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XXIII.
Untersuchungen über das Verhältnis von Leib und Seele.

Seit Beginn unseres Jahrhunderts bis zu seiner Mitte hatte die Philosophie nur wenig Beziehungen zur Physiologie. Maine de Biran, welcher den Menschen, um ihn von der Empfindung unabhängig zu machen, ausschliesslich durch den Willen definierte, und der Eklekticismus, welcher sich auf die Beobachtung der sogenannten Thatsachen des Bewusstseins einschränkte, beschäftigten sich mit physiologischen Thatsachen nur, um den Unterschied anzugeben, welcher dieselben von den psychologischen scheidet. – In einer oben erwähnten Arbeit über die Gewohnheit wurde diese Erscheinung als eine Art Mittelglied zwischen den instinktiven und den natürlichen Handlungen hingestellt, welches ein identisches Princip in der Verschiedenheit der Wirkungen zu bezeichnen schien. Etwa zu gleicher Zeit wurde nun die Frage nach den Beziehungen des Physischen und Geistigen zum Gegenstande ganz neuer Untersuchungen gemacht.

Das Jahr 1843 sah die »Annales médico-psychologiques« und die »Zeitschrift für Anatomie, Physiologie und Pathologie des Nervensystems, bestimmt alle Thatsachen in Bezug auf Geisteskrankheit, Nervosität und gerichtliche Medicin des Irrsinns zu sammeln« erscheinen, welche von 1843-48 Baillarger und Cerise, von 1849-54 Baillarger, Brierre, de Boismont und Cerise und seit 1855 Baillarger, Moreau und Cerise herausgaben. Viele Beobachtungen sind in derselben verzeichnet, welche der Philosophie des menschlichen Geistes ein nützliches Material liefern. Dasselbe gilt von dem Werke von Brierre de Boismont über die Hallucinationen, welches 1862 die 3. Aufl. erlebte, von der Abhandlung des ersteren über »Selbstmord und selbstmörderischen Irrsinn« (Du suicide et de la folie du suicide), deren 2. Aufl. 1865 erschien, und verschiedenen Publikationen von Falret, Durand u. A. und den Broschüren für und wider den Materialismus. Unter den letzteren haben vorzüglich Beachtung gefunden »Das Gesetz der zwei Substanzen und ihrer hierarchischen Ordnung« (Loi des deux substances et de leur concours hiérarchique) von Fournet und die Vorträge Chauffard's »Ueber den Positivismus«, ebenso wie seine »Fragmente medizinischer Kritik«. Endlich begannen auch die alten Streitfragen des Organicismus, des Vitalismus und des Animismus wieder aufzuleben.

Aristoteles hatte in Uebereinstimmung mit Plato die Ansicht, dass die Uebereinstimmung und Ordnung, welche sich in den Funktionen der lebenden Wesen zeigt, ein Streben nach einem Ziele und mithin eine von einer Intelligenz abhängende Thätigkeit bekunde, wie man sich übrigens auch jede einzelne Erscheinung erklären möge. Ausserdem bemerkte er zwischen den Erscheinungen des Lebens und denen der denkenden Seele einen Zusammenhang, der es ausschloss, sie verschiedenen Principien zuzuschreiben. Seiner Meinung nach entsprang also das Leben in der Seele, in dem, was fühlt und denkt,

Die Seele, sagte Descartes, ist das, was denkt; unmöglich also kann man auf die Seele Lebenserscheinungen zurückführen, von denen sie kein Bewusstsein hat.

Indes beobachtete Leibniz, dass es verworrene Vorstellungen gibt, die man nicht wahrnimmt. Stahl that dasselbe und noch mehr: er zeigte, dass es Thätigkeiten giebt, die, obwohl aus der Intelligenz hervorgehend, weder im Gedächtnis noch in der Reflexion erfasst werden; es sind die, welche nicht Gegenstände der Phantasie sein können, da sie sich auf nichts Ausgedehntes und Gestaltetes beziehen. Die vorstellbaren Dinge, welche Figur und Ausdehnung haben, können allein den Stoff des Nachdenkens bilden. Wenn sich die inneren Lebensthätigkeiten auch dem Nachdenken entziehen, da sie keine Wahrnehmung räumlicher Verhältnisse einschliessen, so sind sie deshalb doch Thätigkeiten der Vernunft; nicht ohne Bewusstsein, aber ohne das ausdrückliche und deutliche Bewusstsein, welches die Voraussetzung für Reflexion und Gedächtnis bildet.

