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Die Frage über Schlaf, Traum und Somnambulismus ist nahe verwandt mit derjenigen des Instinktes.
»Man kann sich, sagte Cuvier, eine klare Vorstellung über den Instinkt nur unter der Voraussetzung machen, dass die Tiere in ihrem Sensorium angeborene Bilder und Empfindungen haben, welche sie zum Handeln bestimmen, wie es die gewöhnlichen und gelegentlichen Empfindungen sonst thun. Es ist eine Art Traum oder Vision, die sie immer verfolgt, und in allem, was mit dem Instinkte zusammenhängt, kann man dieselben als eine Art Nachtwandler ansehen«. Maine de Biran definierte die Verfassung des Tieres als ein Empfindungsleben, die des Menschen als ein Willensleben; ebenso bestand nach seiner Ansicht der Schlaf in dem Vorwiegen des passiven Empfindungslebens, welches unabhängig geworden ist von der im Wachen bestehenden Leitung des bewussten Willens. Dagegen hatte Jouffroy die Meinung, dass im Schlafe Intelligenz und Wille gewissermassen getrennt beständen. »Man könnte sich hierdurch, so sagte er, erklären, wie man zu einer im voraus bestimmten Stunde aufwacht, wie man bei einem ungewohnten Geräusch erweckt wird, und wie man im Schlafe sehr richtige Schlüsse und selbst Entdeckungen macht.«
Man hat dieser Theorie entgegengehalten, dass sie nur von einem leichten Schlafe gelte, der ein halber Schlaf sei.
Lélut hat, in einer »Abhandlung über Schlaf, Traum und Somnambulismus« (Mémoire sur le sommeil, les songes et le somnambulisme), welche der Akademie 1852 vorgelegt wurde, auseinandergesetzt, wie wenig man über die physischen Bedingungen des Schlafes weiss, und durch geistvolle Bemerkungen klar gemacht, dass im Schlafe, sei er leicht oder tief, Intelligenz und Wille sicher nicht in ihrem vollen Umfange fortbestehen, wie Jouffroy gesagt hatte, dass sie aber doch auch nicht, wie Biran geglaubt hatte, gänzlich aufgehoben sind, und dass es vielmehr keinen Schlaf von solcher Tiefe gibt, dass sich jene Punktionen nicht in gewissem Grade zeigten oder sich mit Recht voraussetzen Hessen. Auch hat sich Lélut in seiner Arbeit zu zeigen bemüht, wie weit die verschiedenen Sinne und die verschiedenen geistigen Fähigkeiten am Schlafe teilnehmen.
Als die Akademie die Frage des Schlafes zur Preisbewerbung aufgegeben hatte, trug A. Lemoine den Preis davon. Er vertrat in seiner Schrift Ansichten, die wenig von den durch Lélut summarisch entwickelten abweichen, und begründete dieselben durch zahlreiche geistvolle Beobachtungen.
Kurz nachher veröffentlichte Maury ein Buch über Schlaf und Traum, welches zum grossen Teil an ihm selbst mit viel Geduld und Scharfsinn angestellte Beobachtungen enthielt. Die Untersuchungen Maury's gingen hauptsächlich darauf aus zu zeigen, dass der Schlaf sich aus einer Verminderung der Thätigkeit des Gehirns und speciell derjenigen Teile des Gehirns erklärt, welche der Intelligenz dienen; diese Verminderung lasse das niedere Leben, sowohl das eigentlich animalische als auch noch das vegetative zur Geltung kommen, und in diesem Zustande ständen wir unter der Herrschaft, von Hallucinationen ganz derselben Art, wie sie im wachen Zustande die herannahende Geistesverwirrung bezeichnen, so seien Schlaf und Traum ein Zwischenzustand zwischen dem Besitze unserer selbst und der Geistesabwesenheit.
Diese Resultate können, wie es scheint, zur Grundlage einer vollkommeneren und die Thatsachen besser erklärenden Theorie des Schlafes dienen, als sie bisher geliefert worden ist.
Im Bezug auf den eigentlich physiologischen Teil des Schlafes hat, wie man hört, ein englischer Physiolog, Durham, soeben eine wichtige Thatsache festgestellt, die bis jetzt bezweifelt und deren Gegenteil sogar in der Regel für wahr gehalten wurde, nämlich, dass im Schlafe der Zufluss des Blutes zum Gehirn geringer ist als im Wachen. Man wusste allerdings schon, dass im Schlafe eine Tendenz zur Abkühlung besonders in den Extremitäten besteht. Vergleicht man mit diesen Thatsachen die Beobachtungen Grimaud's, welche eine Zunahme der Verdauungs- und Ernährungsthätigkeit im Schlafe beweisen; erinnert man sich ferner an gewisse einer Metamorphose unterworfene Tiere, die dieselbe während eines tiefen Schlafes durchmachen; denkt man an das von Goethe angegebene grosse Gesetz, nach welchem sich die Entwickelung der Pflanzen in einer Reihe von Concentrationen und Expansionen vollzieht, und stellt man dem die Erscheinungen der physischen Natur gegenüber, welche während des Schlafes sich von aller äusseren Thätigkeit zurückzuziehen und in sich selbst zur Erneuerung und Kräftigung zu sammeln scheint, so wird man vielleicht der Annahme zuneigen, dass die in der neuesten Zeit über den Schlaf gemachten Beobachtungen zusammenstimmen und sich erklären, wenn man denselben als die erste der beiden Phasen ansieht, welche jede organische Entwickelung durchlaufen muss, als die regelmässige und notwendige Periode der Sammlung, in welcher sich die Bedingungen einer folgenden Periode der Entwickelung und der Erzeugung vorbereiten.
Könnte man nicht weitergehen und sagen, dass der Tod, welchen man immer mit dem Schlafe verglichen hat, eine Sammlung in höchster Potenz ist, welche eine Erneuerung vom höchsten Grade vorbereitet? »Was wir Erzeugung nennen, sagte schon Leibniz, ist nur Entwickelung und Zunahme; was wir Tod nennen, Einwickelung und Abnahme«. Einwickelung und Entwickelung, Sammlung und Ausgabe sind entgegengesetzte Wirkungen entgegengesetzter Zustände der Aktivität, und man könnte sagen die aufeinanderfolgenden negativen und positiven Zustände eines Wollens; aufhören zu wollen, heisst immer noch wollen. Der grosse Geist, der den tiefsten Einblick hatte, wie in abwechselnder Verengung und Erweiterung des Seins die Metamorphosen sich vollziehen, welche das Leben ausmachen: Goethe sprach den kühnen Gedanken aus: »die Geburt findet statt durch einen Willensakt und ebenso der Tod.«