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XV.
Claude Bernard.

Claude Bernard, ein durch grundlegende Entdeckungen berühmter Physiolog, der sich im ganzen Laufe seiner wissenschaftlichen Arbeit für Principien und Methodenfragen interessierte, hat ausdrücklich und ausführlich über solche in einem 1865 unter dem Titel »Einleitung in das Studium der experimentellen Medizin« erschienenen Buche gehandelt, welches von hohem allgemein philosophischen Interesse ist.

Zweck des Buches ist zu beweisen, dass die Medizin ebenso wie die Physik und Chemie nicht nur Beobachtung, sondern auch das Experiment zulässt, und dass sie nur durch das Experiment die Erscheinungen und Verhältnisse, mit denen sie zu thun hat, scharf bestimmen und so aus ihrem jetzigen Zustande einer grossenteils nur vermutenden Wissenschaft in denjenigen einer positiven Wissenschaft übergehen wird, einer Wissenschaft, welche es ermöglicht, die Erscheinungen vorauszusehen und in gewissem Grade zu beeinflussen. Um diese Behauptung zu erweisen, entwickelt Claude Bernard im einzelnen seine Betrachtungsweise der biologischen Gegenstände und die Methoden dieser Wissenschaft. Nichts kann interessanter sein als die Beispiele, welche ein solcher Meister aus seiner eigenen Erfahrung vorbringt, als das Bild, welches er von dem Gange seines Geistes und seiner Arbeit bei der Entdeckung der Wahrheiten, zu denen er gekommen ist, entwirft. Wir haben hier jedoch nur seine Hauptideen und Resultate in ihrer Beziehung zur eigentlichen Philosophie zu betrachten.

Will man die Leistungen Bernard's in dieser Hinsicht zusammenfassen, so kann man sagen, dass er sich zunächst auf die allgemeinen Principien stützt, welche die Grundlage der positivistischen Lehre bilden, so wie sie Comte und noch eine grosse Zahl von Medizinern und Physiologen verstehen; bald jedoch fügt der berühmte Gelehrte eigene Begriffe hinzu, welche aus einer ganz anderen Auffassungsweise entspringen.

Wie diejenigen, welche sich Positivisten nennen, und alle die, welche alle Erkenntnis nur aus den Thatsachen der Sinne zu entwickeln vorgeben, erklärt B., dass nichts Absolutes uns zugänglich ist, und dass wir nur die Beziehungen der Erscheinungen erkennen. Die Gesetze dieser Beziehungen zu finden, inbegriffen die genaue quantitative Bestimmung derselben, ist in seinen Augen das Endziel aller Wissenschaft; es ist alles, was man braucht, wie Comte erklärte, um die Erscheinungen vorauszusehen und sie nützlich zu gestalten. Dabei macht sich doch Cl. Bernard einen ganz anderen Begriff von der Wissenschaft als der Positivismus. Nach diesem System, so wie es S. Mill entwickelte, wird die Wissenschaft durch Induktionen gebildet, welche die beobachteten Beziehungen über die Grenzen der Beobachtung hinaus verallgemeinern, und die in keiner Weise Schlussfolgerungen sind oder sich auf Vernunftgründe stützen. Cl. B. hat wie Leibniz begriffen, dass Inducieren immer noch ein Schlussfolgern ist, und dass die Induktion im Grunde eine Deduktion ist; und während Mill nach dem Vorgange von Baco und Locke den Syllogismus auf Nichts reduziert, so scheut sich unser Physiolog, der die Wissenschaft durch so viele fruchtbare Induktionen bereichert hat, nicht, zu sagen, dass alle Induktion nur ein Syllogismus ist.

Die Induktion ist nach B. eine Vermutung durch Deduktion. Und wie wird diese Vermutung bewiesen? Indem man die Folgerungen bestätigt findet, zu denen sie Veranlassung giebt. Nach der Meinung Bernard's ist also die Induktion eine provisorische und bedingungsweise Deduktion, welche sich, durch die Erfahrung bestätigt, in eine unbedingte und definitive Deduktion verwandelt. Während man nach Stuart Mill bei der Induktion von einer Behauptung über eine Thatsache zu der Behauptung über eine analoge Thatsache durch einen blossen Mechanismus übergeht, für den kein Grund zu suchen ist, so gründet man nach Bernard im Gegenteil diesen Uebergang auf ein Princip, ein apriorisches Axiom, auf einen wahrhaft angeborenen Begriff, der in Wirklichkeit mit der Constitution unserer Intelligenz eins ist, und besagt, dass in Allem Ordnung und Mass, dass Nichts ohne Grund ist; das ist aber beiläufig der herrschende Gedanke der Metaphysik, mit welcher unser Physiolog bisweilen etwas scharf umspringt. Er sagt einmal mit Worten, die bei Descartes, Leibniz und Plato stehen könnten, und die den vollsten Gegensatz zu Mill's Theorie eines rohen Mechanismus bilden, dass bei der experimentellen Methode wie überall das höchste Kriterium in der Vernunft liegt. Bemerken wir, dass ein anderer philosophierender Mediziner, der der materialistischen Physiologie oft richtige und überlegene Betrachtungen entgegengestellt hat, Garreau, in einer »Abhandlung über die ontologischen Grundlagen der Wissenschaft vom Menschen und über die zum Studium der menschlichen Physiologie geeignete Methode« (1842) sagte, dass die Induktion und Hypothese im Grunde identisch sind, und dass es der notwendige Begriff der Regelmässigkeit wäre, der uns bei der Induktion vom Bekannten auf das Unbekannte schliessen lässt; er zog daraus den Schluss, dass das Princip der Induktion identisch mit der Vernunft ist, welche selbst Regel ist.

