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Wir sind am Schluß – wirklich am Schluß. Von neuem fällt der Schatten des norddeutschen Gebirges auf die Leute unserer Geschichte, welche an diesem Schluß das Rollen des schwarzen Wagens noch von ferne hören. Wir befinden uns auf dem Bahnhofe zu Halberstadt, und auf dem Bahnhofe zu Halberstadt wartet ein Wagen aus Krodebeck auf zwei Reisende, die eine telegraphische Depesche vorausschickten, der zufolge sie mit dem nächsten Eisenbahnzuge anlangen werden. Ein weicher Duft liegt über den Bergen und der Ebene; die Welt lacht in Lieblichkeit, obgleich der Herbst nahe und der Winter durchaus nicht fern ist. Wir sind in der zweiten Woche des Septembers; es kommt ein frischer, erquickender Hauch vom Harz herüber, und man ahnt bei jeglichem Atemzug, wie dort oben die Waldwasser jubelnd durch Licht und Dunkel tanzen, über Stock und Stein hüpfen und lustig einstimmen in das Singen der Bergleute und Hirten, in das Geläut der Herdenglocken.
Aber die Wasser kommen selber aus dem Gebirge in die Ebene hinab, um Nachricht zu bringen, wie es in der Heimat zugeht. Da tanzt die Holzemme her, der alten Bischofsstadt die Grüße der blauen Höhen zuzutragen, und nimmt es für gar nichts Erstaunliches, daß ihr die Glocken des Domes, der Liebfrauenkirche und der andern Kirchen antworten, wie da oben die Herdenglocken.
Es ist ein Freitagmorgen, und der Kutscher auf dem Bock der Kutsche vom Lauenhofe zu Krodebeck sagt:
»Sie kommen gerade recht. Es gefällt mir, daß sie grad zum Lohntag heimkommen. Es macht sich nicht immer so, daß man so zur rechten Stunde seinen Willen kriegt. Ja, der Fröschler! Ja, man hat ihn gerade satt, und vorzüglich am Sonnabend, allwo ihm ein jeder Tagelöhner am liebsten mit dem Knüppel zu Leibe stiege; – der Teufel weiß, wie es zugeht.«
Viel Getümmel am Halberstädter Bahnhof! Der Braunschweiger Herzog wird auch mit einem der nächsten Züge erwartet. Er fährt nach seinem Schloß Blankenburg, und von Berlin kommt ein preußischer Prinz zum Aufgang der Jagd auf Besuch, und wenn jedweder offizielle Empfang von den beiden Herren verbeten wurde, so empfängt die Bevölkerung bei derartigen Gelegenheiten immer offiziell und läßt sich ihr Recht nicht nehmen.
In der Stadt ist's desto stiller. Die Fliegen summen dem steinernen Roland am Rathause und dem wie aus Erz gegossenen andern Harnischträger vor seinem Schilderhause an der Hauptwache um die Nase; an den Fenstern der schönen und der häßlichen alten Holzhäuser sitzen die schönen und häßlichen, die klugen und törichten Jungfrauen der Stadt, sowie auch ihre Mütter. Die Kinder spielen vor den Türen; die Kindermädchen nehmen die Huldigungen der weißen Kürassiere entgegen; es geht ein Geist wie der des so kriegsmutigen und doch so guten alten Vaters Gleim durch die Straßen und sonnt sich in der Mittagssonne auf den ruhigen, reinlichen Plätzen. Es ist immer recht still und behaglich in Halberstadt trotz seiner Garnison von grimmen Panzerreitern.
Unter den schattenden Bäumen des Domhofes, wo einst der gute alte Vater Gleim in Person lustwandelte und – es sind eben, auf die Stunde, hundert Jahre – als »Thyrsis« seine Sappho, die Karschin, mit spitzen Fingern spazierenführte, wandelte augenblicklich ein anderer guter Mensch, jedoch ohne Sappho, einher, der Kandidat der Theologie Franz Buschmann aus Krodebeck. Feierlich im Frack und mit einem Trauerflor um den Hut, doch knickbeinig wie immer kam er daher. Er hatte dem Generalsuperintendenten einen Besuch gemacht und wandelte jetzt in Christo nachdenklich zum Bahnhofe, um die gute Gelegenheit zur Heimfahrt zu benutzen, wie er die nämliche gute Gelegenheit, das heißt den Wagen vom Lauenhof, am frühen Morgen auch zur Herfahrt benutzt hatte. Er grüßte höflich und doch vertraulich verschiedene geistliche Herren, die ihm auf seinem Wege begegneten, und er grüßte höflich den Kutscher vom Hofe auf seinem Bocke.
