Wilhelm Raabe
Der Schüdderump
Wilhelm Raabe

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Neunundzwanzigstes Kapitel

Wir haben dieses konfuse Schreiben, wie gesagt, seiner ganzen Länge nach geben müssen und ersehen daraus, daß Leute, welche nicht gewohnt sind, Briefe zu schreiben, in gegebenen Fällen mit sonderbarer Energie ans Werk gehen. Aber wir erfahren noch einiges andere daraus. So z. B. erhalten wir leider vor allen Dingen die Gewißheit, daß der Junker von Lauen nicht der Mann war, um dem dunkeln Fuhrmann in die Zügel zu fallen und die Speichen der schwarzen Räder rückwärts zu drehen. Seine Erziehung hatte ihn nicht fähig gemacht, einer Welt, wie sie ihm jetzt entgegenstand, mit Aussicht auf Erfolg den Kampf anzubieten; und unklare Gefühle haben, selbst in Verbindung mit dem besten Willen, stets sehr wenig gegen die offenkundigen Geheimnisse des Erdenlebens ausgerichtet. Es war vorauszusehen, daß Hennig sich eine Weile abmühen würde, um endlich mit blutenden Fingern nach Hause zu schleichen und sich zu trösten, wie Millionen vor ihm sich getröstet haben. So geschah es! Und daß er kein übler Gesell war, geht ebenfalls in unumstößlicher Gewißheit aus seinem jetzigen, an den Ritter von Glaubigern gerichteten Notschrei hervor. Und daß er das fremde reiche Leben, welches ihn jetzt umgab, nicht ohne Nutzen für spätere Zeiten durch ein so eigentümliches Medium in seine Erfahrung aufnehmen mußte, war, seinen schriftlichen Ergüssen zufolge, gleichfalls nicht zu bezweifeln. Er war nicht der Mann, welcher bis jetzt viel über die Dinge, welche ihn umringten, nachgedacht hatte. Menschen und Sachen ließ er gelten, wie sie sich gaben, was unter allen Umständen wohl das behaglichste ist, jedoch nicht grade für die Stärke und Regsamkeit des eigenen Geistes spricht. Das änderte sich natürlich auch in der Folge wenig; er ließ Menschen und Sachen nach wie vor in der alten Art auf sich wirken; allein er konnte sich unter Umständen doch darüber ärgern, und das war unbedingt ein großer Gewinn, wenn auch nicht für seine Behaglichkeit, so doch für sein ethisches Bewußtsein. Der Pastorenfranz war übrigens durchaus nicht gezwungen, die süße Gewißheit, an seines Vaters Stelle Pfarrherr zu Krodebeck zu werden, infolge dieser Wiener Reise seines Patrons aufzugeben! – –

Der Junker von Lauen siegelte seinen Brief an den Herrn von Glaubigern, wog ihn in der Hand, atmete etwas erleichterter und sprach:

»So! Nun wissen sie, woran sie sind, und können mir ihrerseits mitteilen, wie sie das Elend ansehen und was ich in ihrem Namen an die Tonie bestellen soll. Übrigens ist es mir recht lieb, daß ich nicht auf dem Hofe vorhanden bin, wenn dies Skriptum anlangt. Das wird eine schöne Bescherung geben; es ist schon von ferne schlimm genug, sich allein das gnädige Fräulein auszumalen, und an den Ritter mag ich gar nicht denken.«

Mit einem nicht sehr zarten Segenswunsch warf er sein Schreiben auf den Tisch und sich nach einer kurzen Weile aufs Bett und erwachte am andern Morgen nach einem gesunden Schlaf mit dem Gefühl, sich einer erstaunlichen Mühe und Arbeit ohne die geringste Aussicht auf Nutzen und Gewinn unterzogen zu haben.