Die physikalische Form des allgemeinen Princips, dass alles einen Grund hat, lautet, dass jede physische Erscheinung unter bestimmten physischen Bedingungen eintritt. Dies Princip hat Bernard mit einer ganz neuen Schärfe und Bestimmtheit unter dem Namen des Princips des »allgemeinen Determinismus« entwickelt. Aus den Folgerungen, welche er daraus zieht, und den Anwendungen, die er davon in Bezug auf die organisierten Wesen macht, ergiebt sich eine Theorie, welche zunächst diese Wesen in eine Linie mit den unorganischen Objekten zu bringen und dem Materialismus Recht zu geben scheint, der aber der Verfasser bald eine andere Gestalt giebt, indem er ein wesentlich neues Element dazubringt.

Man ist einig darüber, dass alle von den unorganischen Körpern dargebotenen Erscheinungen sich im Gefolge bestimmter Umstände ereignen, welche man ihre physischen Ursachen nennt. In Bezug auf die physiologischen Phänomene ist man nicht ebenso einig. Man sagt vielmehr oft, dass sie die Wirkung einer ganz besonderen Kraft, der Lebenskraft darstellen, welche mit einer gewissen Unabhängigkeit von äusseren Umständen wirkt; in dem Masse als die Organismen höher organisiert sind, scheinen sie unabhängig zu werden von dem sie umgebenden Mittel und sich aus sich selbst spontan zu bestimmen. Das kommt daher, wie Bernard sagt, dass sie ein inneres Medium besitzen, in welchem sich die physischen Bedingungen finden, die der oberflächlichen Beobachtung entgehen. Die Pflanze hängt in ihrem Leben und ihren Funktionen von bestimmten Bedingungen der Wärme und Feuchtigkeit in dem umgebenden Mittel ab; das Tier scheint von denselben unabhängiger zu sein und sich oft durch eine spontane Lebenskraft ganz frei zu machen, weil es in seinem Blute, das im Grunde für die Organe ein äusseres sie umspülendes Medium ist, die physischen Bedingungen ihrer Funktion findet; sind diese Bedingungen erfüllt, so vollziehen sich die Funktionen des Lebens mit derselben Notwendigkeit wie bei der Pflanze. Bernard ordnet so unter das Gesetz des Determinismus eine grosse Menge Thatsachen unter, welche bis dahin nicht auf dasselbe zurückführbar erschienen, und hinter die sich wie in eine Festung die Lehren zurückzogen, welche wenigstens einen Teil der Erscheinungen an organisierten Wesen durch eine oder mehrere der unorganischen Natur überlegene Kräfte erklärten; also die vitalistischen Lehren, von denen an, welche sich darauf beschränken, den Organen oder ihren Elementen vitale Eigenschaften beizulegen, bis zu denen, welche das Leben durch ein von den Organen verschiedenes Princip erklären, wie Barthez und Stahl gethan haben. Wenn die Erscheinungen des Lebens aber einmal zu den umgebenden Umständen in Beziehung gesetzt sind, inbegriffen diejenigen der inneren Medien, so sieht man, dass diese Erscheinungen in Abwesenheit der Umstände nicht eintreten, in ihrer Gegenwart immer eintreten; dass folglich die lebenden Wesen nicht diejenige Unabhängigkeit und Spontanität besitzen, welche man ihnen in der Regel zuschreibt, sondern dass alle Phänomene an ihnen in derselben Weise und mit gleicher Notwendigkeit sich ereignen, wie die physischen und chemischen Erscheinungen.