»Ist der Zug noch nicht angezeigt worden, lieber Fritz?«
»Ja, eben, Herr Kandidate, und jetzt haben wir gottlob am längsten gewartet. Na, wird das eine Freude sein! Ich glaube, endlich hat's doch niemandem gepaßt, daß der Herr in der Fremde herumvagabondierte und andere Leute, die ich nicht nenne, das große Maul führten.«
Der Kandidat Buschmann seufzte und ging in die Halle, wo der Zug, welcher den preußischen Prinzen, den Junker Hennig von Lauen und den Ritter von Glaubigern mit sich brachte, soeben in die entgegengesetzte Bogenwölbung hereinächzte und -zischte. Es war ein sehr heftiges Gedränge; aber der Kandidat sah, wie wir wissen, ebenso lang als dürr über die Häupter der übrigen Menschen weg, und – da – da waren sie wirklich – sowohl der preußische Prinz wie auch der Junker und der Chevalier von Glaubigern, und der Kandidat seufzte wiederum, als er sich auf den Zehen hob und sagte:
»Ja, da sind sie! O du lieber Gott, da sind sie wirklich, und der Hennig scheint seine liebe Not mit dem Alten gehabt zu haben. Nun, nun, ich hoffe, solches wird ihn auch für meine traurige Nachricht weich und teilnehmend gestimmt haben.«
Sofort drängte er sich mit einer Rücksichtslosigkeit, die nur durch jene, seine traurige Nachricht entschuldigt werden konnte, durch das Getümmel den beiden Reisenden entgegen, streckte ihnen die Hände dar und rief:
»O mein lieber, lieber, mein teurer Hennig! Mein teurer Freund! O mein lieber Herr von Glaubigern, der Herr segne Sie in der Heimat! In bangen Sorgen und Schmerzen haben wir auf Sie gewartet.«
»Guten Tag, Buschmann!« erwiderte Hennig. »Hilf uns vor allen Dingen durch den Lärm. Wir haben auch unsere Sorgen gehabt und bringen ein gut Teil von unseren Schmerzen heim. So! Da haben wir Luft. Guten Tag, Buschmann, – da sind wir. Wie geht es dir? Wie steht es daheim?«
Der Kandidat wies mit einem scharfen Ruck auf den Trauerflor an seinem Hute:
»Vor allen Dingen ist mein armer guter Vater recht sanft und friedlich eingeschlafen.«
»Oh!« rief Hennig.
»Und er ist im tiefsten, innigsten Glauben an seinen Erlöser hinübergegangen, und er hing mit großer Liebe an dir, Hennig! Selbst in dem letzten, schweren Stündlein hat er noch von dir geredet.«
Nun seufzte auch der Junker von Lauen sehr tief; aber der Kandidat Buschmann fuhr fort:
»Wir sprechen noch davon, Lieber. Du bist so gütig, mir ein Plätzchen in deinem Wagen zu geben, dort hält er; – auf der Fahrt werde ich dir alles, alles sagen. Und nun, vor allen Dingen, Hennig, wie ist es euch ergangen? Was macht unsere gute Antonie? Wir haben lange keine Nachrichten von euch erhalten, und das hat unsere Unruhe nicht vermindert.«
Hennig faßte hastig den Arm seines Freundes und flüsterte:
»Sei still! Sprich nicht von Antonie! Jetzt nicht! Er ist mir unter den Händen zu einem Kinde geworden, und er weint und wimmert wie ein Kind, wenn der Name genannt wird. Laß uns gehen; wir wollen uns nicht aufhalten; hilf mir, ihn in den Wagen zu bringen. Es ist mir lieb, daß ich dich hier treffe, Buschmann; ich bin mit meinen Kräften vollständig zu Ende, und ich werde diese Reise in meinem Leben nicht vergessen.«
»Steht es so schlimm dort unten?« flüsterte der Kandidat.
»Es ist vorüber. Es ist vorbei. Wir haben viel Unglück gehabt und kommen auch von einem Begräbnis; mir aber ist sehr schlecht zumute«, erwiderte Hennig.