»Ich verderbe den Alten höchstens den Appetit, wie er mir verdorben worden ist. Das ist alles!« sagte er während des Ankleidens, warf aber nachher den Brief eigenhändig in den nächsten Briefkasten und saß mürrisch und brütend in einem Kaffeehause, bis ihn die Wirbel der großen Stadt von neuem mit sich fortrissen. –

Wir haben im Grunde über die Zeit, welche er nun durchlebte, wenig zu sagen; wußte er doch selbst späterhin wenig davon zu erzählen! Naturen gleich der seinigen geraten nur zu leicht, wenn sie aus der gewohnten Bahn und Umgebung gerissen werden, in einen Taumel, der sie eben nicht befähigt, auf sich zu achten und für andere zu sorgen. Nur zu leicht verlieren sie jeden Maßstab für die Dinge und sind nachher, wenn sich die hohen Wogen verliefen, kaum imstande, was jene Periode ungewöhnlicher Aufregung betrifft, die Wirklichkeit von den Gebilden der Phantasie zu unterscheiden. Wohl aber sind sie zu jeder Zeit imstande, das Unglaublichste glaublich zu finden, wie sie sich den allerderbsten Realitäten gegenüber vorzugsweise gern dem drolligsten, aber für sie selber keineswegs vorteilhaften Skeptizismus zu überlassen pflegen.

Dazu finden sich denn natürlich Leute, welche sich ihrer auf das wohlwollendste annehmen, im Überfluß. Die guten, heitern, leichtherzigen Freunde und Freundinnen tauchen an allen Ecken und Enden auf und sind stets zur rechten Zeit gegenwärtig, um kleine Unannehmlichkeiten, Mißverständnisse und Verdrießlichkeiten mit wahrhaft rührender Aufopferung des eigenen Wohls und Behagens aus dem Wege zu räumen.

Der Junker Hennig von Lauen, welcher nicht nach Italien weiterreiste, sondern in Wien sitzenblieb, um der armen Tonie Häußler mit Rat und Tat beizustehen, hatte nach acht Tagen selber nichts nötiger als den Rat und die treue, ängstliche Hülfe der Jugendgespielin: ein Fall, den auch gescheitere Köpfe als er in einige Überlegung ziehen können.

In einer Hinsicht hielt der Junker vollständig Wort – er setzte sein ganzes Herz daran, der Tonie die Grillen zu vertreiben; nur war's eine andere Frage, ob er sich rühmen konnte, die richtige Art und Weise dafür ausfindig gemacht zu haben?!

Ein Mensch der sentimentalen Heimats- und Heimwehgefühle war er nicht, und so fing er denn sehr bald an, in bezug auf die Heimat recht witzig zu werden. Je mehr Bekanntschaften er machte, und er machte deren auch einige im Hause des Herrn von Haußenbleib, desto mehr verringerte sich der Druck auf seiner Seele, desto schneller schwanden die Sorgen und zornmütigen Aufwallungen, die ihn bei und nach dem ersten Wiederzusammentreffen mit dem Pflegekinde des Lauenhofes erfaßt und geschüttelt hatten. Von Tag zu Tage gefiel es ihm besser in der großen Stadt an der Donau, und je besser es ihm dort gefiel, desto größeren Trost fand er auch für Tonie Häußler in der Vorstellung, daß Krodebeck doch den Himmel auf Erden nicht bedeute und daß man mit einer gewissen harmlosen, jedoch nicht übertriebenen Neigung zu demselben allen Verpflichtungen gegen dasselbe Genüge leisten könne.

In diesem Sinne suchte er das arme Kind durch allerlei Karikaturen des Ortes und der Leute dort zu erheitern, und da der Ort und die Leute, seit Antonie sie verlassen mußte, so ziemlich die nämlichen geblieben waren, so war auch der Junker darauf beschränkt, seinen Humor in den alten Geleisen zu halten, und Tonie hatte also nicht einmal die Gelegenheit, andere Dinge und Personen in einem andern Lichte zu sehen. Er war unerbittlich im Auskramen seiner verbrauchten Plattheiten, und das schlimmste war, daß er den Chevalier von Glaubigern in der besten Absicht lächerlich zu machen suchte und gar nicht ahnte, wie er dadurch das Glück, welches er der Enkelin des Edlen von Haußenbleib gebracht hatte, in das Gegenteil verkehrte.

