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IX.
Comte's spätere Philosophie.

Comte geriet jedoch allmählich auf einen ganz anderen Weg, als denjenigen, den Littré und Mill ihm folgend eingeschlagen hatten: von seinem anfänglichen Positivismus ging er stufenweise zu einer Metaphysik und Religion über.

Einer der bedeutendsten unter den Gelehrten, welche in England dem Positivismus beistimmten, Spencer, verkündete zwar, dass wir nichts als Relationen erkennen, doch machte er einen wichtigen Vorbehalt. Den Begriff des Relativen selbst, so sagte er, kann man ohne seinen Gegensatz nicht verstehen; und wir denken uns in der That hinter den Relationen der Erscheinungen das Absolute; es ist dies das Etwas, welches ausserhalb aller Wissenschaft liegt und der Gegenstand der Religion ist; etwas Geheimnissvolles, Dunkles, über das keinerlei Aufklärung zu gewinnen ist.

Dass aller Erkenntnis ein Absolutes zu Grunde liegt, dem als sein Gegensatz das Relative entspricht, behauptete schon vor mehr als 2000 Jahren gegen eine bereits damals herrschende Lehre der allgemeinen Relativität und Veränderlichkeit die platonische Dialektik, die der Metaphysik den Weg bahnte. Sie that mehr: sie zeigte, dass durch dies Absolute allein die Relationen begreiflich sind, weil es der Massstab ist, an dem wir sie beurteilen. Die Metaphysik leistete unter den Händen ihres unsterblichen Begründers noch mehr: sie zeigte, dass das Absolute, an welchem die Intelligenz das Relative misst, die Intelligenz selbst ist. Dies wiederholte dann Leibniz, als er auf die durch Locke wiederholte scholastische Behauptung, dass nichts im Verstande sei, was nicht zuvor im Sinne war, entgegnete: ausser der Verstand selbst, und als er in der Intelligenz den höheren Massstab für die Sinnlichkeit nachwies.

In der Gegenwart hat ein Weib von grosser Gelehrsamkeit und durchdringendem Verstande ein tiefes Bewusstsein dieser Wahrheit gehabt. Sophie Germain verdiente nicht nur durch selbständige Arbeiten über die Zahlentheorie und die Berechnung krummer Flächen die Bewunderung von Gauss und Lagrange; in ihren »Betrachtungen über den Zustand der Wissenschaft, Literatur und Kunst in den verschiedenen Kulturepochen«, welche kurz nach ihrem Tode 1833 erschienen, deutete sie mit einer beachtenswerten Correktheit des Denkens und des Ausdrucks den Gesichtspunkt an, auf den Spencer noch nicht gekommen ist, und von dem aus sich gleichzeitig erklärt, wie man die Dinge anfänglich betrachten müsse und wie man sie wahrscheinlich schliesslich begreifen wird.

Es existiert in uns, sagt S. Germain, ein tiefes Gefühl für Einheit, Ordnung und Proportion, welches der Leitstern für unser Urteilen ist. Wir schöpfen aus demselben den Massstab des Guten in moralischen Dingen, die Erkenntnis des Wahren im geistigen Gebiete und das Kennzeichen des Schönen bei den Gegenständen des blossen Gefallens. Und nachdem sie das Widerspruchsvolle in den Theorien aufgedeckt hat, nach denen es nur relative Wahrheiten giebt, legt sie dar, dass notwendig ein Massstab existiert, nach welchem wir urteilen, vergleichen und messen, und dass wir diesen Massstab in dem Bewusstsein unseres eigenen Seins finden. »Wird man zweifeln, dass der Begriff des Seins eine absolute Realität hat, wenn man sieht, wie die Sprache der Rechnung aus einer einzigen Bestimmung, welche sie verfolgt, alle Bestimmungen, die mit der ersten in einer gemeinsamen Wesenheit zusammenhängen, hervorgehen lässt?« Der Fortschritt der Wissenschaft besteht darin, dass durch Beobachtung und Rechnung alles auf die Einheit eines Seins zurückgeführt wird, für die in unserer eigenen Existenz das Vorbild gegeben ist. »Das Sein stimmt zu uns, es durchdringt unseren Geist und erhellt ihn mit der Fackel der Wahrheit. Die Ideen des Schönen und Guten sind zusammengesetzterer Art: wir verdanken sie der Vergleichung der erworbenen Erkenntnisse mit unserem inneren Muster.« Und weiter: »der Gleichförmigkeit der Bedingungen des Seins entspricht das Gefühl für Analogie, welches alle Handlungen unseres Verstandes beherrscht. Heutigentages, wo verschiedene Zweige der Physik dem Bereiche der mathematischen Forschung einverleibt worden sind, sieht man mit Verwunderung dieselben Integrale nach Massgabe der Constanten, welche verschiedenen Erscheinungsgebieten entnommen sind, Thatsachen darstellen, zwischen denen man nicht die geringste Analogie vermutet hätte. Ihre Aehnlichkeit tritt jetzt zu Tage; sie ist eine intellektuelle und leitet sich aus den Gesetzen des Seins ab; und was einst der Traum einer kühnen Phantasie war, die noch unklar war über die Formen der Einkleidung, die Identität der Zusammenhangsformen und Proportionen in den verschiedensten Gebieten der Wirklichkeit, wird den Augen und dem Denken gleichzeitig klar mit der den exakten Wissenschaften eigenen Evidenz.«