Leben und Tod, Gesundheit und Krankheit sind also, wie Cl. Bernard sagt, Worte, denen nichts Wirkliches entspricht, »Es sind Worte, die eine Unwissenheit anzeigen; denn wenn wir eine Erscheinung als eine vitale bezeichnen, so sagen wir damit, dass wir ihre nächste Ursache und ihre Bedingungen nicht kennen; es sind nur sprachliche Ausdrücke, deren wir uns bedienen, weil sie unserem Geiste das Bild gewisser Erscheinungen vergegenwärtigen, ohne irgend eine objektive Realität darzustellen.« Wenn dem so ist, so sind die Organismen entsprechend der Ansicht von Cabanis, Magendie, Broussais, Gall und aller Physiologen, die sich heutzutage an die positivistische Schule anschliessen, nur compliciertere Massen, als die anderen; es giebt Nichts in der Welt als rohe Massen, mehr oder minder zusammengesetzte Maschinen, und alle Ursachen sind mechanische.

Zugegeben, dass der Determinismus, welcher die Verknüpfung jeder Erscheinung mit diesen oder den physikalischen Umständen behauptet, sich viel weiter erstreckt als der Vitalismus annimmt, so kann man doch fragen, ob er in dem Sinne, wie ihn Cl. Bernard vertritt, für alle Erscheinungen der lebenden Wesen bewiesen ist. Es existiert noch kein Beweis, dass er für alle Bewegungserscheinungen giltig ist, und dass die Ortsveränderung z. B. sich stets auf ein blos physisches und mechanisches Phänomen zurückführen lasse. Dies ist übrigens eine Frage, auf die wir wieder treffen werden gelegentlich der Entdeckungen und Theorien der neueren Physiologie über die sogenannten Reflex-Bewegungen.

Aber selbst vorausgesetzt, dass die organischen Erscheinungen in jeder Hinsicht denen der unorganischen Körper gleichen, die wir künstlich hervorrufen können, so folgt nicht, dass die Organismen selbst, deren Nachbildung unser Vermögen übersteigt, sich nicht von den toten Massen unterscheiden. Ausser den Erscheinungen muss man noch das Ganze, welches sie bilden, die Ordnung, in welcher sie sich vollziehen, beachten, und hier reichen Physik und Chemie nicht zur Erklärung aus. So lange man sich an das Einzelne hält, hatte Comte gesagt, reduzieren sich die Eigenschaften der Organismen mehr oder weniger auf die der unorganischen Körper, wenn man das Ganze ins Auge fasst, ist es anders.

Ein Denker wie Bernard begreift am besten, dass ausser den verschiedenen Erscheinungen, welche man durch physikalisch-chemische Thatsachen erklärt, im Organismus noch die Ordnung und Zusammenstimmung dieser Erscheinungen zu beachten ist. Er ist überrascht von dieser Ordnung, besonders sofern sie sich in der den Organismen eigentümlichen allmählichen Entwickelung zeigt, und indem er erkennt, dass ein so regelmässiges und gleichbleibendes Ineinandergreifen nicht durch die unregelmässige und veränderliche Wirkung der äusseren physikalischen Umstände erklärt werden kann, sieht er darin die Wirkung eines bestimmten, voraus existierenden Typus, nach dem der Organismus sich richtet, wie ein Kunstwerk nach einem vorausbestimmten Gedanke ausgeführt wird; er nennt diesen Typus demgemäss »organische Idee«. Diese organische Idee geht, so bemerkt er weiter, durch Tradition von Generation zu Generation, eine Vorstellung, die an diejenige Harvey's in seinem unsterblichen Buche De generatione erinnert.

Bernard spricht einmal den Gedanken aus, dass das Leben als Schöpfung (création) definiert werden kann; deshalb nennt er die organische Idee auch erzeugende Idee; und was erzeugt sie? Nicht, – um es nochmals zu wiederholen –, die einzelnen Erscheinungen, welche früher oder später ausnahmslos durch die Wissenschaft auf physikalische und chemische Gesetze zurückzuführen sind, sondern die Maschine, an welcher sie auftreten, den Organismus. »Daher liegt das charakteristische für die lebende Maschine nicht in dem Wesen ihrer Eigenschaften, so verwickelt diese auch sein können, sondern vielmehr in der Erzeugung dieser Maschine.« Wenn ein Hühnchen sich im Ei entwickelt, so sind es nicht sowohl die chemischen Verbindungen der Elemente, die man einer Lebenskraft zuschreiben muss, da dieselben das Ergebnis der physikalisch-chemischen Eigenschaften der Materie sind; was weder die Chemie, noch die Physik erklärt, sondern dem Leben eigentümlich ist, das ist die leitende Idee der organischen Entwickelung. In jedem lebenden Keime giebt es eine zeugende Idee. Das lebende Wesen bleibt, so lange es dauert, unter ihrem Einfluss, und der Tod tritt ein, wenn sich dieselbe nicht mehr verwirklichen kann. »Alles leitet sich also aus der Idee ab, welche allein bestimmt und schafft; die physikalisch-chemischen Mittel des Wirkens sind allen Naturerscheinungen gemeinsam, und liegen wie Buchstaben eines Alphabets durcheinander in einer Büchse, aus dem jene Kraft sie hervorsucht, um die verschiedensten Gedanken oder Mechanismen zu verwirklichen«.