Dann und wann gelang es dem jungen Mädchen, ihn zurückzurufen in die Stimmung und den Ton der ersten Stunden ihres Zusammenseins; allein das dauerte nie lange, und er erschien an jedem neuen Tage aufgelegter, heiterer und zufriedener mit sich und aller Welt. Daß er darum ganz und gar aus dem Gedächtnis verloren hätte, weshalb er seine Reise nach dem Süden nicht weiter fortsetzte, weshalb er in Wien sitzengeblieben war – wollen wir nicht sagen. Er dachte häufig daran; es schwebte ihm fast jeden Augenblick vor der Seele; allein er wandelte in Betäubung, und das war auch eigentlich gar kein Wunder, denn Tonie Häußler lebte in einer seltsamen Welt, und diese Welt hatte seltsame Fangarme, denen man sich nur mit großer Gefahr näherte und die nicht leicht wieder losließen, was sie einmal erfaßt hatten.

Es war von dem größten Interesse für ihn, den neuen Bekanntschaften gegenüber recht klar und bei Sinnen zu bleiben, denn da er nach und nach fast alle Freunde und Freundinnen des Edlen Dietrich Häußler von Haußenbleib kennenlernte, so hatte er sich auch gegen alle in irgendeiner Art zu wehren. Und dazu verwirrten ihn allmählich die Äußerlichkeiten des Lebens, die Gassen, die Theater, die Berge und Gärten, die Kunstwerke und selbst der große Fluß in einer Weise, daß ihm zuletzt wenig von seinem frühern Anschauen und Denken übrigbleiben mußte. Oft griff er, wenn er spät in der Nacht sich endlich in seinem Zimmer in der Taborstraße allein fand, an die Stirn, um sich zu fragen: wer, was und wo er sei, und was mit dem nächsten Sonnenaufgang werden solle. Antonie Häußler, welche denselben Kampf in ziemlich derselben Art gekämpft hatte, war zu einem andern Ende gekommen, als dem Junker von Lauen bevorstand: sie hatte gesiegt und ihren Willen behalten, aber Hennig von Lauen war verloren, wenn nicht eine kräftige Hand zugriff und ihn nun von dem Abgrund zurückriß.

Die arme Tonie, was vermochte sie von ihrem Sessel, von ihrer Krankenstube aus gegen Ahaliba?!

Man nahm alles so leicht in Ahaliba! Man war so gern bereit, jedes und jeden von der bequemsten Seite zu nehmen. Da gab es keine unnötigen Haarspaltereien zwischen dem, was geschah, und dem, was eigentlich hätte geschehen oder nicht geschehen sollen. Jedermann schien nur zu bereit, den lieben Nächsten und noch lieber die hübsche Nächste unter allen den bedenklichen Umständen zu entschuldigen und in Schutz zu nehmen, unter welchen man demnächst selber entschuldigt und in Schutz genommen zu werden wünschte. Freundlich und heiter wurden Angelegenheiten und Verhältnisse behandelt, welche dem Moralisten wie dem Kriminalrichter Stoff zum Denken und zum Arbeiten geben konnten; und freundlich, heiter und lächelnd wurden natürlich auch die Resultate hingenommen, welche die Moralisten und Kriminalisten in einzelnen Fällen dieser fröhlichen, unbefangenen Lust des Daseins abgewonnen hatten.