Soweit ging Comte niemals; niemals wollte er zugeben, dass die Intelligenz irgend eine unmittelbare Erkenntnis von sich selbst hätte; niemals also konnte er daran denken, dass die Intelligenz in sich selbst den Massstab des Wahren, Guten und Schönen, überhaupt das Absolute fände, an welchem das Relative geschätzt wird. Er sah nicht einmal, wenigstens nicht so klar wie Spencer die Notwendigkeit ein, dass einem Relativen immer ein Absolutes entspräche. Doch strebte er von Anfang an in allem nach Einheit, indem er einer Neigung folgte, deren Quelle ihm entging. D'Alembert hat gesagt, dass das Universum für den, der es übersehen würde, eine einzige Thatsache, eine grosse Wahrheit sei. S. Germain fügte dem hinzu, dass diese einzige Thatsache eine notwendige sein würde. Ohne soweit zu gehen, das wäre die Leugnung des ganzen Positivismus gewesen, strebte Comte mit aller Anstrengung seines Denkens danach, die Dinge als eine Einheit zu begreifen. S. Mill, der dem positivistischen Princip, sich nur an die Thatsachen zu halten, treuer war, kritisierte an Comte lebhaft diese Voreingenommenheit, welche der beständige Gebrauch der Ausdrücke: System, systematisieren u. s. w. verrät; er wundert sich darüber und sieht darin die Wirkung einer Neigung des französischen Geistes, der immer ein Freund der Ordnung und Einheit ist. Dies Bedürfnis nach Ordnung, welches Mill bei Comte durch einen Zug unseres National-Charakters erklärt, trifft man, nach der Bemerkung von S. Germain, bei allen höheren Geistern.

Der blosse Empirismus ist unfruchtbar, sagt Comte einmal; und er setzt dazu, dass man, um sich unter der unendlichen Menge und Mannigfaltigkeit der Thatsachen zu orientieren, immer einen leitenden Gedanken braucht, sei er auch eine blosse Hypothese, und dass es Sache der Imagination ist, der Beobachtung den Weg zu bahnen. Diese Idee entspricht derjenigen des Cartesius, dass man, selbst wenn uns die Dinge keine Ordnung zeigen, ihnen doch eine beilegen muss, um zu ihrer Kenntnis zu gelangen. Comte sagte ferner: »Alle Wissenschaft besteht in der Anordnung der Thatsachen; man kann selbst allgemein behaupten, dass die Wissenschaft wesentlich bestimmt ist, soweit es die verschiedenen Erscheinungen zulassen, die direkte Beobachtung überflüssig zu machen, indem sie es ermöglicht aus der kleinstmöglichen Zahl unmittelbarer Data die grösstmögliche Zahl von Folgen abzuleiten. Ist dies nicht der wirkliche Gebrauch, den wir bei der wissenschaftlichen Betrachtung und in der Praxis von den entdeckten Naturgesetzen machen?« Also ist es nach dem Schüler Baco's und Hume's, der in diesem wesentlichen Punkte mit Descartes und Leibniz übereinstimmt, das Denken, welches auf Grund einer vorläufigen Regel der Erfahrung ihren Weg bahnt, und es ist das Endziel der Wissenschaft, durch eine endgültige Systematisierung die Beobachtung entbehrlich zu machen und die Erfahrung durch die Deduktion zu ersetzen.

Als Comte im Verlaufe seiner encyklopädischen Arbeit über das Allgemeine in den Wissenschaften von der Betrachtung des Unorganischen zu der des Lebendigen überging, that er noch einen Schritt mehr, oder vielmehr es öffnete sich vor ihm ein ganz neuer Weg, der ihn zu einem fast entgegengesetzten Standpunkte führte, als sein anfänglicher war, von seinem geometrischen Materialismus kam er zu einer Art von Mysticismus. Allerdings trugen besondere Lebensumstände dazu bei, und die Regungen seines Herzens beeinflussten die seines Verstandes; aber diese Verhältnisse beschleunigten doch nur die Umwälzung, die früher oder später je nach dem Fortgange seiner Studien aus dem ihm angeborenen Gefühl für Notwendigkeit eines Princips der Ordnung und Einheit hervorgehen musste.

Selbst dann, wenn es sich nur um unorganische Objekte handelt, ist es nicht genug für die Wissenschaft, die der Positivismus selbst ausdrücklich als ein Voraussehen definiert, für jedes Phänomen die Umstände zu bestimmen, die ihm erfahrungsgemäss vorangehen oder es begleiten. Wer sagt uns, dass es in der Zukunft notwendigerweise oder auch nur wahrscheinlicherweise ebenso sein wird? Welche Anstrengungen auch S. Mill macht, selbst die skeptischen Consequenzen, die er aus seinen Principien gezogen hatte, vergessend, um zu zeigen, dass die Beobachtung und Ansammlung von Erscheinungen allein genügt, um die Voraussicht ihrer Wiederkehr zu erklären, so genügt doch ersichtlich hierbei die Erfahrung im engeren Sinne nicht. Wenn wir mit Sicherheit und voller Ueberlegung glauben, dass das, was war, auch sein wird, so geschieht es doch nur unter der Voraussetzung, dass ein wirklicher Grund dafür vorhanden ist. Dadurch unterscheidet sich wesentlich die denkende Erwartung des Menschen von der mechanischen des Tieres.

»Der Schatten von Vernunft,« sagt Leibniz, »der bei den Tieren zu beobachten ist, ist nichts Anderes als die Erwartung eines ähnlichen Ereignisses in einem Falle, der einem vergangenen ähnlich erscheint, ohne die Einsicht, ob derselbe Grund gegeben ist. Die Menschen selbst handeln nicht anders in allen Fällen, wo sie nur Empiriker sind; aber sie erheben sich über die Tiere, soweit sie die Verknüpfung der Wahrheiten erkennen.«

