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Charles Renouvier hat wie Renan vorgeschlagen, die gemeinhin sogenannte Philosophie durch eine »Kritik« oder den »Kriticismus« zu ersetzen; er beschäftigt sich mit diesem Gegenstande in seinen »Essais de critique générale,« deren erster Band 1854, der zweite 1859, der dritte und vierte 1864 erschienen.
Renouvier hat vor, das Unternehmen des berühmten Verfassers der Kritik der reinen Vernunft weiterzuführen. Er billigt mit Kant den Grundsatz aller der Schulen, die man empirische nennen kann, dass unsere Erkenntnis nicht über Erscheinungen hinausgeht. Alles Wirkliche, das man sich in einer anderen Sphäre als der der sinnlichen Erfahrung denkt, ist in seinen Augen blosse Chimäre. Dinge an sich ausserhalb der Beziehungen, welche unsere Sinne uns kennen lehren, Substanzen, wie sie die Mehrzahl der Metaphysiker verstehen oder zu verstehen glauben, sind nichts als leere Einbildungen, und die Metaphysik ist nur eine »Idologie«. In dem Begriffe eines Vollendeten und Vollständigen, eines Unendlichen, einer reinen Einheit, einer Intelligenz, die sich selbst betrachtet, und selbst in dem einer allgemeinen Ordnung sieht er nur Widerspruch und Absurdität; die Nachforschung nach einem Absoluten irgend welcher Art führt nach ihm nur in einen Abgrund von Irrtum oder vielmehr Unsinn. Das sind dieselben Gedanken, welche in fast den gleichen Ausdrücken Hamilton und besonders Comte, Littré, Bain, Mill und Taine, sowie alle diejenigen aussprechen, die mit Renouvier der Metaphysik den Krieg erklärten.
Doch ist Ren. kein Anhänger der positivischen Lehre: er wirft ihr einen überall vorausgesetzten, aber nirgends bewiesenen Sensualismus vor; dieser Sensualismus erscheint ihm roh. Man ist seiner Meinung nach wissenschaftlich zurückgeblieben, wenn man keine Rücksicht auf die durch Kant der Wissenschaft erworbene Einsicht nimmt, dass das Sinnliche in der Erscheinung nur ein Element und dass es noch eine andere notwendige Bedingung der Erscheinungen giebt, nämlich die Formen, unter denen wir sie auffassen, und die unser Werk sind, jene Arten des Denkens, welche Kant nach Aristoteles Kategorien nannte. Der Positivismus, wie überhaupt die materialistischen Theorien, betrachtet die Erscheinungen ausserhalb unseres Bewusstseins als sich selbst genügend, ohne die Form und Einheit, die wir ihnen geben, in Rücksicht zu ziehen. Ren. erklärt dagegen mit Kant, dass die Erscheinung nur etwas für uns ist in der Vorstellung, die wir uns von ihr machen; und diese Vorstellung ihrerseits machen wir uns, indem wir sie im Bewusstsein appercipieren. Man kann also zwei Faktoren unterscheiden, das Vorgestellte und das Vorstellende, oder wie R. sagt, das »Repräsentative«; mit anderen Worten das Objekt und das Subjekt der Vorstellung, zwei verschiedene und in gewisser Hinsicht entgegengesetzte Glieder, die jedoch in einer andern Hinsicht, die die Ergänzung zur ersten bildet, den Charakter ihres Gegenteils haben. In der That ist das Subjekt im Bewusstsein, wenn sich dies bis zur Reflexion erhebt, sich selbst Gegenstand; und da das Objekt eine Vorstellung im Bewusstsein ist, ein Gedanke, der nichts von dem denkenden selbst Verschiedenes ist, so ist das Objekt auch Subjekt, und alles Vorgestellte ist nach dem Ausdrucke von Ren. zugleich ein Repräsentatives. Die beiden Elemente der Vorstellung sind also nur zwei untrennbare Seiten derselben Thatsache, zwei Glieder eines Verhältnisses. Aus dieser Beobachtung schliesst der Verfasser des Essai de critique, dass der materialistische Realismus, der nur das Vorgestellte kennt, ohne Rücksicht zu nehmen, was das Vorstellende hinzuthut, und der spiritualistische Idealismus, der nur das Vorstellende betrachtet, zwei gleich falsche Theorien sind: die wahre Lehre wird die Verbindung beider Elemente, das Verhältnis beider Glieder als das wahrhaft Wirkliche ansehen.
