Schaarhörn, zu umsegeln und so die Elbe zu gewinnen, während es vor dem Sturm abtrieb. Die Umrisse des Schiffes verschwanden indes bald in der dicken Luft und dem Schaumnebel, auch trat eine so frühe Dämmerung ein, daß man die Lampen anzuzünden begann, obgleich die Sonne noch nicht unterging.

Das Licht aus der Kuppel des Turmes strahlte bald hell hinaus und zog einen ungeheuren Schwarm von Seevögeln an, der mit lautem Geschrei um den Turm zog und gegen die Scheiben flog, auf die sich manche Vögel mit solcher Gewalt stürzten, daß sie mit eingerannten Köpfen tot auf die Galerie fielen und von den Lampenwärtern als Beute hereingeholt wurden. Die starken, halbzölligen Scheiben hielten jedoch aus, ohne bei den fortwährenden Stößen zu brechen. Als die Dunkelheit vollständig eintrat, wurde das Geschrei und der Anprall der Möwen um und an die Glaswände des Leuchthauses immer toller, und die Schläge der anfliegenden Möwen klangen wie ein Heckenfeuer und vermehrten den Tumult der Brandungen so, daß man kaum ein Wort verstehen konnte.

Manchmal sank die heulende Windsbraut bis zum schwachen Brausen herab, während der ganze Vogelschwarm gleichfalls in einem großen Bogen fortschwenkte und aus dem Lichtkreis verschwand, um dann samt dem Sturm aufs neue in rasender Eile heranzustürmen und die Kuppel zu erschüttern. Dann kam es daher, brausend, klirrend und krachend, als stürze der Turm zusammen. Es fuhr vorbei, in die Nacht hinaus mit dumpfem, entsetzlichem Geheul und Gewimmer, als jage der Sturm die jammernden Geister der Schiffbrüchigen nach dem ersehnten Hafen hinauf, den ihre Leiber nimmer erreichten. Dann brüllte es wieder herauf wie Hohngelächter der Wassergeister und kam wieder in der Luft mit haarsträubendem Gewimmer, dazwischen ein dumpfer, kurzer Ton, der die Fenster des Lichthauses erzittern machte. – Hört!

Ein Lampenwärter hielt den Finger in die Höhe. Alle sahen sich stumm an und neigten die Ohren nach der Seite des Sturmes.

Wieder der dumpfe Ton und wieder!

»Das Schiff!« sprach einer leise.

Der Lampenwärter nickte und zeigte über seine Achsel mit dem Daumen westwärts, wobei er murmelte: »Schaarhörnstört.«

Die andern nickten bleich und sahen in die Finsternis.

Alles horchte gespannt.

Es brauste, donnerte und wehte fort, aber der dumpfe Kanonenschall, der früher an die Fenster schlug, wurde nicht wieder gehört, obgleich alles gespannt wohl eine halbe Stunde horchte. Die Männer, die hoch oben im blendenden Lichtschein mitten im Tosen der Elemente saßen, blickten stumm in die dicke Nacht hinaus.

Endlich stand einer auf und holte ein altes, schwarzes Buch aus einem Kasten. Es war der Schulmeister. Er schlug das Buch auf und las:

Dies Leben ist gleich einem Traum,
Gleich einem leichten Wasserschaum
Ist alle seine Herrlichkeit.
Der Strom der Zeit
Reißt schnell uns fort zur Ewigkeit.

Es war ein Gebet für die draußen auf dem großen Schiff, dessen Kanone jetzt schwieg.

Der Sturm wehte fort und führte auf seinen Schwingen das Getöse der Wellen und das Geschrei der Möwen mit sich. Dazwischen erklang es wie menschliche Stimmen, Angstgeschrei und Hilferufen. Es zog in der Luft vorbei wie das wilde Heer.

So tobte es fort bis gegen Morgen, als endlich der Sturm zum steten Wind herabsank. Er hatte genug Opfer erfaßt, wie die Schiffstrümmer am Strande der Nordsee bezeugten. Er sank in sich zusammen, die Ebbe erhielt wieder ihre alte Macht und drängte endlich die Flut hinaus in das Meer.

Die Bewohner und die Gäste des Feuerturmes waren schlafen gegangen, als sie bemerkten, daß der Sturm abnahm. Sobald jedoch der Tag anbrach, war alles wieder auf den Beinen, um auszuschauen.

Die tiefste Ebbezeit trat ein, und die Watten wurden zum ersten Male nach mehreren Tagen wieder trocken. Es zeigten sich viele dunkle Punkte auf den hellen Sandflächen. Nach Westen auf Schaarhörn lag eine große dunkle Masse.