An anderer Stelle heisst es: »Die Tiere gehen von einer Vorstellung zu einer anderen über auf Grund einer vorher wahrgenommenen Verbindung; z. B. wenn der Herr den Stock ergreift, so fürchtet der Hund geschlagen zu werden; und in vielen Fällen ist bei Kindern und auch bei Erwachsenen der Uebergang von einem Gedanken zu einem anderen nicht von anderer Art. Man könnte dies in einem sehr weiten Sinne ein Schliessen oder Folgern nennen, wie es Locke gethan hat. Aber ich halte mich lieber an den herrschenden Gebrauch, indem ich diese Ausdrücke für den Menschen vorbehalte und sie auf die Erkenntnis eines Grundes der Verknüpfung der Wahrnehmungen beschränke, den die Empfindung allein nicht an die Hand geben kann, da sie nur die Erwartung einer den früheren Beobachtungen ähnlichen Verbindung der Wahrnehmungen bewirken, wobei vielleicht nicht mehr dieselben Gründe vorhanden sind; dadurch werden die mitunter getäuscht, die sich nur nach den Sinnen richten.« – »Deshalb ist es den Menschen so leicht, die Tiere zu fangen, und passiert es den Empirikern so oft, Fehler zu machen.« Und noch weiter: »Welche Zahl von besonderen Erfahrungen man auch für eine allgemeine Wahrheit hat, so kann man sich doch derselben durch Induktion nicht endgültig versichern, ohne durch Vernunftgründe ihre Notwendigkeit einzusehen.« Das soll nicht heissen, dass die Zahl der Erfahrungen nichts nützt, es soll nur heissen, dass sie, wie gross sie auch sei, nicht genügt ohne die Einsicht in den Grund der Verknüpfung der Dinge, welche die Gewähr giebt, dass diese Verknüpfung immer stattfinden wird. »Wenn die Gründe unbekannt sind, so muss man ohne Zweifel auf die Häufigkeit der Fälle Rücksicht nehmen; denn dann ist die Erwartung einer Wahrnehmung im Gefolge einer anderen, mit der sie in der Regel verbunden ist, vernunftgemäss, besonders wenn es sich darum handelt auf seiner Hut zu sein.« Aber der Nutzen der Einsicht in den Grund einer Thatsache besteht darin, dass sie die Menge der Erfahrungsbeispiele überflüssig macht und sie mit Vorteil ersetzt, indem sie statt einer mehr oder weniger grossen Wahrscheinlichkeit Notwendigkeit und volle Gewissheit giebt. »Die logische Begründung entbindet uns der Versuche, die man immer fortsetzen könnte, ohne doch jemals völlig gewiss zu sein. Es ist gerade die Unvollkommenheit der Induktion, welche man durch die Fälle der Erfahrung bestätigt finden kann; denn es giebt Reihen, in denen man sehr weit fortschreiten kann, bevor man die Veränderungen und Gesetze bemerkt, die in ihnen bestehen.« – Man kann sagen, dass die Induktion auf der Vermutung notwendig bestimmender Gründe nach Analogie beruht, deren völlige Kenntnis die Wissenschaft ausmacht.

In der Entwickelung der Lehre, welche die ganze positivistische Logik ausmacht, und nach der wir nichts von den Dingen wissen, als dass sie einander folgen, hat sich S. Mill selbst gezwungen gesehen, dem Gedanken der blossen Folge ein ganz verschiedenes Element hinzuzufügen, um die Voraussicht von Erfolgen zu rechtfertigen. »Es ist nicht genug, sagt er, beobachtet zu haben, dass die Dinge immer dieser oder jener Art gewesen sind, man muss zeigen, dass sie stets so sein werden.« Man gelangt, ihm zufolge, hierzu durch die Beobachtung, dass ein Ereignis ein Antecedens hat, dem es unbedingt folgt, und nach welchem es zu erwarten, man also berechtigt ist. Offenbar heisst das, unter einer neuen Bezeichnung den Begriff von Etwas, das notwendig bestimmt, also von einer Ursache wieder einführen; aber zugleich heisst es zuwider den Feststellungen Berkeleys, Hume's und des Gründers des Positivismus die Ursache in einer sinnlichen, materiellen Thatsache, in einem blossen Phänomen suchen.

Wie beobachtet man nun Gründe unter den Dingen? Leibniz sagt uns: durch das Licht notwendiger Wahrheiten, ewiger Principien, die auf sie angewandt werden. »Die Erkenntnis der notwendigen Wahrheiten ist das, was uns von den Tieren unterscheidet und uns Vernunft und Wissenschaft besitzen lässt.«

Die Vernunft lehrt uns, dass alles, was in Raum und Zeit erscheint, eben deshalb nur eine Wirkung ist; man nennt das das Princip der Causalität. Die Vernunft, welche den Gedanken des Absoluten und Vollendeten in sich trägt, erkennt nämlich, dass im Grunde nichts Bedingtes bestehen kann, wenn nicht das Unbedingte an sich besteht; und das ist der Fall bei jeder Erscheinung, welche, da sie nicht durch sich besteht, etwas Anderes erfordert, das sozusagen aus seiner Fülle das Ungenügende derselben ergänzt.

Spinoza sagte, dass die Vernunft alles nur unter der Form der Ewigkeit begreift; und Hamilton hat bemerkt, dass, wenn wir einen Grund für eine Thatsache suchen, es deshalb geschieht, weil wir, ausser Stande einen Anfang zu begreifen, das, was zu beginnen scheint, auf eine frühere Existenz beziehen; er sah darin eine Anwendung seines beliebten Princips, dass wir nichts Absolutes, nichts ohne eine Bedingung begreifen; doch sollte man darin vielmehr das grosse Princip erkennen, dass wir von Bedingung zu Bedingung fortschreitend die Notwendigkeit einsehen, auf das Absolute oder das Vollständige zurückzugehen. Es ist deshalb noch besser, wenn Sophie Germain sagt, dass wir uns deshalb veranlasst finden zu jeder Thatsache eine Ursache zu suchen, weil eine Thatsache uns immer als ein Bruch oder ein Teil erscheint, zu dem wir das Ganze suchen müssen. In der That nötigt uns die Vernunft von einer Wirkung zur andern und von einer Kraft zur andern aufzusteigen bis zu einer Kraft, die sich zuletzt selbst genügt, also zu einer ersten Ursache, die ersichtlich nur eine vollendete Spontaneität darstellen kann.