Fast in derselben Weise trat zwischen den Materialismus der Epikuräer und den Spiritualismus des Plato und Aristoteles die vermittelnde Lehre der Stoiker, welche das passive und das aktive Princip für die zwei gleich notwendigen Hälften eines unsichtbaren Ganzen erklärte.
Renouvier widerlegt leicht den materialistischen Realismus, vielleicht nicht ganz so gut die entgegengesetzte Theorie. Wenn das materielle Element nicht eines Princips entraten kann, das ihm Form und Einheit giebt, so ist es vielleicht nicht ebenso einleuchtend, dass dies letztere nicht für sich bestehen kann. Die Vielheit lässt sich nicht ohne die Einheit begreifen, welche eine Zahl aus ihr macht; die Einheit dagegen begreift sich durch sich selbst. Was wahr ist in Bezug auf das Negative, das für sich selbst Nichts ist, ist es deswegen nicht für das Positive.
Die Vorstellung ist, wie Ren. lehrt, nur unter der Voraussetzung der Formen des Vorstellens, die man Kategorien nennt, möglich; und er unternimmt nach Kant den schwierigen Versuch, sie aufzuzählen und zu classifizieren. Da alles in der Vorstellung relativ ist, so stellt er als herrschende Kategorie an die erste Stelle die der Relation, und lässt dann diejenigen der Zahl, des Raumes, der Zeit und der Qualität folgen, welche die Eigentümlichkeit bestimmen, in der sich in unserer Erfahrung die Relationen der Erscheinungen darstellen; zuletzt kommen diejenigen, welche die Positivisten und Kant selbst eliminieren und auf die ersten zurückführen wollten, die Ideen der Ursache, des Zweckes und der Persönlichkeit, welche letztere die beiden anderen einschliesst. Wir können in der That nicht begreifen, wie eine Ursache eine Bewegung bestimmt, ohne zu denken, dass sie sich einen Zweck setzt; und sich einen Zweck zu setzen oder zu wollen, ist nur bei einem Wesen denkbar, welches wie wir »Ich« sagen kann, also bei einer Person.
Die Analyse, welche Ren. vornimmt, führt ihn zu dem Ergebnisse, dass, wenn in einer Vorstellung eine einzelne Kategorie auch vorwiegt, es doch keine einzige giebt, bei der nicht alle Kategorien betheiligt sind, kein Vorgestelltes, das sie nicht alle mitbestimmen. Demnach macht Ren. die wichtige Beobachtung, dass alles den Kategorien unterworfen ist, dass nichts in unserer Erkenntnis vorkommt, in dem wir nicht Kraft und Zweck antreffen, in dem wir nicht in noch so geringem Grade etwas von Persönlichkeit antreffen; mit anderen Worten, dass wir uns die Natur nur unter den Bestimmungen des Geistes denken können. Das ist ein selbständiges und hochbedeutsames Resultat seiner mühsamen Untersuchungen. Was die entsprechende umgekehrte Behauptung betrifft, dass wir uns alles nur unter den Kategorien oder den Bedingungen der physischen Erscheinung vorstellen, so ist es vielleicht am Platze, entsprechend der soeben gemachten Bemerkung über die Unabhängigkeit des höheren Princips, zu betonen, dass im allgemeinen zwar unsere Vorstellungen den Naturkategorien unterworfen sein mögen, dass es aber eine giebt, welche davon ausgenommen ist, nämlich die Vorstellung eben der Aktivität, durch welche wir unsere Vorstellungen bilden, einer Aktivität, die unser eigentliches Sein bezeichnet.
