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Unter den zahlreichen Leistungen im Gebiete der Psychologie, von denen ausser den bereits beim Eklekticismus erwähnten die Schriften von Abbé Bautain und Waddington-Kastus, Paffe's »Essai sur la sensibilité« und viele Artikel des Philosophischen Wörterbuches von A. Franck zu nennen sind, haben in letzter Zeit zwei vor der Faculté des Lettres zu Paris verteidigte Thesen Beachtung gefunden, die eine von Mervoyer, die andere von Gratacap, die sich auf die Fragen der Ideenassociation und des Gedächtnisses beziehen, mit welchen die allgemeine Frage nach der Verfassung und Entwickelung der Intelligenz im engern Zusammenhange steht. Hume hatte alles Wirkliche auf Eindrücke und Ideen zurückgeführt, welche die Copien der ersteren sind; das ist, wie wir auseinandergesetzt haben, das Princip der sogenannten positivistischen Philosophie. Da er weiter bemerkte, dass gewisse Ideen sich regelmässig im Gefolge gewisser anderen darstellen, so bildete er sich ein, dass, ebenso wie die chemischen Erscheinungen sich nach Newton durch eine Art gegenseitiger Anziehung der Körper erklären sollten, so auch die Thatsache, dass auf bestimmte Ideen gewisse andere regelmässig folgen, sich durch die Voraussetzung einer ähnlichen Attraktion zwischen denselben erklären Hesse, statt sich auf die Erscheinung selbst zu beschränken, wie er es in Uebereinstimmung mit seiner allgemeinen Lehre, nach der alle Causalität eine Einbildung ist, hätte thun müssen. Vielleicht hätte er, da es sich um eine Erscheinung handelt, welche nach Massgabe der verschiedenen Eigentümlichkeiten der Ideen, zwischen denen sie stattfindet, verschieden ist, sie zutreffender mit der chemischen Wahlverwandtschaft als mit der allgemeinen Gravitation verglichen. Welches sind nun die Umstände, die besonderen Eigentümlichkeiten, von denen die gegenseitige Attraktion der Ideen, oder mit einem Ausdruck, der keinerlei causale Auffassung einschliesst, die Association der Ideen abhängt? Es sind nach Hume Aehnlichkeit, Nachbarschaft in Raum und Zeit und Causalität; die »Schotten« suchten diese Aufzählung zu vervollständigen, indem sie zu den Beziehungen der Dinge unter einander noch ihre Beziehungen zu uns hinzunahmen; beachtet man übrigens den engen Zusammenhang zwischen Aehnlichkeit und Nachbarschaft einerseits, den von Hamilton betonten zwischen Aehnlichkeit und Causalität andrerseits, so würde sich jene Zusammenstellung leicht auf eine einfachere zurückführen lassen.
In Deutschland entwickelte Herbart ein System der Psychologie, dem eine der Hume'schen ähnliche Anschauung zu Grunde lag; nur war dieselbe eine schärfere und, da sie ein quantitatives Element einschloss, ganz anderer Entwickelungen und einer grösseren Mannigfaltigkeit von Anwendungen fähig. Nach Herbert reduziert sich in unserer Seele alles auf Vorstellungen, welche sich verknüpfen, sich hemmen, sich im Gleichgewicht halten oder sich anziehen nach genauen statischen und dynamischen Gesetzen, deren Wirkungen sich also berechnen lassen. Alle Vorstellungen existieren im Grunde gleichzeitig, nur hemmen einige die andern oder bilden Hilfen für dieselben; aus der Hemmung, Verknüpfung und Verschmelzung der Vorstellungen entstehen alle unsere Gedanken, aus derselben Quelle auch alle Gefühle und Begehrungen; aus der Wechselwirkung der Vorstellungen entwickelt sich das, was man Vernunft, was man Gefühlsvermögen und Willen nennt. Dieselben Anschauungen in einer mehr oder minder abweichenden Weise ausgeführt finden wir in England bei den Philosophen wieder, welche der positivistischen Schule angehören oder ihr zugerechnet werden können: bei Stuart Mill, Samuel Bailey, Alex. Bain, Herbert Spencer. Der letztere besonders hat mit ausgezeichneter Klarheit die Lehre entwickelt, dass der ganze weite Umkreis unserer Erkenntnis das Ergebnis gehäufter Erfahrungen ist, ähnlich wie sich durch die stetige Ansetzung unwahrnehmbarer Korallentierchen aneinander Inseln und ganze Continente gebildet haben.