Leibniz weicht von Stahl in einem Punkte ab: nach Stahl ist die Seele wirklich und in jedem Sinne die Ursache der Bewegung in dem von ihr beseelten Körper; nach Leibniz hat die Seele keinen direkten Einfluss auf den Körper und begleitet nur mit ihrem Wollen und ihrem Bewusstsein Bewegungen, welche die Folgen früherer Bewegungen sind. Aber für Leibniz wie für Stahl geschieht Nichts im Körper, dem nicht in der Seele etwas entspräche; in der Seele, d. i. im Denken, d. i. im Bewusstsein, so schwach und dunkel es auch sein mag.

Seit der Zeit Bichat's herrschte in der Pariser medicinischen Schule der Organicismus fast ebenso unbestritten, indem er sich auf diesen grossen Physiologen berief, wie der von Barthez zum System erhobene Vitalismus in der von Montpellier. Der Organicismus erklärt das Leben aus der Eigentümlichkeit der Organe, der Vitalismus durch ein besonderes von der Materie ebenso wie vom Geiste verschiedenes Princip; der Animismus, welcher das Leben von der Seele abhängig macht, hatte fast keine Anhänger mehr. Ein italienischer Theolog, der schon durch verschiedene philosophische Schriften bekannt war, der Theatiner Ventura griff im Jahre 1853 die vitalistische Lehre von Montpellier im Namen des katholischen Glaubens an, welcher, wie er sagte, die Einheit des Princips des Denkens und des Lebens verlangt. Der Schüler und Nachfolger von Barthez, Lordat verteidigte in seinen »Antworten auf Einwürfe, welche gegen das Princip der Dualität des menschlichen Dynamismus gemacht worden sind«, die Lehre seines Meisters und der Mehrzahl seiner Kollegen, und der Bischof von Montpellier beglückwünschte ihn öffentlich. Der Abbé Flottes, Professor der Philosophie in Montpellier, suchte in einer kurzen Broschüre zu beweisen, dass der Vitalismus und der Animismus zum mindesten gleich vereinbar mit Religion und Moral wären. Nachdem jedoch der Abbé Günther in Wien und der Kanonikus Baltzer in Breslau bald darauf Ansichten vorgebracht hatten, welche man mit dem Vitalismus in Zusammenhang bringen kann, so erklärte der Papst durch eine Bulle vom 30. April 1860, dass die Lehre von der substanziellen Einheit des Princips des Lebens und desjenigen des Denkens Glaubenssache wäre, und verurteilte jede andere Ansicht als unvereinbar mit dem katholischen Dogma.

Wie man auch über diese Einmischung der theologischen Autorität in eine Frage, die mehr Sache der Wissenschaft als des Glaubens zu sein scheint, denken mag, so setzte sich doch der Streit fort und griff noch um sich. Mehrere der namhaftesten Mitglieder der eklektischen Schule begannen Teil an demselben zu nehmen. Im Jahre 1857 hatte die Akademie der philosophischen und Staatswissenschaften die Prüfung der Philosophie des heil. Thomas zur Preisbewerbung ausgeschrieben: eine Gelegenheit für die Concurrenten unter anderen Fragen auch die des Zusammenhangs von Geist und Körper zu studieren, welche der magister angelicus dem Aristoteles folgend vertieft und im gleichen Sinne wie dieser gelöst hatte. Der Verfasser der gekrönten Preisschrift, Ch. Jourdain, nahm Partei für Aristoteles, für den heil. Thomas und für den Animismus. In seinem Referat über die Preisarbeiten erklärte de Rémusat, ohne sich ausdrücklich für den Animismus auszusprechen, dass er ihn als eine plausibele Lehre betrachte.

In demselben Jahre lehrte der Verfasser einer gelehrten »Geschichte des Cartesianismus« (welcher mit dem »Cartesianismus« des Bordas-Dumoulin der Preis zu gleichen Teilen zuerkannt wurde) und einer »Theorie der unpersönlichen Vernunft« (der Entwickelung und Verteidigung der Ansichten Cousins über die Vernunft gewidmet), Fr. Bouillier, in der Faculté des lettres zu Lyon die Identität der denkenden Seele und des Lebensprincips; er veröffentlichte das Ergebnis seiner Vorlesungen im folgenden Jahre. Gegen ihn verteidigte Jaumes die Lehren von Montpellier in einer in demselben Jahre erschienenen Dissertation über »Die Seele und das Lebensprincip« und in einer »Einleitung zur Philosophie der Medicin« (1861). R. de Laprade nahm ebenfalls in einer Denkschrift über »Animismus und Vitalismus«, welche 1860 in den Schriften der Akademie von Lyon erschien, gegen Boullier für die Lehre von Montpellier Partei.