»Oh!« rief Franz Buschmann; und dann faßten sie beide den Herrn von Glaubigern unter die Arme und geleiteten ihn, ohne sich weiter nach dem preußischen Prinzen und dem Herzog von Braunschweig umzusehen, zu dem Wagen. Sie hoben den Ritter mühsam hinein, und Hennig rief:
»Das sind die Krodebecker Rappen, Herr von Glaubigern! Das ist wieder der erste gesunde Atemzug! Wir sind zu Hause, Herr Leutnant.«
Der Chevalier sah blöde umher und lächelte und nickte altersschwach:
»Jaja! Recht gut! Aber es waren nicht wir, sondern die brandenburgischen Husaren und die reitenden freiwilligen Jäger, welche die Marinegarden bei Möckern zusammenhieben. Wir Kürassiere hielten vor Klein-Wiederitzsch gegen Ney.«
»So ist er nun«, flüsterte Hennig. »Er hat alles andere bis auf den Namen Antonie vergessen; aber was er in seiner Jugend erlebte, weiß er alles wieder ganz genau, und von der Gardemarine habe ich ihm vor einem Vierteljahre von Wien aus geschrieben. O Franz, es wäre eine wahre, richtige Kuriosität, wenn es nicht so jammervoll wäre.«
Dem Krodebecker Fritz auf dem Kutschbock blieb die wohleingelernte Gratulation zur vergnügten Heimkehr in der Kehle stecken, als sie den Ritter heranführten. Er fuhr wie in einer Betäubung befangen vom Halberstädter Bahnhof ab und blickte häufig, mit aufgesperrtem Munde, über die Schulter nach den Herren im Wagen.
Sie hatten den Chevalier von Glaubigern auf den Rücksitz gesetzt, und da saß er neben dem Junker und stellenweise von diesem unterstützt. Mit dem Kinn auf dem Stockknopf, mit geschlossenen Augen saß er da und schien jegliches Interesse für seine Umgebung verloren zu haben. Auch die für ihn immer bekannter werdende Landschaft machte keinen ermunternden Eindruck auf ihn. Er schlummerte bald ganz ein und schlief vom Mittag bis spät in den Nachmittag; die beiden jungen Leute hatten das Gespräch für sich allein und führten es weiter, ohne ebenfalls viel auf ihren Weg und das zur Linken ihres Weges in immer andern Höhen, Wäldern und Talausmündungen sich hinschiebende Gebirge zu achten.
»Das ist freilich eine trostlose Geschichte«, sprach der Pastorenfranz, melancholisch das Haupt schüttelnd. »So jung, so hübsch und in so – hübschen Umständen! Wir haben davon wie von einem Märchen gesprochen, und es war auch in der Tat märchenhaft, wie sie bei uns ankam und nachher sechsspännig wieder abgeholt wurde! Und nun geht das so aus – ich begreife es noch lange nicht. Nun, der Herr führt uns alle nach seinem heiligen Willen; aber wer hätte das gedacht, als wir als Kinder so gute Freundschaft miteinander hielten?! Ich hatte sie sehr gern, obgleich ich sagen möchte, daß – daß sie – nun, wir wollen das übrige dem überlassen, der allein auf die rechte Weise in der Tiefe des Menschenherzens zu lesen versteht; aber – du verstehst mich schon, lieber Hennig – sie hatte auch ihre boshaften Launen, und dann gehörte viel christliche Geduld dazu, um es in ihrer Gesellschaft aushalten zu können. Doch – sie wußte euch sämtlich auf dem Lauenhofe recht gut zu nehmen; man hatte öfters Grund, sich darüber zu verwundern.«
Der Junker von Lauen setzte unwillkürlich einen Eckzahn auf die Unterlippe und sah den Kandidaten ziemlich sonderbar an:
»Es wird für jetzt und alle Zeiten besser sein, wir reden in dieser Weise nicht von ihr, Buschmann!« sagte er, und Blick und Ton bewogen den guten Franz wirklich, sofort in einer andern Weise von der armen Tonie Häußler zu reden, nämlich nur Gutes.