Und jedermann hatte so viel erlebt und gesehen und kannte die Welt so gut. Und niemandem konnte man es übelnehmen, wenn er es sich in dieser drolligen Welt so bequem als möglich machte! Der Edle Dietrich Häußler von Haußenbleib war vollkommen berechtigt, auf dieser Schaubühne den Patriarchen zu agieren, und wurde so häufig als Muster und verehrungswürdiges, nachahmenswertes Beispiel höchsten irdischen Strebens und Erreichens aufgestellt, daß selbst der Junker von Lauen aus Krodebeck sich allgemach daran gewöhnte, ihn derartig loben zu hören. Von dem Schüdderump wußte niemand etwas. Von dem Schüdderump hatten ja überhaupt in diesem Buche nur der Ritter und Leutnant Karl Eustachius von Glaubigern und sein Pflegekind, die Tochter der schönen Marie Häußler aus dem Siechenhause zu Krodebeck, mehr als nur eine Ahnung.

Es kann hier nicht unsere Aufgabe sein, die einzelnen Perlen der Schnur zu zählen und sie in der Sonne glitzern zu lassen; sie haben doch nur in ihrer Gesamtwirkung ihren Einfluß auf den Lauf unserer Geschichte und selbst auf den Junker Hennig von Lauen. Was kümmert uns z. B. jener Herr, welcher mit Seiner Päpstlichen Heiligkeit auf einem solchen guten Fuße stand, daß er jedem, welcher es verdiente, den Orden des Goldenen Sporns verschaffen konnte? Es war ein sehr interessanter Herr, ein sehr liebenswürdiger und würdiger Herr; allein obgleich Hennig ihm mit Vergnügen zuhörte, war er, Hennig, doch noch bescheiden genug, um zu erklären, daß er sich keiner so auffälligen Verdienste um das Erbteil des heiligen Petrus bewußt sei, um auf die freundlichen Vermittlungen des Herrn Barons irgendwelchen Anspruch zu haben. Aber er besuchte den Herrn Baron in seiner eleganten Wohnung und traf daselbst andere Herren, welche ihn wiederum mit anderen Herren bekannt machten, und so fühlte er sich binnen kürzester Frist dem Herrn Baron zu mannigfachem Dank verpflichtet.

Von den Damen, gegen welche Hennig sich gleichfalls bald in der verschiedensten Weise verpflichtet fühlte, wollen wir noch weniger reden. Sie rühmten sich alle ihrer guten Seiten; aber auch meistens des Gegenteils derselben. Von allen Lebensaltern und Lebensstellungen, waren sie fast alle mit einem Stück mehr oder weniger mythischer Lebensgeschichte behaftet, und ihre Vergangenheit war selten danach angetan, daß sie einer schönen Vertraulichkeit in der Gegenwart Abbruch getan hätte. Aller Zukunftsgedanken entschlugen sie sich gern und eilig, und das war sehr verständig, denn die Zukunft ist am Ende keines Menschen Freund und am wenigsten die Freundin der schönen Damen, und das nicht bloß in Wien, sondern auch in Ahala und rund um den Erdenball herum.

Worüber könnten wir noch schweigen? Natürlich über die hohe und niedere Finanz, die selbstverständlich eine hervorragende Stellung in dem abenteuerlichen Kreise des Hauses auf der Laimgruben einnahm. Aber auch die Kunst in ihren verschiedensten Verzweigungen bietet uns eine treffliche Gelegenheit, unser Manuskript abzukürzen; und gerade hier müssen wir vor allen Dingen den Finger auf den Mund legen, denn der Edle Dietrich Häußler von Haußenbleib, welcher selbst sein Leben so künstlerisch abgerundet hatte, galt diesen Künstlern als ein großer Mäzen, und sein Name hatte den besten Klang auf ihren Zungen.

Ach, wir schweigen wohl; aber die Herrschaften sprachen alle sehr laut für sich selber, und sie imponierten dem Junker von Lauen, was auch das Kind aus dem Siechenhause zu Krodebeck und er selbst dagegen einwenden mochten! Das war ein anderer Verkehr als auf dem Lauenhofe in Krodebeck, in der berühmten Stadt des guten Vaters Gleim, ja selbst ein anderer Verkehr als in der sonderbaren Stadt Berlin an der Spree. Die Bauern und der Pastor Buschmann nördlich vom Blocksberg, die schon außer sich vor Respekt gerieten, als sie den Edlen, den sie doch in seiner Jugend gekannt hatten, wieder zu Gesicht bekamen, was würden sie zu allen den Herren und Damen gesagt haben, welche in dem Hause des Edlen aus und ein gingen und die sie nicht in ihrer Jugend gekannt hatten?