Die Natur, so sagt Spencer, bietet uns Thatsachen dar, welche regelmässige Reihen bilden; den Thatsachen entsprechen in uns die Vorstellungen, den Reihen von Thatsachen Reihen von Vorstellungen; je öfter jene sich wiederholen, desto öfter wiederholen sich auch diese und werden so unveränderlich. So bilden sich durch die Wiederholung besonderer Sätze die allgemeinen. Wenn man nun annimmt, dass die erworbenen Vorstellungen, nachdem sie ein Teil der geistigen Verfassung geworden sind, sich vererben und in den folgenden Generationen angeborene Ideen darstellen, so begreift man, wie sich in einer umfassenden Weise die Instinkte und speciell die intellektuellen Instinkte, welche man bisweilen Urteile a priori nennt, erklären lassen. Welches sind nun diese Urteile? Naturgemäss sind es die, welche sich auf die einfachsten Erscheinungen beziehen, die einfachsten Erscheinungen sind auch, wie Comte bemerkte, und wie man schon lange vorher bemerkt hatte, die allgemeinsten, diejenigen, welche sich in Jedem und überall darbieten; es sind also die, deren Vorstellung sich am frühesten und stärksten in uns einprägt. Die Urteile nun, welche die in Folge der Vererbung durch zahlreiche Generationen uns eingeprägten einfachsten Reihen oder Verknüpfungen von Vorstellungen darstellen, finden wir in uns ohne ihren Ursprung zu kennen und ohne uns von ihnen losmachen zu können. Ihr Gegenteil erscheint uns unbegreiflich; wir sprechen also von einem unwiderstehlichen Glauben, von absoluten Urteilen oder notwendigen Wahrheiten. Dies ist die Theorie der Entstehung der Ideen oder nach dem Ausdruck Spencer's des Aufwachsens der Intelligenz (growth of intelligence), eine Theorie, welche mit unbedeutenden Abweichungen Spencer, Bailey, Bain und Mill gemeinsam ist, und welche die Grundlage der positivistischen oder empiristischen Psychologie bildet, Es ist im wesentlichen das System Hume's, welches sich zur Erklärung der notwendigen Verhältnisse, denen die Dinge unterworfen zu sein scheinen, statt auf die Beziehungen ihrer Begriffe, die in einander aufgelöst schliesslich auf identische Wahrheiten führen, auf die äusseren und zufälligen Relationen unserer Wahrnehmungen in Raum und Zeit beruft.
Mervoyer hat in einer These über »Die Association der Ideen« (1868) einige der Grundzüge dieser von ihm gebilligten Lehre im Anschluss hauptsächlich an Bain reproduziert. Gratacap hat sich in seiner These »Ueber das Gedächtnis« auf einen ganz entgegengesetzten Standpunkt gestellt.
Ohne einen Beweis zu geben, hatte Reid behauptet, dass die Association der Ideen sich auf die Gewohnheit zurückführen lassen müsste. Dugald Stewart, der schon mehr als sein Lehrer zu der Erklärungsweise durch die blossen Erscheinungen neigte, der sich sein Nachfolger Brown bald ganz hingab, war der Ansicht, dass man vielmehr umgekehrt die Gewohnheit durch die Aufeinanderfolge und Association der Ideen erklären müsste. Der Autor einer im Jahre 1838 der Faculté des lettres zu Paris vorgelegten These über die Gewohnheit führte die Ideenassociation auf diese Erscheinung zurück und erklärte die Gewohnheit selbst durch die Neigung der Wiederholung und Nachahmung, eine Neigung, die sich noch selbst auf das Streben alles Seienden in der Thätigkeit zu verharren, welche sein Wesen ausmacht, zurückführen liesse.