Nach einer Weile sagte Hennig, nachdem er den zungenfertigen Freund hatte reden lassen, ohne auf ihn zu achten:
»Es ist mir merkwürdig zu Sinne. Ich kenne hier jeden Baum an der Straße; ich kenne dort jeden Berggipfel, ich bin diesen Weg wohl hundertmal gefahren, geritten und gelaufen, und nun erscheint mir alles wie ausgewechselt. Es ist die ganze Welt eine andere geworden; ich habe mehr erlebt, als ich ausdenken kann. Ich bin auch ein anderer geworden, Buschmann.«
Darin irrte er sich. Seine Umgebung mochte ihm heute wohl in einer andern Gestalt und Färbung erscheinen, allein er selbst war noch ganz derselbe, der er vor Jahren gewesen war. Das Phänomen wiederholt sich häufig, wie viele Leute, die auch dann und wann meinten, sich vollständig geändert zu haben, aus ihrer eigenen Erfahrung bestätigen können.
Der Pastorenfranz sprach nun ein langes und breites von dem Tode seines Herrn Vaters und suchte nicht ohne Absicht einen tiefern Eindruck durch seinen rührenden Bericht hervorzubringen, infolgedessen er leider geraume Zeit hindurch nicht merkte, daß er diesen Eindruck keineswegs hervorbringe. Als er endlich erkannte, daß ihm der Jugendfreund nicht mit der wünschenswerten Aufmerksamkeit folge, seufzte er tiefer denn je, brach aber sofort ab und trocknete auf der Stelle für jetzt seine Tränen.
Sie näherten sich, da es Abend wurde, allmählich der Heimat. Als die kühlen Schatten des Tannenwaldes von Krodebeck auf ihre Häupter fielen, erwachte der Ritter von Glaubigern, rieb sich die Augen, sah sich um und blickte erstaunt auf den Pastorenfranz, als sei es ihm unmöglich, an die Möglichkeit seines Vorhandenseins da auf dem Wagensitze vor ihm zu glauben.
»Es ist der Franz – der Franz Buschmann«, rief Hennig. »Wir haben den alten Jungen in Halberstadt auf dem Bahnhofe getroffen, Herr von Glaubigern, und ihn mitgenommen. Dies ist das Kuckelrucksholz, in einer Viertelstunde sind wir nun wirklich zu Hause!«
Der Chevalier richtete sich empor von seinem Sitze; hätte ihn der Junker von Lauen nicht schnell umfaßt und gehalten, so würde er im nächsten Augenblicke unter den Hinterrädern des Wagens gelegen haben. Er wehrte sich aber heftig, wenn auch unbewußt, gegen die haltenden Arme seines Zöglings und schrie mit gellender, angstvoller Stimme:
»Wo ist sie? Sie! sie! Sie saß neben mir! Ich habe ihre Hand gehalten! Da mit dieser Hand! Wo ist sie geblieben? Wir brachten sie mit uns zurück – sie hat neben mir gesessen – halt die Pferde an, es ist ein großes Unglück geschehen. Horch, horch, sie ruft aus der Ferne!... Antonie, hier, Antonie!«
»Sie ist da – sie kommt uns nach«, murmelte Hennig in peinlicher Verlegenheit über die Art und Weise, in welcher er den alten Mann beruhigen sollte.
»Es ist nicht wahr! Es ist eine Lüge. Alle lügen, jeder lügt! Sie ist tot, und wir haben sie begraben, ich bitte um Entschuldigung«, sagte der Ritter von Glaubigern weinerlich und fiel in seine Ecke zurück. »Wann haben wir sie begraben, Herr von Lauen? Sie waren ja dabei. O es war sehr schön, Herr Buschmann, – es ist recht schade, daß Ihr Herr Vater nicht zugegen sein konnte; aber es ist lange her, sehr lange, und ich hätte doch auch nicht gern gesehen, wenn Ihr Herr Vater zugegen gewesen wäre, es waren schon zu viele unbekannte Leute da. Ja, Herr Buschmann, der Hennig ist ein guter Junge, allein in der Fremde ist wenig mit ihm auszurichten. Nun, seine Mutter wird sich recht freuen, daß ich ihn gesund und vergnügt zurückbringe. Ich hatte es ihr versprochen, und ich habe immer mein Wort gehalten; nur meiner Tonie, der armen Tonie nicht. Die habe ich in der Fremde zurückgelassen und hatte doch versprochen, bei ihr zu bleiben oder mit ihr zu gehen. Aber ich werde ihr nachkommen, ich werde ihr ganz gewißlich nachkommen – ich bin so sehr alt, und sie war so sehr jung, da ist es kein Wunder, daß sie auf ihren kleinen leichten Füßen solchen Vorsprung mir abgewann.«
»Das ist ja Wahnsinn! Ist er jetzt immer so?« fragte der Kandidat leise.