Hätte man nicht das Bewusstsein dieser Notwendigkeit, von irgend einer Erscheinung aus bis zur ersten Ursache aufzusteigen, hätte man überhaupt nicht das Bewusstsein der Notwendigkeit von jeder Erscheinung zu einer unmittelbaren sie begründenden Ursache überzugehen, so wäre es doch sicher wahr, dass man bei jedem Schlusse von irgend einer Summe von Erscheinungen auf irgend eine andere in deutlicher oder verhüllter Weise nur auf Grund des Princips einer die Erscheinungen verknüpfenden Causalität schliesst; das Axiom der Causalität ist der verborgene Herr aller Induktion, um welche Erscheinungen es sich auch handle. Die Vernunft lehrt uns, dass es nothwendig eine Ursache giebt; die Induktion sucht nur an der Hand der Analogie für jede Erscheinung in der Gesamtheit der Thatsachen diejenige andere, welche das Mittel oder die Bedingung für die Wirksamkeit der Causalität ist.

Da die wahrhafte Ursache, die das eigentliche Wesen und die Substanz der Thatsache darstellt, eine Handlung ist, die als solche weder in Raum noch Zeit fällt, so kann streng genommen eine Erscheinung nicht Ursache einer anderen Erscheinung sein; dass ist der wahre Sinn dessen, was Berkeley in dieser Hinsicht behauptete, indem er die Causalität ausschliesslich für den Willen in Anspruch nahm. Jedoch folgt daraus nicht, das ein Phänomen der thätigen Ursache nur die Gelegenheit bietet und nicht den eigentlichen Grund bildet. Nichts ist ohne Grund, sagt hierbei wie überall Leibniz. Eine Erscheinung kann, ohne die eigentliche Ursache einer anderen zu sein, doch eine Bedingung, ein Vermittelungsglied für die Thätigkeit der Ursache sein; eine Art Anfangszustand, ein erster Grad, der nach der schöpferischen Machtbestimmung zur Erreichung eines höheren Grades, eines Folgezustandes erforderlich ist; eine Art Anregung zur Wirkung.

Soweit es sich allerdings nur um Erscheinungen handelt, die nach den einfachen Gesetzen der Mechanik und Physik mit einander verknüpft sind, kann man nicht ersehen, inwiefern die eine zur anderen dient, sie vorbereitet. Wenn die Causalität nicht in gewisser Weise durch ersichtliche Beziehungen der Subordination zwischen den Erscheinungen wahrnehmbar gemacht worden ist, so kann sie unbemerkt bleiben. In der That ist man, wofern man sich auf die Mechanik, die Physik und selbst die Chemie beschränkt, geneigt, alle Wissenschaft auf die Aufzählung der in der Erfahrung gegebenen Folgeverhältnisse der Erscheinungen einzuschränken und alle notwendige Verknüpfung, alle inneren Gründe zu leugnen. So bildet sich denn die Lehre des Materialismus und weiter des Skepticismus, die anfänglich die Comte'sche war und noch jetzt von der Mehrzahl seiner Schüler vertreten wird. Kommt man jedoch zur Betrachtung der lebenden Wesen, so ist die Sache anders. An einem belebten Wesen bieten gewisse Erscheinungen die Eigentümlichkeit dar, dass sie andere zu bestimmen scheinen, deren Ergebnis sie sind; beispielsweise scheinen die Phänomene der Bewegung und der Empfindung das Auftreten von Erscheinungen niederer Ordnung zu veranlassen, ohne die sie sich nicht verwirklichen können.

In Folge dessen zeigen dieselben eine Analogie mit den Zwecken, welche wir uns stellen, und denen alle unsere Hilfsmittel dienen. An einem lebenden Wesen bekundet sich also eine allgemeine Ursache, welche eine Menge von Wirkungen bestimmt; der Organismus stellt sich selbst der oberflächlichsten Beobachtung als Etwas dar, das, hierin mit einem denkenden Wesen übereinstimmend, vermöge seiner thätigen Einheit dem in ihm enthaltenen Mannigfaltigen Existenz und Form giebt. Dem Leben gegenüber wird die Theorie des Materialismus ersichtlich ungenügend.

Als Berkeley, der in seinen ersten Werken sich nur mit den mechanischen Erscheinungen befasst hatte, in seinem tiefsinnigen und geistvollen »Siris« zur näheren Betrachtung der Vegetation und überhaupt des Lebens kam, erkannte er besser den allgemeinen Charakter der Natur, dass die Dinge sich in ihr in harmonischer Progression verknüpfen; daher auch der Titel »Siris«, Reihe oder Kette. Auf diese Weise ging er im letzten Teile seines Lebens von seiner ersten Theorie des Universums als eines Haufens getrennter Thatsachen, die der willkürlichen Gewalt Gottes unterstehen, zu dem Begriff einer umfassenden Stufenreihe immer vollkommenerer Formen über, die dem absoluten Guten zustrebt.

Auch Comte ging in der zweiten Periode seines Philosophierens, als er sich dem eigentlichen Hauptgegenstande desselben, der socialen Welt näherte und zunächst zu den organisierten Wesen gelangt war, von seiner ersten Theorie der Welt, die dieselbe als mehr oder weniger verwickeltes Aggregat von Thatsachen ohne den obersten Ordner Berkeleys auffasste, zu der ganz abweichenden Lehre einer fortschreitenden Ordnung und allgemeinen Harmonie über. Angesichts der Lebenserscheinungen begriff er, dass es nicht genüge, Erscheinungen als nach- oder nebeneinander zu betrachten, wie er im Gebiete der mechanischen und physischen Vorgänge hatte glauben können, sondern dass man hauptsächlich die Ordnung und den Zusammenhang des Ganzen in Betracht ziehen müsse.