Nach Ren., der ein Feind alles Absoluten, jeder vollendeten Einheit ist, ist ein denkendes Wesen, wie sich auch Taine gewöhnlich ausdrückt, nur eine Gruppe oder Reihe aufeinander folgender Gedanken; ein Satz, mit dem sich, beiläufig, weder die Identität der Person noch das Gedächtnis vereinbaren lässt. Persönlichkeit ist also für Ren. wie alles Uebrige auch Erscheinung; aber andrerseits, und durch diesen Satz erhebt er sich weit über den materialistischen Positivismus, setzt Erscheinung ein Denken, ein Wollen, Persönlichkeit voraus. Also die Seele findet überall die Seele wieder zum mindesten in Spuren, und Nichts kann sie sich vorstellen ausser nach dem Muster des Typus, welcher in ihr liegt, und den sie in sich bemerkt. Beim näheren Studium dieses Typus, das den Inhalt des zweiten seiner Essais bildet, erkennt R., immer den Spuren des unsterblichen Verfassers der Kritik der reinen Vernunft folgend, als den charakteristischen, wesentlichen und herrschenden Zug desselben die Freiheit an. Die Freiheit gilt ihm als der Kern des Menschen; sie ist nicht nur das Princip unserer Handlungen, sie ist auch das unserer Ueberzeugungen.
Die Klarheit, sagte Descartes, ist die Grundlage aller Gewissheit; die Klarheit aber ist nach Ren. nur mit der einfachen Auffassung der einfachen Erscheinungen verbunden. Im übrigen heisst gewiss sein soviel als glauben, und die Grundlage des Glaubens ist die freie Wahl inmitten aller möglichen Gelüste. Einer Sache gewiss sein heisst, im Grunde sie billigen als entsprechend unserer moralischen Bestimmung, und diese Billigung ist ein Akt der Freiheit. Will man einwenden, dass eine derartige Gewissheit viel Ungewissheit einschliesst? Renouvier gesteht dies zu; »Es ist, sagt er, die Eigentümlichkeit des Dummkopfs selten zu zweifeln, die des Narren nie zu zweifeln; den Menschen von gesunder Vernunft erkennt man daran, dass er viel zweifelt.«
Welche Kritik man auch an diesen Gedanken üben mag, so stellen sie doch in der Form, die ihnen Ren. gegeben hat, eine sicher beachtenswerte Theorie dar, insofern sie eine enge Verknüpfung zwischen Gewissheit und Glauben, Glauben und Wollen begründet. Wenn, wie Pascal sagt, das Gute das oberste Princip und den höchsten Grund darstellt, so ist das Gute zuletzt die oberste Regel des Wahren. Wer aber ist der Richter über das Gute anders als das Herz, dessen natürliche Bestimmung im Guten liegt? und warum sollte man also nicht mit Pascal sagen, dass das Herz es ist, was über die Principien urteilt? Das Herz aber ist die Liebe, und die wahre Liebe ist einerlei mit der wahren Freiheit. »Der Geist ist die Liebe«, sagt das Christentum und »der Geist treibt, wozu er will«.
Nachdem der Mensch als frei und seine Freiheit inmitten der Veränderungen der Naturgegenstände als befestigt befunden worden ist, erhebt sich eine Frage: Ist nämlich seine Bestimmung zeitlich beschränkt, oder wird sie sich ins Unendliche fortsetzen? Das ist die Frage der Unsterblichkeit.
Ohne einen Beweis geben zu wollen, ist Ren. der Meinung, dass berechtigte Induktionen uns eines endlosen Lebens versichern. Diese Induktionen ergeben sich sowohl aus der Analogie der Natur, wo Nichts zu Grunde geht und alles in veränderter Form fortdauert, als auch besonders aus Analogien in der geistigen Welt. Bewusstseinsmittelpunkte, welche dauern und ohne Zweifel immer klarer werden, sind ebensoviele Götter; und warum, so denkt Ren., sollte es nicht viele Existenzen von höherer Ordnung, als wir selbst sind, geben, auf welche die Erscheinungen der Wirklichkeit als auf ihre Principien zu beziehen wären? Götter also und vielleicht auch ein höherer sie beherrschender Gott; aber einen Gott, wie ihn das Christentum und die Metaphysik sich denken, einen Gott ohne Schranken und Mängel, eine weise und gütige Allmacht will Ren. nicht zugeben. Wie ein anderer hervorragender Schriftsteller unserer Zeit, Louis Ménard, so scheint auch Ren. durch seine demokratischen politischen Ideen zu ähnlichen in der Theologie geführt worden zu sein. Während alle Metaphysiker geglaubt haben, dass man sowohl durch die Betrachtung der Natur mit ihrer Harmonie als auch durch diejenige der sittlichen Ordnung notwendig auf eine Einheit hingewiesen würde, so gerät man nach Ménard und Renouvier, wenn man sich nicht an eine ursprüngliche Vielheit hält, in alle die Unzukömmlichkeiten, welche in der menschlichen Gesellschaft der Despotismus und die Tyrannis nach sich ziehen. – Vielleicht genügt es indes, um sie zu vermeiden, wenn man sich die göttliche Einheit nicht wie Spinoza in einer im Grunde physischen Art denkt, als eine Art Weltstoff, von dem die Individuen nur notwendige Modifikationen sind und der nirgends Raum für eine freie Individualität lässt, sondern so, wie dieselbe von jeder ihres Namens würdigen Metaphysik aufgefasst wird: als eine absolute Schönheit, welche nur durch die Liebe, die sie in den Dingen erregt, auf sie wirkt, und die also eben durch die Art ihres Wirkens sie unabhängig und frei macht. Pascal sagte: »Eine Vielheit ohne Einheit bedeutet die Anarchie; die Einheit ohne Vielheit ist die Tyrannis«; und ein griechischer Dichter: »Zu zeigen, wie Alles in Einem und doch jedes Ding für sich ist, das ist die Aufgabe«.