Gratacap hat nun zu zeigen versucht, dass das Gedächtnis wie die von ihm nicht verschiedene Ideenassociation ihre Erklärung in der Gewohnheit finden. »Man will in der Regel, so sagt er, das Gedächtnis durch die Spuren erklären, welche von den durch die Aussendinge auf uns gemachten Eindrücken im Gehirn zurückbleiben, durch Bewegungen, welche sich fortsetzen, Schwingungen, welche andauern: aber in der Seele vielmehr ist das Geheimnis desselben zu suchen.« Man will die als Association bezeichnete Thatsache, dass nämlich eine uns auftauchende Vorstellung eine andere mit sich heraufführt, durch Eigenschaften der Objekte erklären, denen diese Vorstellungen entsprechen, Eigenschaften, die durch Bewegungen und Eindrücke sich in unseren Organismus übersetzt hätten; im Gegenteil erklärt sich nach Gratacap die Association nur durch die Thätigkeit des erkennenden Subjekts. Wie Reid und Royer-Collard bemerkt haben, erinnert man sich eigentlich nicht der Dinge, sondern der Wahrnehmungen, die wir von ihnen gehabt haben; ebenso, wenn wir anlässlich einer Sache uns einer anderen erinnern, so geschieht es, weil wir dieselben schon in einer Wahrnehmung, in einem Bewusstsein vereinigt hatten. Und in der That, je einheitlicher die Wahrnehmung gewesen ist, um so unauflöslicher ist die Association, um so unzerstörbarer das Gedächtnis. Der Grund ist, dass man das wieder zu thun strebt, was man einmal gethan hat. Was uns von aussen kommt, verwischt sich bald und verschwindet; was von uns kommt, wird immer stärker und mächtiger; es ist wie bei einer Feder, die, indem sie wirkt, statt zu erschlaffen sich immer mehr spannt. So bildet sich die sogenannte Gewohnheit, so die Erinnerungen. »Alles was sich dem denkenden Princip aufdrängt, sagt Gratacap, indem es von aussen kommt und ein Hindernis in der Trägheit desselben findet, beunruhigt und stört es einen Augenblick, aber verschwindet bald mit seiner Ursache, ohne eine Spur seines Daseins zu hinterlassen. Wenn aber das denkende Princip spontan thätig ist, so eignet es sich, indem es wirkt, eine geheime Befähigung noch weiter zu wirken an: das ist die aktive Gewohnheit, und diese Gewohnheit ist eben das Gedächtnis.« – »Die Erinnerungen, so bemerkt derselbe, erfolgen auch um so rascher und sicherer und stehen um so mehr in unserer Macht, je mehr sie solche von intellektuellen Operationen sind.«
Vielleicht wird er die Notwendigkeit einsehen, dieser Theorie noch hinzuzufügen, dass zwei Vorstellungen sich nicht allein in dem Falle einander wachrufen, wenn sie thatsächlich zusammen stattgefunden haben, der Fall, aus welchem der Positivismus alle ihre Beziehungen ableitet, sondern auch hauptsächlich dann, wenn sie gewissermassen geschlossen in ein und dasselbe Bewusstsein eingehen, wenn sie Teile desselben Gedankens bilden, und der Geist die eine durch die andere vervollständigt. Wie das Auge beim Erblicken einer Farbe ringsum die complementäre sieht, wie das Ohr beim Vernehmen eines Tones sogleich andere zu ihm harmonische hört, so denkt auch die Intelligenz, wenn ein Begriff ihr entgegentritt, unmittelbar an das, was ihn in einer oder der anderen Weise ergänzt: also nicht nur an die äusseren und zufälligen Umstände, mit denen zusammen sie ihn ein früheres Mal dachte, sondern noch mehr an das, was ihm ähnlich oder entgegengesetzt ist, was von ihm abhängt, oder wovon er abhängt. Mit anderen Worten das Princip der Association und des Gedächtnisses ist kein anderes als die Vernunft.