»Den organisierten Wesen gegenübergestellt, sagte er, bemerkt man, dass die Einzelnheiten der Erscheinungen, welche mehr oder weniger hinreichende Erklärung derselben man auch geben mag, nicht das Ganze und selbst nicht die Hauptsache sind, dass das Wesentliche, und man könnte fast sagen, Alles in der Einheit im Raume und dem Fortschritt in der Zeit liegt, und dass ein lebendes Wesen erklären, den Grund dieser Einheit und dieses Fortschrittes aufzeigen heisst, der das Leben selbst bedeutet.«

Am Schluss des letzten Bandes seines »Cours« drückt er, obwohl immer noch bemüht, die Nachforschung nach den wesentlichen Ursachen und der inneren Natur der Erscheinungen als chimärisch abzuweisen, den Gedanken aus, dass, wenn der Sinn für das Einzelne für den Geometer, den Physiker und selbst den Chemiker ausreichend sei, der wahrhafte Physiolog die Idee des Ganzen brauche. »Schon in der Chemie, so äussert er, sieht man die enge natürliche Zusammengehörigkeit, welche für die Gesamtheit der Erscheinungen an einem Subjekt charakteristisch ist und die in der Physik und Mathematik so wenig bedeutet, in bemerkenswerter Weise hervortreten.« »In den Wissenschaften des Unorganischen, bemerkt er weiter, geht man durch Induktion vom Einzelnen zum Ganzen; in denjenigen des Organischen entspringt aus dem Ganzen durch Deduktion die wahre Kenntnis der Teile.« Ausserdem erklärt er, übereinstimmend mit Plato, Aristoteles und Leibniz, dass das Ganze das Resultat und der Ausdruck einer gewissen Einheit sei, zu welcher alles zusammenläuft und zusammenstimmt und die das Ziel bildet, dem alles zustrebt; in dieser Einheit, in diesem Ziele, in dem Zwecke oder der Endursache liegt das Geheimnis des Organismus.

In einem Brief an Mill, den 16. Juli 1843, drückte er die Meinung aus, dass ihm dieser Gelehrte auf dem erweiterten Wege, den er nunmehr einschlagen würde, deshalb nicht nachfolgte, weil derselbe, sehr bewandert in den mathematischen und physikalischen Studien, mit den Erscheinungen des Lebens nicht genügend vertraut wäre. Tiefer in die biologische Wissenschaft eingedrungen, hätte Mill besser begriffen, dass neben den einzelnen Thatsachen noch etwas nötig ist, was sie beherrscht und verknüpft.

Im Hinblick auf diese besondere Eigentümlichkeit des Lebens musste man wohl die Organismen als Dinge anerkennen, welche nicht einfach, wie der Begründer des Positivismus einst gelehrt hatte, Combinationen von Elementen sind, die auf einer tieferen Stufe der Wirklichkeit auch getrennt bestehen, sondern dass diese Elemente, so notwendig sie zum Aufbau des Ganzen sein mögen, nicht hinreichen, dasselbe zu erklären; man musste ferner irgend ein ganz neues Princip anerkennen, welches einer complicierteren Ordnung von Bestandteilen eine neue und mächtigere Einheit verleiht.

Nachdem Comte in dem ersten Bande seines »Cours« gesagt hatte, dass die von den Organismen dargebotenen Erscheinungen einfache Modifikationen der unorganischen Erscheinungen seien, gab er dies im zweiten Bande (1838) zwar noch vom pflanzlichen Leben zu, leugnete jedoch, dass die Sensibilität oder auch nur die Contraktilität der Muskeln auf physikalische und chemische Vorgänge zurückgeführt werden könnten. Die vielen vergeblichen Bemühungen, so bemerkte er, die Wahrnehmung physikalisch zu erklären, seien ein Beweis, dass die Physiologie noch im Zustande der Kindheit sei. Noch später, z. B. im 6. Bande desselben Werkes (1842), noch deutlicher und entschiedener aber in der »positiven Politik« schied er die physischen und chemischen Erscheinungen von denen des Lebens aus. Hier sprach er den bedeutsamen Satz aus, dass in der Biologie alle Erscheinungen, wie schon Cuvier gesagt hatte, durch eine innige und beständige Wechselseitigkeit gekennzeichnet seien, und dass also die richtige Methode, um das Wesen derselben zu erfassen, nicht mehr die Analyse sei, welche den Gegenstand in seine Teile zerlegt, sondern die Synthese, welche auf das Ganze gerichtet ist; und dass also »ein analytisches Verfahren nur als die mehr oder weniger notwendige Vorbereitung einer schliesslich synthetischen Bestimmung betrachtet werden könnte.«

Welches ist nun, um aus den abstrakten Allgemeinheiten herauszukommen, diese Einheit, auf welche man die Erscheinungen beziehen muss, um ihr Zusammenstimmen zu erklären? Es ist die einer Idee, eines Gedankens. Der höchste synthetische Begriff, welcher die ganze Biologie beherrscht und erklärt, ist nun nach Comte der der menschlichen Natur, wie er nicht sowohl aus dem direkten Studium der Seele, welches er fortwährend für unfruchtbar und selbst unmöglich hielt, sondern aus der geschichtlichen Betrachtung des Menschengeschlechts entspringt.

Die Herrschaft des Ganzen über das Einzelne und die Unterordnung des Ganzen unter das eigentlich menschliche Element zeigen uns die Künste; diese Beobachtung ist dem Comte nicht entgangen; das durchgreifende Uebergewicht des menschlichen Gesichtspunktes und das entsprechende Streben des Geistes haben, wie er auf den letzten Seiten seines »Cours« sagt, auf die allgemeine Entwicklung des ästhetischen Gefühls ausserordentlich günstig gewirkt, Und da er damals sehr mit Poesie und Musik beschäftigt war, so half ihm in der That die Kunst dazu, die Wissenschaft von einem höheren Standpunkte zu betrachten, als er es vordem auf Grund seiner mathematischen Studien gethan hatte.