Wie man sieht ist die Schöpfung, von der B. spricht, und die das Wesen des Lebens ausmachen soll, die Anordnung der Teile der Maschine neben- und nacheinander, welche dieselbe zum Organismus macht; es ist, um einen Lieblingsausdruck Comte's zu brauchen, die Ordnung und der Fortschritt und insbesondere der letztere. Diese Ordnung und dieser Fortschritt haben eine Ursache, und diese Ursache ist eine Idee, nach der sie sich richten. Ist das aber eine andere Theorie als die von den Metaphysikern sogenannte teleologische? so bemerkt Janet in seiner Kritik des Werkes von Bernard. (Revue des Deux Mondes 1866.)

Zweck ist das, was der Frage »warum?« entspricht. Wie stimmt dazu nun in der Philosophie Bernard's die Behauptung, die er nach dem Vorgange der positivistischen Schule öfters wiederholt, dass wir das »Wie« der Naturerscheinungen zu erkennen vermögen, aber nicht das »Warum«. Nach seinem eigenen Zugeständnis ist, sofern es sich um das Leben handelt, die Betrachtung der leitenden und schöpferischen Idee unerlässlich; sie ist sogar die Hauptsache, der eigentliche Gegenstand der Wissenschaft,

Im Zusammenhange mit diesem höheren Teile des Systems von Bernard, in welchem sein Denken eine ganz andere Gestalt gewinnt, wird auch die Lehre vom universellen Determinismus wesentlich verändert. In der Erklärung, welche er von derselben gab und den Anwendungen, welche er von ihr machte, um die Erscheinungen des Lebens auf Physik und Chemie zurückzuführen, bedeutete der Determinismus, dass jede Erscheinung notwendig aus anderen von derselben Natur und der gleichen Kategorie folgt, welche man physische Ursachen nennt. Aus seinen Ueberlegungen über die Harmonie und Einheit des Lebens ergiebt sich die Consequenz, dass es noch eine andere Art von Determinismus giebt, welche darin besteht, dass der Organismus als ein zusammenstimmendes Ganze eine von seinen Elementen, den Teilen der Materie verschiedene Ursache hat; eine Ursache, die Bernard übrigens nicht weiter definiert ausser etwa durch den Umstand, dass unter ihrem Einflusse die materiellen Elemente ineinandergreifen und in Harmonie treten, als wäre es nach der Einheit eines einzigen Gedankens. In jedem Falle ein ganz anderer Determinismus als der erste, so dass ihn Cl. Bernard selbst einen höheren Determinismus nennt.

Auf welche Weise wird nun die organische Idee zur schöpferischen Idee, in anderen Worten: wie soll man es verstehen, dass sie der Regel gemäss, deren Typus sie enthält, die physikalisch-chemischen Processe bestimmt, durch welche allein der Organismus sich bildet und erhält, und die doch andrerseits das notwendige Resultat physikalischer Bedingungen sind. Vielleicht wird man das nur begreifen, wenn man eine durch die organische Idee geleitete Aktivität voraussetzt, welche die Elemente mit Rücksicht auf die Regel des Typus durch geeignete Bewegungen in Lagen und Entfernungen bringt, auf Grund deren die geeigneten physikalisch-chemischen Processe eintreten; das wäre eine elementare Aktivität vergleichbar mit der »tonischen Aktivität« Stahls, der Anfang und die niedrigste Stufe der höheren Thätigkeitsweise, durch welche das Wesen die volle Freiheit der Verfügung über sich selbst gewinnt und sich seine Bestimmung wählt, der lokomotorischen Aktivität.

Wie man auch hierüber zu denken hat, und mag man für eine Kraft, die nach einem Ziele strebt, eine andere Wirkungsweise sich vorstellen können, oder nicht, so kann doch eine leitende und schöpferische Idee nicht ohne eine Intelligenz, die dieselbe denkt, einen Willen, der sie verfolgt, begriffen werden. In der Theorie, durch welche Cl. Bernard sich über den Materialismus erhebt, den er als absurd und sinnlos bezeichnet, kann man kaum etwas Anderes sehen, als eine erste Gestaltung der wahren Lehre, zu der sie sich verhält, wie der bildliche Ausdruck zum eigentlichen, das Abstrakte zum Reellen. Von der schöpferischen Idee muss der philosophirende Physiolog unfehlbar zum Geist übergehen als dem einzigen Organisator und Schöpfer.


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