»Nein – sei nur still«, erwiderte Hennig ebenso leise. »Er ist nur wirklich recht alt, und das große Elend hat ihn mit einem Male kindisch gemacht. Warte nur, ich werde ihn auf seine Jugendzeit bringen, darin ist er einzig und allein jetzt vollständig zu Hause.«
»Und ich habe sie ihm doch wieder abgeholt; er hat sie nicht behalten können!« rief der Greis plötzlich mit einem wilden triumphierenden Blick; aber dann schloß er sogleich von neuem die Augen und saß fürderhin stumm und zusammengesunken. Der Wagen fuhr an dem Siechenhause von Krodebeck vorüber; es war nicht mehr nötig, daß der Junker von Lauen den Ritter von Glaubigern auf seine Jugendzeit zu bringen suchte.
Hennig sah nach der elenden Hütte hinüber, und wenn ihm je in seinem Leben die Welt in einem andern Lichte als gewöhnlich erschienen war, so war das in diesem Augenblicke. Einen Augenblick lang erfaßte er wirklich die große Tragikomödie der Welt, insoweit er und die Seinigen darin mitgespielt hatten und noch mitspielten, im tiefsten; und in diesem Augenblicke erhob er sanft und in schmerzlicher Zärtlichkeit das müde, schlaftrunkene Greisenhaupt an seiner Seite im Arme und gab ihm eine bequemere Lage an seiner Brust. Aber das ging schnell vorüber, denn dort ragten die Bäume des Lauenhofes, dort grüßte ein bekannter Bauer, dort erhob sich die Gartenterrasse mit dem morschen Sommerhause – die letzte Wendung des Weges, und dort ragten die alten braunen Giebel, die Schieferdächer und Schornsteine seines alten, wackern Vaterhauses empor! Er hörte das Gebell seiner Hunde, und ein freudiges Grinsen verbreitete sich über sein Gesicht, und seine Seele füllte sich mit den gewohnten Bildern. Er dachte an den Freund Fröschler, und er dachte an seine Gäule, an die Wintersaat, an die neuen friesischen Kühe, die sich jetzt allgemach eingewöhnt haben mußten.
Der Kutscher Fritz klatschte lustig mit der Peitsche; der Wagen fuhr in das Hoftor – und Hennig von Lauen war in der Tat wieder zu Hause. Es fehlte wenig, daß er fast einen lauten Jubelruf hätte hören lassen – er seufzte vor Behagen!
Von allen Seiten drängten sich die Leute heran, ihn zu begrüßen. Fröschler kam im Laufschritt über den Hof und reichte dem heimkehrenden jungen Patron zuerst die Hand in den Wagen. Die Knechte und Mägde standen schüchtern in einiger Entfernung und ließen plötzlich das Jubelgeschrei hören, in welches der Junker von Lauen – so gern eingestimmt hätte. Sie schrieen laut genug, und ihr Vivat drang zu den Ohren von zwei alten Frauenzimmern, die soeben von der Vortreppe des Hauses herabhumpelten, einen Augenblick verwundert stehenblieben und sodann ebenfalls so eilig als möglich herbeikamen.
Da niemand auf sie achtete, so machte ihnen auch niemand Platz; aber die eine der beiden Alten verstand es, sich selber den Weg frei zu machen.
»Laßt mich hinzu!« rief sie. »Glück auf, Herr von Lauen! Herr Ritter – o Herr Ritter, wo ist das Kind?«
Nun war der Chevalier von Glaubigern durch den Lärm der Hintersassen des Lauenhofes auch von neuem aus seinem Schlummer erweckt worden und sah dicht vor sich am Wagenschlag das verwitterte und im Staunen und Schrecken verzogene Gesicht Jane Warwolfs und neben der Jane die trümmerhafte Gestalt der einst so großen und hohen Freundin, Fräulein Adelaide Klotilde Paula von Saint-Trouin. Schon aber hatte die Warwölfin mit den spitzen Ellenbogen den Junker zur Rechten und den Kandidaten der Theologie Franz Buschmann zur Linken auf die Seite geschoben. Sie umfaßte den Greis und hob ihn wie ein Kind aus dem Wagen. Er stand taumelnd und schwankend auf dem Boden des Lauenhofes und nahm den Hut ab und verbeugte sich und grüßte blöde und meinungslos lächelnd im Kreise.