Ob wohl der Pastorenfranz diesen gnädigen Frauen gegenüber auch von dem Wege zur Gnade geredet haben würde? Sicherlich nicht! Er wäre fest überzeugt gewesen, daß sie denselben längst gefunden hätten; – bescheidentlich würde er sein evangelisch gescheitelt Haupt ihnen entgegengeneigt und höchstens den Wunsch ausgesprochen haben: ihnen mit sanften Schritten auf ihrem Pfade nachwandeln zu dürfen. Der Pastorenfranz hätte gewiß nicht seinem Junker einen Vorwurf daraus gemacht, daß derselbe sich ohne viel Sträubens in den bunten Tanz hineinziehen ließ. Er würde unzweifelhaft mit Vergnügen selber der nächsten Nachbarin auf der Stelle die Hand gereicht haben und hätte nachher bei gehöriger Muße eine Abhandlung über das Weib in Scharlach auf dem rosenfarbenen Tier mit den sieben Köpfen und zehn Hörnern geschrieben. Vielleicht würde man ihn dann auf diese Abhandlung hin in Halle zum Doktor der Theologie gemacht haben – so wäre man durchaus nicht aus der Apokalypse herausgefallen, und alles hätte den Weg genommen, den es auf dieser muntern Erde zu nehmen pflegt.

Fort damit! Ein ander Gesicht steigt uns in der Seele empor. Der Abend ist klar und still, die Sonne sinkt eben hinter die Vorhügel der Herzynischen Berge. Die alte Hanne Allmann sitzt am offenen Fenster ihrer Hütte und hält ein kleines Mädchen auf dem Schoße. Jetzt klingeln vom Walde her die Glocken der nach Haus zurückkehrenden Herden. Da kommen die guten Freunde der armen Hanne, da kommt das liebe Vieh, und die besten Bekannten darunter treten nach alter guter Gewohnheit näher, recken die Hälse und legen die feuchten blasenden Schnauzen auf das Fenstergesims. Vielleicht tritt auch Jane Warwolf aus dem Staubgewölk auf der Heerstraße mit ihrem hellen, kratzbürstigen »Glück auf!«. Es ist alles eins – man kennt einander und versteht einander; man weiß wenig von Ahala und noch weniger von Ahaliba; ach Gott, das liebe Vieh, das liebe Vieh!

Aber die Sonne von Krodebeck ist viele Male seit jenen Zeiten hinter den Wald hinabgesunken; wir beschwören Geister, die nur unwillig unserm Wort Folge leisten. Jane Warwolf ist längst vor die verschlossene Tür des Siechenhauses gekommen und hat vergeblich am Fenster gepocht. Nach der alten Hanne Allmann hat Peter Quickbrey, welcher auch den Edlen von Haußenbleib in seiner Jugend kannte, in dem Siechenhause von Krodebeck gewohnt. Der ist neulich ebenfalls gestorben, er hat es in dem Siechenhause nicht so lange ausgehalten als Hanne Allmann; wir aber haben nicht den Beruf mehr, die Geschichtsregister der traurigen Hütte weiterzuführen; wir befinden uns mitten in der prachtvollen Stadt Wien, wo das gnädige Fräulein, wo Antonie Häußler auf ihrem Sessel in ihren Kissen sitzt und die Bekannten und Freunde ihres Großvaters lächelnd zu empfangen und heiter zu unterhalten hat und wo sie auch von Zeit zu Zeit mit Herzklopfen den Besuch des Junkers Hennig von Lauen annimmt. –

