Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

XXIV.
Janet gegen den Materialismus.

Paul Janet äusserte in einer der »Société médico-psychologique« vorgetragenen Besprechung des Buches von Bouillier die Ansicht, dass die vom letzteren zu Gunsten des Animismus entwickelten Gründe bündig wären unter der Voraussetzung, die er als von vornherein feststehend angenommen hätte, dass der Vitalismus im allgemeinen sowohl über den Organicismus als über den absoluten Materialismus den Sieg davon getragen hätte. Aber diese Voraussetzung selbst, so meinte Janet, sei durch Bouillier nicht genügend bewiesen, und er hat sich deshalb daran gemacht, es selbst zu thun in einer ausführlichen Arbeit, welche in der Revue des Deux Mondes 1863 unter dem Titel: Der »Materialismus der Gegenwart« (Le matérialisme contemporain) erschien und im folgenden Jahre in die »Bibliothèque de Philosophie contemporaine« in erweiterter Form aufgenommen wurde.

In diesem Schriftchen entwickelt Janet den Materialismus in der Form, die ihm einige deutsche Naturforscher und besonders Büchner, der Schüler Moleschott's und Verfasser von »Stoff und Kraft« (ein Buch, das in 5 Jahren 7 Auflagen erlebte und ins Französische übertragen wurde) gegeben haben, und kritisiert die Gründe, durch die man zu allen Zeiten und auch jetzt noch beweisen zu können vermeint hat, dass die sogenannte Materie der Erklärungsgrund für Alles sei.

Die Argumente, welche Janet dem Organismus, der Ansicht, dass die einmal organisierte Materie zum Leben befähigt ist, entgegenstellt, laufen auf folgende zwei hinaus: Erstens, und dies ist gerade das Argument, welches vertieft bis zum Animismus des Stahl und Aristoteles führt; die Zusammenstimmung des Einzelnen zu einem Ganzen erklärt sich nicht genügend aus der Voraussetzung des Lebens in den einzelnen mehr oder weniger selbständigen Organen; zweitens: gesetzt auch dass durch die Organe das Leben erklärt werden könnte, woraus erklärt sich die Bildung der Organe selbst als wieder aus dem Leben?

Wie soll man nun unabhängig vom Organismus und als die Grundlage für den Organismus die Materie sich denken?

Der Materialismus unserer Zeit ist ein anderer als der, welcher Alles durch die passiven Elemente der Körper erklärte; er nimmt als einziges und allgemeines Princip eine aktive Materie an, welche in sich Kraft besitzt,

Die Begründer des Materialismus, Leukipp und Democrit, glaubten die Welt aus der blossen Gestalt und Anordnung körperlicher Elemente erklären zu können; nur nahmen sie noch, um über das Zusammentreffen derselben und die daraus hervorgehenden Gruppierungen Rechenschaft geben zu können, von Ewigkeit her bestehende und nach allen Seiten gerichtete Bewegungen an. Epikur legte seinen Atomen, um die Absurdität dieser ursachlosen Bewegungen möglichst zu umgehen, nur eine ursprüngliche und natürliche Bewegung bei, auf Grund deren sie, die Abwesenheit hindernder Ursachen vorausgesetzt, in parallelen Bahnen wie die Regentropfen in den unendlichen leeren Raum hinabgefallen wären; und um die Zusammenstösse zwischen denselben zu erklären, schrieb er ihnen eine rätselhafte Fähigkeit, von der Richtung ihres natürlichen Falles abzuweichen, zu; allerdings seien die Abweichungen nur äusserst gering, aber ausreichend, um auf die Dauer zu Zusammenstössen zu führen.

Derart war der Materialismus in jener entfernten Vergangenheit; derselbe musste der Materie zunächst Bewegungen beilegen, die im Materiellen keine Erklärung fanden; dann musste zu der einen für natürlich ausgegebenen Bewegung noch eine zweite hinzugedacht werden, die noch deutlicher den Charakter der Spontaneität, des freien Wollens an sich trug.

Die Stoiker, welche erkannten, dass die Bewegung ohne eine Thätigkeit oder eine bewegende Kraft nicht zu begreifen ist, betrachteten Materie und Kraft als zwei verschiedene aber untrennbare Elemente. Dieselbe Lehre bildet den Kern des Materialismus der Gegenwart: Keine Materie ohne Kraft, keine Kraft ohne Materie, sagt Büchner; das ist aber eigentlich kein Materialismus mehr, der durch die Materie allein Alles erklärte.

Janet hat nun gezeigt, dass, wenn man die Materie mit Kraft als einem wesentlichen Bestandteile derselben ausstattet, man zugibt, dass Materie nichts sich selbst Genügendes, sondern ein Unvollständiges, der Ergänzung Bedürftiges, also nur ein Teil eines Wirklichen, eine Abstraktion ist, welche durch den Namen den Anschein einer wahren und ganzen Realität gewinnt. Der Begriff der Materie bedeutet eben in Wahrheit nur den Begriff desjenigen, woraus man Etwas macht, indem man ihm Gestalt gibt, und das so aus einem Zustande der Unbestimmtheit und Unfertigkeit in einen Zustand der Bestimmtheit und Vollendung übergeht. Daraus folgt, dass, wenn man eine Materie vor aller Form, eine materia prima oder absolute Materie suchen will, man nur auf ein eigentliches Nichts kommen kann.

In der That, was bedeutet der Begriff von Etwas, das keinerlei bestimmte Art zu existieren hätte; das ist der ganz abstrakte Begriff des reinen und einfachen Seins, welcher, wie wir bei Gelegenheit des Ontologismus bemerkt haben, mit dem des Nichts identisch ist. Wenn man also, in einer der fraglichen Theorien, Alles aus der Materie allein erklären zu können scheint, so verbindet man thatsächlich mit dem Begriffe der Materie denjenigen von irgend etwas Anderem, was die ihr zugeschriebene Art der Bestimmtheit ausmacht. Der absolute Materialismus hat nie existiert und kann nie existieren.

Worin besteht also der Materialismus dieses oder jenes Systems? In der Theorie, welche, ohne bis zu den letzten Consequenzen ihres Princips zu gehen, die Dinge durch ihr Material, durch das, was an ihnen Unfertiges ist, erklärt, und in dem Unfertigen den Grund für ihre Vollendung zu linden glaubt, Nach der ausgezeichneten Definition Comte's, durch die er selbst von der Höhe seiner späteren Philosophie über seine frühere das Urteil gesprochen hat, ist der Materialismus die Lehre, die das Höhere durch das Niedere erklärt, Worin liegt der Fehler derselben? Darin, dass es ein Widerspruch ist, wie Aristoteles sagte, dass das Bessere aus dem Schlechteren entstelle, dass das Weniger ein Mehr hervorbringe. Und wenn es dem Materialismus scheinbar gelingt, in einem oder dem anderen Falle das Höhere durch das Niedere zu erklären, so kommt es daher, dass er durch eine versteckte Subreption in das Niedere schon das Höhere hineingelegt hat, welches er nachher aus demselben hervorgehen zu lassen glaubt. Wenn man die Intelligenz aus der Empfindung, den Geist aus dem Körper erklärt, so geschieht es dadurch, dass die Empfindung notwendig ein Intellektuelles, und der roheste Körper notwendig ein Geistiges einschliesst.

Das vollendete Werk ist es, welches den Versuch, das Vollständige und Vollendete ist es, was das Unvollständige und Unfertige, das Höhere, was das Niedere erklärt. Folglich ist es der Geist allein, der Alles erklärt.


 << zurück weiter >>