»O du mein Gott im Himmel, Herr von Glaubigern, was bringen Sie uns heim?« rief Jane, ihn immer noch unterstützend. »O Jesus Christus, was haben Sie uns mitgebracht, Herr von Glaubigern? Nichts weiter als solch ein Gesicht? O Himmel, was hat man aus Ihnen gemacht!«
Da ging unter den scharfen Augen Jane Warwolfs noch einmal und zum letzten Male ein Zug schärfsten Verständnisses über dieses Gesicht des kindisch gewordenen Ritters Karl Eustach von Glaubigern; er legte den Finger auf den Mund und sah hastig nach beiden Seiten hin über die Schultern. Dann faßte er die Hand der Greisin und flüsterte:
»Sei still! Ich kam zur rechten Zeit. Sie ist glücklich! Glaube niemandem, der dir sagen will, daß sie im Elend gestorben sei. Wie hieß der Mann, der sie uns nahm und wegführte und meinte, er habe ein Recht auf sie, und sie gehöre ihm an?! Ich habe den Namen vergessen, aber das ist einerlei, es war da eine ganze Welt, die denselben Namen führte und dasselbe von unserem Kinde behauptete. Es war eine Lüge – und jetzt ist alles gut und in Ordnung: wir bleiben beieinander; aber es ist ein Geheimnis. Achte nicht auf den Hennig und diese andern um uns her, sie wissen nichts, denn sie sind nur so lange glücklich, als die Sonne scheint und es ihnen wohlgeht! Auch das ist gut. Jetzt geh fort, ich muß mit dem Fräulein sprechen, sie nimmt es schon übel, daß ich so lange mit dir rede.«
Und der Chevalier bot dem Fräulein von Saint-Trouin den Arm und führte es mit der altgewohnten Höflichkeit und Zierlichkeit dem Hause zu, und sie erreichten das Haus als zwei alte, alte Kinder, für die das Erdenleben kaum noch einen klaren Sinn hatte.
Jane Warwolf sah ihnen finster und mit zitternden Lippen nach. Dann wendete sie sich an den Junker:
»Ist das so wahr, wie ich es mit meinem schlechten Verstande begriffen habe, Herr von Lauen?«
Hennig nickte traurig:
»Wir kommen von ihrem Begräbnis, Jane. Was ich durchgemacht habe, das hat noch kein anderer Mensch erlebt. Jetzt laß mich in Ruhe, es dreht sich alles um mich. Du wirst alles erfahren, ich gebe dir mein Wort darauf.«
»Das wäre denn freilich das Ende, wie ich es vom Anfang an gesehen habe!« sagte Jane, wendete sich ab und ging still fort nach dem Siechenhause von Krodebeck.
Sie umschritt die Hütte und trat durch die Hecke auf den Kirchhof des Dorfes und setzte sich kopfschüttelnd auf das Grab Hanne Allmanns und murmelte:
»Glück auf – Glück herunter – ja freilich, darauf läuft's hinaus, daß wir zuletzt doch alle beieinanderbleiben; aber wer am wenigsten darüber nachdenkt, der hat's vielleicht doch am besten. Nun bin ich auf meine alten Tage aus einer Landläuferin eine Kinderfrau geworden; aber – lache, lache nicht, Hanne! Es ist gewiß und wahrhaftig nicht zum Lachen, Hanne Allmann. Den Ritter muß ich abwarten, von dem gnädigen Frölen gar nicht zu reden. Den Ritter! Den Herrn Ritter, Hanne Allmann!«
Und die Greisin bedeckte die Augen mit den Händen und weinte selber bitterlich; wir aber, wir haben uns bereits im Anfang dagegen verwahrt, daß wir imstande seien, aus dem Buche vom Schüdderump eine besonders lustige Geschichte zu machen. –
Im Dorfe von Tür zu Tür, von Gevatterin zu Gevatterin, von der Schmiede bis in die Schenke ging ein Geflüster: die beiden Herren vom Hofe seien heimgekehrt aus der großen Stadt da unten in Osterreich und hätten kuriose und üble Nachrichten mitgebracht von dem Kinde der schönen Marie. Es nutzt uns aber nicht, von den verschiedenen Gestalten und Färbungen zu reden, welche diese Nachrichten in den verschiedenen Köpfen und Mäulern annahmen. Es genügt uns, noch einmal die Ansicht eines einzigen Mannes zu vernehmen, auf dessen Denken und Fühlen wir im stillen immer ein hohes Gewicht