Von dem Gesichtspunkte aus, auf welchem er angelangt war, entdeckte Comte, dass eine Wissenschaft sich nicht durch die niederen Wissenschaften erklären lasse; »die Physik muss sich hüten vor den Anmassungen der Mathematik, die Chemie vor denen der Physik und endlich die Sociologie vor denen der Biologie.« Jede Stufe von Wesen ist, wie einst Aristoteles gezeigt hatte, für die höhere Stufe ein Stoff, der auf derselben eine Form erhält. Daraus folgt, sagte Comte, dass eine Sache auf eine andere niederer Art zurückführen sie durch ihren Stoff erklären heisst: der Materialismus ist also die Erklärung des Höheren durch das Niedere. Ein tiefsinniger Satz, dessen Urheber schon deshalb die Bezeichnung als Philosoph verdient hat; zu ihm kommt noch der weitere, dass das Höhere es ist, was das Niedere erklärt; mit anderen Worten, in der Menschheit muss man die Erklärung der Natur suchen. Im letzten Bande des »Cours de Philosophie positive« las man schon: »das Studium der Menschen und der Menschheit ist die Hauptwissenschaft, diejenige, welche vor allen die Aufmerksamkeit der tieferen Denker und das allgemeine Interesse verdient; die bloss vorbereitende Aufgabe der vorangehenden Wissenschaften hat man in der That gefühlt, insofern man die Gesamtheit derselben nur mit rein negativen Ausdrücken hat bezeichnen können, als Wissenschaft des Unorganischen u. s. w.; man definierte sie also nur durch den Gegensatz zu jenem Hauptstudium, dessen Gegenstand im Vordergrunde aller unserer Betrachtungen sich befindet. Die sociologische Wissenschaft, die Wissenschaft der Menschheit ist die abschliessende Wissenschaft, zu welcher selbst die Biologie nur die letzte Einleitung bildet.« Der Wissenschaft der Menschheit gebührt also der Vorrang, die »wissenschaftliche Hegemonie«; nicht der Mathematik, im Gegenteil der Geisteswissenschaft Dieser Ausdruck entspricht vielleicht am besten dem französ. Begriffe der »morale«. kommt die herrschende Stellung zu.

An mehreren Stellen der »Positiven Politik« weist Comte in den Erscheinungen der unorganischen Welt Anfänge zu den Lebenserscheinungen nach: beispielsweise in der Trägheit, die das erste Princip der Mechanik bildet, den Ansatz zu der bei den lebendigen Wesen vorkommenden Beharrlichkeit im Handeln, welche man Gewohnheit nennt; in der Neigung gewisser Tierarten zur Geselligkeit den Ansatz zur menschlichen Gesellschaftsbildung. »Der organische Fortschritt kann überhaupt, ihm zufolge, nur definiert werden, wenn man das Ziel desselben kennt; – das Ganze des tierischen Lebens wäre unverständlich, ohne die höheren Attribute, welche nur die Sociologie würdigen kann.« – Kurz »der oberste Typus bildet das ausschliessliche Princip der biologischen Einheit, und jede Tierart ist im Grunde ein mehr oder weniger missglückter Versuch zum Menschen,« ein Satz, der sich fast wörtlich bei dem Verfasser der »Naturgeschichte der Tiere« und der »Metaphysik« findet, der zuerst in der Intelligenz, die das Wesen der Menschheit bildet, die Endursache erkannte, durch die sich die ganze Natur erklärt.

Wenn man Comte glauben soll, so ruft er allerdings hier nicht die von ihm vordem verbannten Zweckursachen herbei, er weicht in Nichts von seinen Principien ab. Im Gegenteil, er entwickelt sie nur indem er sie auf die Objekte anwendet, die er von vornherein im Auge hatte. Wenn er, nach seinem Ausdrucke, dazu gekommen ist, der socialen Auffassungsweise ihr rechtmässiges Uebergewicht nicht nur in der Logik und Wissenschaft, sondern auch in der Politik und Moral zu sichern, so dehne er nur den »rationellen Positivismus« auf die höchsten Spekulationen aus an Stelle des bis dahin in demselben herrschenden theologischen und metaphysischen Geistes, er zeige in den Thatsachen des geistigen wie in denen des physischen Gebietes Beziehungen, die beobachtbaren Gesetzen unterworfen sind. Wie die Biologie in der Kenntnis der Wirkung und Gegenwirkung zwischen den Organismen und ihrer physischen Umgebung bestehe, so sei die Geschichte der Philosophie die Kenntnis der Wechselwirkung der Organismen und der socialen Umgebung, aus welcher die Gestaltung und Entwickelung der ganz auf Beziehungen beruhenden menschlichen Eigenart entspringe. Die Relativität und Positivität der menschlichen Natur ist die doppelte Entdeckung, durch welche Comte in der »positiven Politik« das Werk zu krönen vorgiebt, dessen festen Grund er in seinem »Cours« gelegt hat. Mit anderen Worten, statt die Menschheit und ihre Geschichte mit den Theologen durch das willkürliche Eingreifen einer übernatürlichen Macht, oder mit den Metaphysikern durch eine von den Erscheinungen verschiedene Ursache zu erklären, die dieselben als eine unabhängig bestehende Wesenheit und gewissermassen von aussen bestimmte, ohne mit ihnen verknüpft zu sein, will auch jetzt noch der Begründer des Positivismus über die Erscheinungen durch andere Erscheinungen Rechenschaft geben.

Stuart Mill, der mit Comte die Zweckursachen verwirft, hat sie in gleicher Weise als Wesenheiten einer besonderen Art dargestellt, die man sich nur ausserhalb der Wirklichkeit, ihrer Beziehungen und Gesetze denken kann. Das ist vielleicht der Begriff derselben, den die landläufige Lehre von einem »Ideal« giebt, welches als die Ursache der Bewegungen in der Natur betrachtet wird; es ist nicht der, welchen sich der Begründer der Metaphysik machte, oder derjenige seiner verständnisvollen Interpreten. Aristoteles glaubte nicht, dass z. B. ein Mensch sich, wie wohl die Platoniker gedacht haben mögen, unter dem unerklärlichen Einfluss einer Idee bilde; »es ist ein Mensch, sagte er, der den Menschen erzeugt. Ein vollkommener Mensch setzt durch die Vollkommenheit, die er in sich trägt, den unvollkommenen Keim in Bewegung und führt in zu seiner Vollendung; und zwar deshalb, weil jene innere Vollkommenheit eine Energie ist, und diese Energie in der Form dieser oder jener Erscheinung, an welche sie geknüpft ist, ist zugleich das Ziel und die Quelle dieser oder jener Bewegung.«