Lemoine entwickelte in einer der Akademie der Philosoph, und Staatswissenschaften im Jahre 1858 vorgelesenen Abhandlung über »Stahl und den Animismus« mit vielen Einzelheiten und grosser Genauigkeit die Ideen Stahl's und machte auf die grosse Menge von Wahrheiten, die sie einschlössen, aufmerksam; doch gab er nicht zu, dass die Lebensthätigkeiten einer vernünftigen Ursache zugeschrieben werden könnten; an der Lehre Stahl's erkannte er, wie er sagte, den Vitalismus an, verwarf jedoch den Animismus.

Saisset erklärte sich in einem Artikel der Revue des Deux Mondes 1862 ebenfalls für den Vitalismus. Ebenso Garnier in seinem der Akademie gegebenen Referat über das Buch von Bouillier; ingleichen in demselben Jahre zwei berühmte Aerzte: Bouchut in seinem Buche über »Das Leben und seine Attribute vom Gesichtspunkte der Philosophie, Naturgeschichte und Medizin betrachtet«, und Fournet in dem bereits genannten »Gesetz der zwei Substanzen«.

Weiter suchte Lévêque 1863 in der »Zeitschrift für öffentlichen Unterricht« (Journal de l'instruction publique) zu beweisen, dass der Animismus sich mit Unrecht auf die Autorität des Aristoteles beriefe, und das Gleiche that Philibert in einer der Faculté des lettres in Paris vorgelegten These über »Das Lebensprincip bei Aristoteles«.

Tissot, der Uebersetzer Kant's und Ritter's übernahm die Verteidigung des Animismus in verschiedenen Artikeln der Revue médicale und in einem umfassenden Werke über »Das Leben im Menschen« (1861). Charles legte in demselben Jahre der Faculté des lettres in Paris eine These »de vita naturae« vor, in welcher er sich für die vitalistischen Ansichten günstig aussprach. Ein philosophierender Arzt, den wir bereits genannt haben, Garreau wollte in einer Abhandlung über »den Unterschied des Organismus und des Mechanismus« (1861) gegen den Animismus Stahl's den Occasionalismus des Descartes und Malebranche wieder aufrichten, das System, nach welchem selbst bei den willkürlichen Bewegungen nur der Wille von uns ausgeht, die Bewegung aber von Gott.

Bouillier entwickelte seine Ansichten und antwortete der Kritik, welche sie gefunden hatten, in einer Schrift »Ueber das Lebensprincip und die denkende Seele, oder Prüfung der medicinischen und psychologischen Lehren über die Beziehungen der Seele und des Lebens«. (Du principe vital et de l'âme pensante etc. 1862). B. erklärte sich fast ganz als Anhänger Stahl's. Besonders legte er entschieden die Gründe dar, welche der Erklärung des Lebens sei es durch die Materie, sei es durch ein immaterielles von der denkenden Seele verschiedenes Princip entgegenstehen. Nur in einem Punkte, der aber wesentlich ist, widerspricht er jenem; wie Lemoine, Lévêque und alle Anhänger des Vitalismus kann er nicht zugeben, dass die Funktionen des Lebens das Werk des Denkens sind; doch sind sie deswegen nicht weniger wie die geistigen Thätigkeiten das Werk der Seele. Es ist eben nach seiner Meinung ein Irrtum, die Seele mit Descartes durch das Denken zu erklären; erst recht verweigert er der Lehre des Leibniz seine Anerkennung, nach welcher das Denken nicht nur das Wesen der menschlichen Seele, sondern auch unendlich vieler einfacher Principien oder Monaden ist, die durch das ganze Universum zerstreut sind und in mehr oder minder verworrenen oder deutlichen, dunkeln oder klaren Wahrnehmungen die Unermesslichkeit aller Erscheinungen vorstellen. Nach B. wäre das Wesen der Seele wie aller Monaden nicht das Denken und nicht das Wollen, sondern eine Thätigkeit, von welcher Denken und Wollen die vollkommensten Formen sind, die ausschliesslich einer höheren Stufe, der Stufe der Vernunft angehören. Die Lebensthätigkeiten sind für ihn nicht Thätigkeiten der Vernunft nach der von Stahl gegebenen Definition derselben, sondern »eines Instinktes ohne Intelligenz und ohne Selbstbewusstsein, eines blinden Instinktes«. Doch gewinnt die Seele, einmal auf die Stufe der Vernunft erhoben, bis zu einem gewissen Grade ein Bewusstsein ihrer instinktiven Handlungen; aus der niederen Sphäre, in welcher dieselben stattfinden, wirken sie herüber in die höhere, und die höhere wirkt ihrerseits auf die niedere zurück, also das Geistige auf das Physiologische. So gestaltet sich die Einheitlichkeit des denkenden und lebenden Wesens.