legten, selbst dann und da, wo wir es gerade nicht hervorhoben oder hervorheben konnten. Uns genügt hier vollständig die Moral oder die Quintessenz der Moral, welche der teure Kandidat der Gottesgelahrtheit, Franz Buschmann, der nicht nur die beste Anwartschaft auf die Krodebecker Pfarre hatte, sondern auch wirklich die innigsten Gefühle eines bedeutenden Teiles der menschlichen Gesellschaft repräsentierte, aus dem betrüblichen Fall abzog. Nach außen hin neigte er nur das Haupt, seufzte schwer und sprach ganz im allgemeinen von der Nichtigkeit des Lebens, von dem einen, was allein not tue und ohne welches freilich alle irdische Herrlichkeit und Schönheit, alle Klugheit und geistige Pracht zu Schlingen des ewigen Verderbens würden. Im Innern aber tanzten folgende Betrachtungen eines gewiß nicht irdisch-dummen Menschen den seltsamsten Tanz:
»Das war ein reizendes Mädchen – jammerschade drum! Ich hatte das liebe Kind ungemein gern und habe stets mein möglichstes getan, um in einem angenehmen Verhältnisse mit ihr zu bleiben. Welch ein Schicksal, und welch ein Charakter! Und – welche Moral, o Gott, welche Moral! Ein eigentümliches Kind, so ganz unweiblich und doch allerliebst-scharmant; sie hat mich häufig in Verlegenheit gesetzt und noch häufiger recht geärgert. Also ist sie tot! wirklich tot! Laßt mich sehen – sie kann kaum zwanzig Jahre alt geworden sein. Ach, ich hätte sie wohl sehen mögen in ihrem Glanze in Wien. Apage, apage! – welche unnützen Vorstellungen! Und doch wird man das nicht los, man hat sie zu gut gekannt. Wie wäre das geworden, wenn sich mein Herr Vater ihrer Erziehung angenommen hätte – wie glücklich hätte dann ihr Leben sein können – und sie würde heute leben und glücklich sein. Es ist gar nicht auszudrücken, in was für eine glänzende Ferne man da hinaussieht. Apage! Als der brave Papa, der Großpapa, der Edle Häußler von Haußenbleib kam, war's freilich bereits zu spät. Jaja, wir werden eben unerforschliche Wege geführt, und es ist nur ein Trost, daß der Herr den Seinen die besten anweiset. Sela.«
Daß der Herr die Seinigen die besten Wege zu führen weiß, ist wohl auch durch dieses Buch wieder einmal gezeigt worden, und wir könnten nunmehr still unsere Feder weglegen, unser Manuskript schließen und es den Leuten überlassen, wie sie sich mit dem Buche vom Schüdderump abfinden mögen.
Der Edle Dietrich Häußler von Haußenbleib hat augenblicklich in Fiume vielen Verdruß und führt eine verwickelte Korrespondenz mit der Admiralität zu Triest. Aber er baut an der zweiten Million und verspürt keine Lust mehr, mit dem Grafen Basilides Conexionsky zu teilen. Der Junker von Lauen möchte gern seine Zigarre in Frieden rauchen und seinen melancholischen Gedanken in Ruhe nachhängen; allein er kommt selten dazu, sein Freund Fröschler und ein Dutzend gute Nachbarn und die Eichsfelder dulden es nicht.
Wenn die Witterung es erlaubt, schleichen drei alte, kümmerliche Gestalten nach dem Siechenhause, das wieder leer steht, und Jane Warwolf trägt den Schlüssel und öffnet so schnell als möglich; denn der Ritter von Glaubigern wird sehr böse jetzt, wenn er nicht sogleich seinen Willen bekommt. Die drei sitzen in einer Reihe auf der Bank und betrachten die kahlen Wände. Wenn jedoch plötzlich ein Schein über die morsche Wand hinliefe und eine lichte Gestalt leise winkend und freundlich lächelnd vorbeiginge und den Finger auf den Mund legte, so würden sie sich kaum darüber wundern.
Wir sind am Schlusse – und es war ein langer und mühseliger Weg von der Hungerpfarre zu Grunzenow an der Ostsee über Abu Telfan im Tumurkielande und im Schatten des Mondgebirges bis in dieses Siechenhaus zu Krodebeck am Fuße des alten germanischen Zauberberges!