Nimmt man als Ursache ein Ideal an, welches ganz ausserhalb der Wirklichkeit steht, so hat man keinen Erklärungsgrund der Natur. Gegen diesen Idealismus hat sich der Positivismus nicht ohne Grund erhoben. Will man dann aber andrerseits nichts als wirklich anerkennen als die Erscheinung allein, wie kann man in derselben, was ja der Positivismus selbst leugnet, irgend eine Causalität, irgend eine Erklärung einer anderen Erscheinung finden? Die höhere Erscheinung aber als den Grund der niederen betrachten, weil sie die Vollendung zeigt, zu welcher in dieser nur der Anfang gegeben ist, das heisst notwendig, wenn man sich auch vielleicht keine Rechenschaft darüber giebt, bei der Vollendung zugleich eine wirksame Thätigkeit mitverstehen; und die Theorie Comte's erklärt in der That in ihrer letzten Gestalt den Begriff der Zweckursache zwar nicht wie der gewöhnliche Idealismus, der die Natur nach dem Vorbilde der menschlichen Kunst betrachtet, doch immerhin so, wie man ihn in dem metaphysischen Realismus oder Positivismus des Aristoteles findet, indem er ihn auf den zugleich erfahrungsmässigen und metaphysischen Begriff der Aktion begründet. Comte ist dem Grundgedanken des Positivismus darin treu geblieben, dass er die Erklärung von Thatsachen immer in Thatsachen sucht; aber von dem Positivismus, der die Erklärung einer Thatsache immer nur in der übrigens unbegreiflichen Präexistenz einer ganz verschiedenen Thatsache sah, ist er zu dem entgegengesetzten Positivismus gelangt, nach welchem sich eine Thatsache durch eine andere höherer Ordnung erklärt, deren Vollkommenheit den Erklärungsgrund jener, und deren Wirksamkeit die Ursache jener darstellt. Von dem oberflächlichen physischen Positivismus ist er zum geistigen Positivismus fortgeschritten.

In der von 1851-54 veröffentlichten »Positiven Politik« ging er noch viel weiter in dieser Richtung. Jetzt war es nicht nur das Leben, das er zu studieren hatte, es war das geistige Leben, das des Verstandes und des Gemütes. Er ging jetzt zu dem Gedanken über, dass alles im Menschen sich durch das Etwas erklärt, was ihn zum Guten treibt, mit einem Worte durch die Liebe.

Er begriff jetzt nicht allein, dass die Materie nicht alles am Menschen erklärt, und dass es vielmehr die Intelligenz ist, die, grossenteils wenigstens, über die Materie Rechenschaft giebt; wie Pascal stellte er über die Intelligenz ihrerseits, die in gewisser Beziehung noch das Physische an der Seele darstellt, das eigentlich Geistige derselben, die moralischen Fähigkeiten, die Fähigkeiten des Gefühls. Der Mensch schien sich ihm durch sein Herz erklären zu müssen. Die Intelligenz, sagte er jetzt, ist gemacht, um zu dienen, das Herz um zu herrschen; die Intelligenz ist nur da, um den Zwecken unseres Gemütes zu dienen. Diese Zwecke laufen auf Eins hinaus, auf das Gute, den Gegenstand der Liebe. Die Liebe ist das Rätsel der menschlichen Natur, und mehr noch: das Rätsel der Welt. Comte drückte dies aus, indem er sagte, dass alles zuletzt nach der subjektiven Methode erklärt werden müsste.

Früher hatte er gesagt, dass ganz im Gegensatz zur Metaphysik und Religion, die die Welt durch den Menschen erklärten, indem sie ihn zu dem Zwecke der Welt machten, der Positivismus aus dem Weltganzen den Menschen und jedes Ding erklären müsste; es war das die von ihm sogenannte objektive Methode, welche von den Gegenständen des Denkens zu dem Subjekt, welches sie denkt, übergeht. Jetzt gestand er zu, dass auf dies Subjekt sich alles beziehen müsste: durch dieses erklärte sich Alles, Alles strebte auf dasselbe hin und müsste auf es hinstreben. Er ging in dieser neuen Richtung soweit, jede wissenschaftliche Forschung zu verwerfen, die über das hinausgeht, was direkt für den Menschen Bedeutung hat.

Die letzte Arbeit seines Lebens war die »Subjektive Synthese der Mathematik« (1854), in welcher er selbst die Wissenschaft der Grössen, die am meisten von allen dem Gebiete der Gemütsbedürfnisse fern steht, abzuleiten suchte, indem er sie den sittlichen und socialen Zwecken der Menschheit unterordnete.

Man darf hierbei nicht vergessen, dass Comte einige Jahre vorher schwere Zerwürfnisse mit Mathematikern gehabt hatte, die ihn vielleicht besser als vorher bemerken liessen, was den mathematischen Begriffen fehlte, um alles zu erklären, oder dass der mathematische Geist mit Unzuträglichkeiten verbunden sein kann, wenn er ausschliessend oder auch nur herrschend wird. Und andrerseits bemächtigte sich seiner eine glühende Neigung und bestimmte ihn, dem Gemütsleben ein grosses Vorrecht selbst vor dem entwickeltsten Verstandesleben einzuräumen und als das höchste Wort der Wissenschaft die Liebe anzusehen. Man kann noch hinzusetzen, dass seine Vernunft, ermüdet durch die ungewöhnliche Anstrengung einer beständigen Arbeit oder durch die Stürme des Lebens, den heftigen und bisweilen ungeordneten Regungen einer mehr und mehr feurigen Phantasie, eines mehr und mehr erregungsfähigen und begeisterungsvollen Herzens immer freieren Lauf gelassen zu haben scheint. In den letzten Jahren seines Lebens verliess er die schriftstellerische Arbeit nur, um italienische und spanische Dichter und sogar die »Nachfolge Christi« zu lesen, und um Musik zu hören. Für andere zu leben war seine Losung geworden; sein Ideal das Rittertum des Mittelalters.