Mit diesen Erklärungen ladet Bouillier die Philosophen der Schule, welcher er angehört, und überhaupt die Anhänger der spiritualistischen Lehren ein, ihre zu abstrakte und enge Psychologie aufzugeben und sich mit ihm in dem Animismus zu vereinigen, welchen er als den wahren Spiritualismus betrachtet.

Man wird sich indes vielleicht fragen, ob die Erklärung des Lebens aus Thätigkeiten, die nichts Geistiges enthalten, nicht einfach die Rückkehr zu einer einfach vitalistischen Lehre unter dem Namen des Animismus bedeutet. Wo liegt der Ausgangspunkt für die Erwägungen Stahl's? In der Ordnung und Harmonie, den Eigentümlichkeiten des Lebens, welche das Streben nach einem Ziele verraten: also Vernunft, Intelligenz. Folglich genügt es nicht zu sagen, dass die Lebensthätigkeiten das Produkt einer Kraft, das Werk eines Instinktes sind; man muss notwendig hinzufügen: einer Kraft, welche nach einem Ziele strebt; eines Instinktes, welcher sich auf einen Zweck einrichtet, und das heisst eines Denkens. Aber vielleicht ist auch Bouillier im Grunde mehr Animist im Sinne von Aristoteles und Stahl als seine eigenen Ausdrücke zu besagen scheinen. Ohne Zweifel hat er nicht sagen wollen, dass der Instinkt der Seele in seinen vitalen Funktionen absolut und im strengen Sinne blind, also gänzlich der Intelligenz und des Bewusstseins beraubt ist; wie wäre es sonst möglich, dass dieser Instinkt jemals in den Kreis des Bewusstseins eintreten könnte? Bei genauerer Betrachtung scheint er nahe dieselbe Ansicht wie Stahl und Aristoteles gehabt zu haben. Um gänzlich auf den Standpunkt der Lehre dieser Männer zu treten, braucht er nur so anzuerkennen, – und er scheint wenig davon entfernt zu sein, dass der Instinkt in letzter Linie doch noch ein Denken ist, zwar nicht das Denken, welches in der vollen Freiheit der Reflexion sich selbst begreift, aber ein solches, das sich nach der Vorstellung Plotin's im Grunde der Natur wie unter der Hülle seines eigenen Gegenstandes auffinden lässt, und sozusagen durch einen Zauber aus sich selbst herausgetreten und sich entfremdet ist.

Ist dieser Schritt einmal gethan, so werden ohne Zweifel auch B. und mit ihm diejenigen seiner Gegner, welche ihm in ihren Ansichten am nächsten stehen, hauptsächlich Lemoine und Lévêque nicht nur anerkennen, wie er es im Eingang seiner gelehrten Arbeit thut, dass die Seele sich selbst direkt wahrnimmt und erkennt, weil ihre Thätigkeit, die den Gegenstand des Bewusstseins bildet, und ihre Substanz ein und dasselbe sind, sondern dass die Unterscheidung« dieser Thätigkeit vom Denken und Wollen, als ob sie etwas Tieferes und Allgemeineres wäre, ein Stehenbleiben bei den unvollständigen Begriffen bedeutet, deren Mangelhaftigkeit Descartes, Berkeley und Leibniz längst nachgewiesen haben, und dass man endlich daran festzuhalten hat, dass die Thätigkeit der Seele, welche ihr Wesen ausmacht, und die der beständige Gegenstand ihres Bewusstseins ist, nicht von der Vorstellung eines Zweckes, eines zu erreichenden Gutes getrennt werden kann, dass sie ein Denken, ein Wollen ist.

Mit diesen Gedanken hängen die Betrachtungen zusammen, welche von A. Franck in einer Besprechung der Schrift Bouillier's im Journal des Débats (11. Nov. 1862), von Chauffard in einem Artikel des Correspondant (25. Okt. 1862) und von Frédault in drei Artikeln der »Art médical« (Aug.-Okt. 1862) entwickelt worden sind.


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