Die Arbeit des Strandvogtes begann. Er mußte vor allen Dingen nach dem Land zu, um die Stranddiebe zu verjagen und von den angetriebenen Trümmern bergen zu lassen, was möglich war. Der Schulmeister mit den Turmleuten ging indes nach dem Wrack auf Schaarhörn hinaus, welches durch die ungewöhnliche hohe Flut fast bis zu den Inseldeichen hingetrieben war.

Am Deiche fand man das Steuerrad des Schiffes mit dem Namen »Union«. Eine kleine Strecke davon lagen drei Seemannsleichen, halb in Tang und Sand eingewühlt. Hart dabei ein zertrümmertes Boot. Die Armen hatten sich wahrscheinlich in ihm nach dem Feuerturm retten wollen. Man forschte bei ihnen, ob sich noch ein Lebensfünkchen fand. Es war umsonst. Sie lagen so starr und still wie die übrigen Schiffstrümmer, womit der Strand hier übersät war. Abgerissene Deck- und Seitenplanken waren untermischt mit Rundhölzern und unzähligen Fässern. Um einige zerbrochene lag der Inhalt von Kolophonium ausgestreut.

Das Wrack bot ein Bild grausamer Zerstörung. Es war mitten auseinandergebrochen und der Hinterteil fast ganz weggerissen, während der Vorsteven mit dem Bugspriet aus dem Sand ragte. An Steven und Kiel saß noch ein Teil Rippen und Planken sowie die ganze Ankerwinde, um die zwei Ketten geschlungen waren, die aus den Klüsenlöchern hingen und den Vorderteil an den Ankern hielten, die in den Sand gewühlt festsaßen.

Auf diese Weise war das Stück nach dem Durchbruch des Schiffes herumgerissen und gegen die Wellen gedreht worden, die nun die Planken von vorn nicht abreißen konnten. Ein Stück vom unversehrten Bug ragten die Inhölzer oder Rippen des Schiffes heraus, an dem stückweise Planken saßen, zwischen denen man eingeklemmte Fetzen von Kleidungsstücken und eine zerrissene Öljacke sah.

Der Raum vorn war rein ausgespült. Die Leute kletterten nach dem Stückchen Deck hinauf, das bei der Ankerwinde festgeblieben und wo noch eine kleine Kabine war. Als sie sie untersuchten, fanden sie drei Leichname darin, wovon einer, ein Negerjunge, eine Flasche fest in der Hand hielt.

Der Schulmeister kletterte jetzt mit hinauf und besah die Gruppe. Er bückte sich und horchte erstaunt, denn er bemerkte, daß der zweite Leichnam, ein älterer Neger, sehr gemütlich schnarchte. Er faßte den Schwarzen in die Wollhaare und stieß ihn einige Male mit dem Kopf gegen einen Balken, daß das Wrack schütterte – er wußte mit Negern umzugehen.

» All right«, knurrte der Schwarze und sah den Schulmeister verwundert an.

»Ah, ist das Schiff vor Anker?« fragte er munter werdend in englischer Sprache. Dann besann er sich auf die verflossenen Stunden und sprang zur Luke hinaus, um über den Anblick, der sich ihm bot, in ein Jammergeheul auszubrechen, das endlich den Negerjungen erweckte, der sich ungeheuer wunderte, noch lebendig und nicht im Himmel zu sein. Nur der dritte Mann, ein Weißer, jedenfalls ein Passagier, schon in hohen Jahren und mit einem starken grauen Bart im weißen Gesicht, blieb regungslos liegen.

Die Insulaner versuchten ihn zu erwecken. Es war jedoch umsonst, obgleich der Puls noch ging, wie der Schulmeister sagte.

»O Master, mit Sturzsee durch Luke gekommen – mit Kopf voraus – hat dünnen Kopf wie Straußenei, kann nix Puff vertragen, wie Nigger«, erklärte der Negerjunge.

»Hat er nicht zuviel getrunken?« fragte der Schulmeister.

»Zuviel? O ja – Seewasser. Ist nicht gut – Rum besser,« antwortete der Junge, indem er seine leere Flasche besah.

Man brachte jetzt den Passagier aus der Kabine und ließ ihn auf den Sand hinab. Er gab Lebenszeichen, war aber besinnungslos und wurde nach dem Turm getragen, wo man ihn in ein Bett legte und mit dem Universalmittel der Gegend, mit Grog, behandelte, der an der See gegen alles hilft.

So überraschend schnell sonst dieses Mittel anschlägt, so wenig wollte es im Anfang dem Schiffbrüchigen helfen. Die Neger waren längst über das Watt nach Cuxhaven gelaufen, während der Passagier der verunglückten »Union« noch viele Wochen im Bett lag.

Der Strandvogt saß tagelang bei ihm und hörte den Erzählungen seiner Fahrten und Abenteuer zu, denn es war der verschollene Verwandte, den die See hier an das Land geworfen. Der Buchhalter Kern, den Herr Trick und Stubborn sicher in den Schwefelbergwerken Mexikos untergebracht glaubten.


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