Allmählich ging seine Philosophie in eine Religion über, die ganz ähnlich dem primitiven Glauben war, in welchem er einst nur einen Traum der kindlichen Menschheit gesehen hatte. Die ersten Menschen hatten alles nach dem Bilde des Menschen gedacht, jedem Dinge eine Seele beigelegt, in jeder Bewegung einen Willensakt gesehen: das war der Fetischismus, dem stufenweise in dem Masse, als die Natur mehr unabhängig vom Willen gedacht wurde, zuerst der Polytheismus und zuletzt der Monotheismus gefolgt waren. Es sei jetzt, sagte Comte, ein neuer Fetischismus nötig: man müsse von neuem in den überall gegenwärtigen, immerdar wirksamen Dingen den Willen und die Liebe anbeten.

In der Religion Comte's giebt es keinen Gott, auch keine Seele, wenigstens keine unsterbliche; darin blieb er nach allen Wandlungen derselbe; das höchste Wesen ist für ihn, wie für Leroux und viele unserer Zeitgenossen die Menschheit. Er nennt sie das »Grosse Wesen«. Das »Grosse Wesen« hat seinen Ursprung durch die Erde, die allgemeine Quelle aller Dinge, die Mutter aller einzelnen Fetische, die man den »Grossen Fetisch« nennen kann. Die Erde ist im Raume, dessen Gesetze die ersten Bedingungen aller Existenz sind, und dem der Name »Grosses Medium« zukommt. Das Grosse Medium, der Grosse Fetisch und das Grosse Wesen bilden die Dreieinigkeit, welche der positivistische Kultus verehrt. Das Grosse Medium sah in sich zuerst den Grossen Fetisch entstehen, dessen sämtliche Glieder ursprünglich ein höheres Leben, eine höhere Kraft hatten als jetzt; der Grosse Fetisch beschränkte sich, erniedrigte sich, opferte sich, um dem Grossen Wesen Raum zu machen. Dieses Opfer verdient unsere dankbare Verehrung; aber in der Menschheit ehrt die Menschheit die höchste Vollendung, für welche der Grosse Fetisch selbst sich opferte; und in der Menschheit ist die vollendetste Form das Weib, weil in ihm die Gemütsanlagen vorherrschen. Da nun aber die Menschheit nur in der Aufeinanderfolge vergänglicher Individuen besteht, welchen Kultus soll man ihr darbringen? Den Kultus, den Comte den subjektiven nannte, und der kein anderer war, als ein frommes Gedenken der Toten. Denn in der Erinnerung der Lebenden besteht die Unsterblichkeit, die Krone des Lebens für diejenigen, welche ihrer würdig sind, insbesondere für die Frauen, welche das Ideal der Hingebung und Anhänglichkeit, für das sie geschaffen waren, würdig verwirklichten.

Was wird bei dieser Metamorphose des Positivismus aus dem Grundsatz, auf den er ganz gegründet war, nämlich dass die Allgemeinheit abnimmt, wenn die Zusammensetzung zunimmt, da im Ganzen der Natur die Allgemeinheit an die Einfachheit geknüpft sei? Comte hat sich in dieser Beziehung nicht erklärt, aber es ist vielleicht möglich die Lücke auszufüllen. Offenbar muss man jetzt hinzusetzen, dass erstens mit der Complexität eine gewisse Einfachheit zunimmt: mit der Zahl der Elemente steigert sich die einfache Einheit, die ein Ganzes aus ihnen macht; zweitens dass mit dieser Einheit notwendig auch eine gewisse Allgemeinheit anwächst, eine Bemerkung, die im Grunde dem Urheber der Metaphysik angehört. Die niederen Elemente, welche sehr einfach in ihrer Aermlichkeit sind, sind eben dadurch im Ganzen der Stoff für die höheren Principien. Das höchste Princip ist in allem, in dem Sinne, dass es in verschiedenen Graden und unter verschiedenen Formen überall wirkt, alles macht. »In allem, was existiert, sagt der Verfasser des Siris, ist Leben; in allem, was lebt, ist Gefühl, in allem, was fühlt, Gedanke«. Jede Ursache findet sich also in der Kategorie von Dingen, in welcher sie alles ist, was sie sein kann, und in allen niederen Kategorien, die ihren Einfluss in verschiedenem Masse erfahren und an ihr Teil haben. Die Seele ist in gewissem Sinne in allem, mehr als die Seele ist Gott das universelle Wesen. Nicht als ob Gott ein Stoff wäre, aus dem alles besteht, wie ihn die pantheistische Lehre versteht; sondern weil er, als die höchste Ursache das Wirkliche und Wahre in allem ist. »In ihm leben und sind wir«.

Comte nennt in einer seiner letzten Schriften, dem »Positivistischen Katechismus« (1852) immer noch Hume seinen hauptsächlichsten philosophischen Vorgänger, in dieser Zeit näherte er sich jedoch sehr dem von uns sogenannten spirituellen oder metaphysischen Positivismus. Niemals gab er den Satz auf, dass es für uns nur Relatives giebt. Niemals stellte er sich auch auf den Standpunkt, oder liess ihn zu, auf welchem man in der Ursache, die wir darstellen, das Absolute sieht, an welchem in letzter Linie alles Relative seinen Massstab hat; den Standpunkt der Reflexion des Geistes auf sich selbst.

Auf dem Wege der Beobachtung der Aussendinge, welche von unserem Lichte beleuchtet werden und uns, wenn auch verzerrt, das eigene Bild entgegenhalten, kam er dazu, nachdem er den Begriff der Ursache lange Zeit umgangen hatte, speciell der Endursache eine immer grössere Bedeutung beizulegen. Es blieb nur noch übrig, um das wahre Wesen dieses Gedankens zu erkennen, den wahren Ursprung desselben einzusehen. Der fleissige Leser der »Nachfolge Christi« und der Mystiker des 15. Jahrhunderts, der Verkündiger des »Altruismus« wäre sicher dazu gekommen, wenn er die Zeit dazu gehabt hätte.


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