Man kann hinzusetzen, dass, da durch diese Beziehungen in der Erkenntnis oder der Wirklichkeit Alles näher oder ferner zusammenhängt, der Geist nicht nur von einem Gegenstande zu einem zweiten, sondern von diesem zu einem dritten u. s. f. übergeht, so dass bei jedem ihn betreffenden Eindrucke möglicherweise die ganze fast unendliche Reihe seiner Vorstellungen erregt, wenn auch nicht ganz in das helle Licht des Bewusstseins gebracht wird.
Die Materialität, unter deren Herrschaft teilweise unsere Sinne stehen, verursacht in uns das Vergessen; der reine Geist, welcher ganz Thätigkeit und eben dadurch vollendete Einheit, ganz Dauer und Erinnerung ist, der immer allem und sich selbst gegenwärtig ist und ohne jemals nachzulassen alles, was ist, was war und vielleicht, wenn man soweit wie Leibniz gehen will, alles, was sein wird, in seinem Blickfelde hat, der reine Geist sieht nach einem bereits angeführten Worte alles unter der Form der Ewigkeit.
Die positivistischen oder rein empiristischen Lehren glauben die Bildung unserer Erkenntnisse und Erinnerungen allein durch angehäufte Empfindungen erklären zu können; sie vergessen die intellektuelle Thätigkeit, die, nachdem sie aus sinnlichen Elementen diese oder jene Wahrnehmung zusammengesetzt hat, aus mehreren Wahrnehmungen Gruppen bildet, Einheiten, deren verschiedene Bestandteile sich nachher gegenseitig reproduzieren. »Der Materialismus, sagt Gratacap, ist ein seltsamer Irrtum: er entlehnt von der Seele ihre Seinsformen, projiciert sie ausserhalb derselben und construiert sich mit ihnen die Materie, und die so zu Gunsten des Körpers beraubte Seele leugnet er.«
Wie wir gesehen haben, erscheinen die Lehren, die die Lebensthätigkeiten durch die Organe zu erklären vorgeben, im Grunde erschüttert zu sein; man scheint mehr als früher darüber einig zu werden, dass es gerade die Lebensthätigkeit ist, die das Organ bildet, dass Leben nach dem Ausdrucke von Cl. Bernard schaffen heisst, und was schaffen? eben den Organismus. Ebenso, mag auch die Lehre, welche die Intelligenz durch die Sinne erklären will, Beträchtliches unter den Händen von Herbart und anderen deutschen Psychologen oder unter denen der Engländer geleistet haben, mag sie mit einer ganz neuen Exaktheit über die empirischen Bedingungen der geistigen Entwicklung Rechenschaft geben, so scheint es doch gerade dadurch deutlicher zu werden, dass ein Anteil bei dieser Entwicklung von der Intelligenz selbst kommt, und dass dieser Teil fast das Ganze ist; dass die Thätigkeit des Geistes im Grunde darin besteht, überall sich selbst wiederzufinden und alles durch sich auszudrücken, und also selbst dann, wenn er die Natur betrachtet, ein genaueres Bewusstsein seines Könnens und Seins zu gewinnen, und mit Benutzung selbst dessen, was ihm scheinbar entgegengesetzt ist, sich selbst tiefer aufzufassen; es scheint zu erhellen, dass die Empfindungen nur das Material für die intellektuelle Thätigkeit liefern, und dass dieses Material seinerseits von der intellektuellen Thätigkeit auf einer früheren Stufe bereits zubereitet worden ist; dass, wenn die Seele das Gewebe der äusseren Welt voraussetzt, um es in sich nachzubilden, sie es doch wieder selbst ist, die es aus ihrer eigenen Substanz webte.
»Wenn man will, so hat der Verfasser der »Neuen Versuche« gesagt, dass die Principien der Dinge sich in unserem Geiste wie auf einem Grunde abbilden, so muss dies ein elastischer und thätiger Untergrund sein, der das, was er aufnimmt, modificiert.«