Ren. ist dem Pantheismus abgeneigt, der alles in die Einheit Gottes auflöst. Lieber als zu diesem würde er sich noch zum Atheismus neigen. In seinem ersten Bande hatte er sogar, das Paradoxon Proudhon's in gewisser Weise nachahmend, geäussert, dass der Atheismus die wahre wissenschaftliche Methode wäre. In seinen folgenden Bänden lässt er von seiner Starrheit ab und will nicht mehr zu der Zahl der Atheisten gerechnet werden. Immerhin bleibt er beständig ein ausgesprochener Gegner jeder Theologie oder Philosophie, welche mit einer Einheit, einem Unendlichen oder Vollendeten abschliesst.
Von dem entschiedenen Phänomenalismus oder Repräsentationismus des ersten Teils seiner Essais scheint Ren. jedoch in den folgenden Teilen in mehrfacher Hinsicht auf Ideen zurückzukommen, die weniger von denen der Metaphysiker abwichen. Bei der Prüfung der verschiedenen Gebiete der Natur und besonders bei der Betrachtung der Menschheit gelangt er zu der Einsicht, dass alle Wesen offenbar eine Bestimmung haben, dass ein allgemeines Gesetz des Zweckes ein wesentlicher Teil der Weltordnung ist, und dass also alle Individuen bestimmt sind, sich in unendlichem Fortschritt zu vervollkommnen, Behauptungen, die über das hinausgehen, was man nach den Principien seiner Untersuchungen erwarten konnte; und er gesteht weiter zu, dass man, sollen anders die Mittel der Verwirklichung der besonderen Zwecke gesichert und die sittliche Ordnung der Welt befestigt erscheinen, zu dem Glauben an einen wirklichen höchsten Gott übergehen muss, in welchem alles Gute gipfelt, zu dem Glauben »an die Existenz des Reiches Gottes.« – So erscheinen, wie er bemerkt, der Theismus und das Absolute wieder in dem Ideale der sittlichen Vollendung, in der Bejahung des Guten als des Gesetzes der Welt und einer die Erfahrung umfassenden und beherrschenden sittlichen Ordnung. Doch aber ist es wahr, dass wir von diesem Absoluten nichts wissen ausserhalb der Beziehungen, welche die Bedingungen unseres Bewusstseins bilden, und es ist also gewissermassen nur ein relatives Absolutes, und selbst bei dieser Ausdrucksweise bezeichnet das Absolute nur die Negation, die Unbestimmtheit, die Unwissenheit. Das ist beinahe, nur mit einer mehr moralischen Färbung, die Sprache Spencer's in Bezug auf das grosse Unbekannte, dessen Existenz man ihm zufolge jenseits des Bereiches der Erscheinungen, in welches der materialistische Positivismus sich einzuschliessen sucht, zugeben muss. Aber bekannt oder unbekannt, auf ein Absolutes, ein Unendliches, und zwar ein Absolutes, das im Besitz der moralischen Vollkommenheit ist, weisen zuletzt als auf ihren Abschluss die Spekulationen Comte's sowohl als auch die von Taine, Renan und Renouvier hin.