Pflichtgemäß hatte Tonie dem Edlen in Verona zwischen seinen Mehlsäcken, Fässern voll eingepökelten Fleisches und Büchsen voll komprimierter Gemüse Nachricht von der Ankunft des jungen Landsmannes in Wien gegeben, und der Edle hatte fast umgehend geantwortet. Er hatte sogar sehr ausführlich geantwortet, ganz gegen seine Gewohnheit! Denn für gewöhnlich liebte er es, sich jenes kurzen und bündigen Stiles zu bedienen, der in der Korrespondenz des ersten Napoleon vielleicht seinen vollwichtigsten Ausdruck fand. Auf dem Leipziger Schlachtfelde konnte man seine Meinung kaum lakonischer diktieren, als sie der Edle von Haußenbleib sonst aus seinen Kasematten in der berühmten Stadt des Fürsten Escalus zu wissen tat; aber diesmal – en famille – wusch er seine schmutzige Wäsche wie das allergewöhnlichste alte Weib und füllte anderthalb Bogen mit seinen Gefühlen, Wünschen, Hoffnungen und Befürchtungen.

Zu Anfang seines Briefes freute er sich vor allem ungemein, daß das Befinden seines lieben Kindes in Wien stets weniger zu wünschen übriglasse, und dankte herzlich für alle lieben Nachrichten aus der Laimgruben. Die Ankunft des jungen Herrn von Lauen in der Kaiserstadt gereichte ihm zur unendlichen Befriedigung, und er glaubte kaum fähig zu sein, schriftlich seine volle Genugtuung darüber ausdrücken zu können. Das war freilich eine Nachricht, welche das Herz höher schlagen machte; denn was aus Krodebeck kam oder nur an Krodebeck erinnerte, war wie eine »Pièce auf dem Alphorn für einen Schweizer Kuhhirten« in der ungemütlichen Fremde – nämlich unter den Fleischtöpfen von Verona. – Der alte Herr wurde vollkommen sentimental an dieser Stelle, so sentimental, daß man es seinem Schreiben ganz und gar nicht ansah, daß er während der Abfassung desselben ein anderes Blatt daneben liegen hatte, auf welchem er, zwischen seiner Rührung durch, den Preis von fünfhundert Fässern eingepökelten Schweinefleisches zusammenrechnete und seine Prozente davon abzog. Wie Amyntas blies er auf dem Haferrohr, gerad als ob er für dies süße Getön – keine Prozente erwarte und den Lohn für seine Bemühungen nur im eigenen Herzen und in den Zähren von Daphnis und Chloe, und zwar sein ganzes Leben hindurch gefunden habe. Er hoffte, daß der junge Herr in seinem Hause wenigstens einen Hauch aus der teuern Heimat wiederfinden und davon in seinen Briefen nach der Heimat berichten werde. Er hoffte, wünschte und bat, daß das gute Tonerl nichts versäumen werde, um dem lieben Gast den Aufenthalt in der Kaiserstadt so angenehm als möglich zu machen, und er bedauerte innig, augenblicklich nicht in dieser Kaiserstadt anwesend zu sein, um dieses hohe Vergnügen mit der Enkelin wenigstens teilen zu können, hoffte jedoch, den verehrten Herrn von Lauen bei seiner Rückkehr aus Italien – die er beiläufig in nahe Aussicht stellte – noch vorzufinden, um selbst zeigen zu können, wie ein ehrlich treues Herz weder durch die Jahre noch den Wechsel des Glückes in seinen Neigungen und Empfindungen verändert werde. –

In dieser Weise ungefähr füllte der Edle den Bogen aus, und konnte der Inhalt unbefangen Wort für Wort, Satz für Satz dem Gast aus dem Norden vorgelesen, ja selbst zu eigener Einsichtnahme vorgelegt werden.

Was dagegen den halben Bogen betraf, so schien der Briefschreiber noch nicht das Vertrauen zu seiner Antonie zu haben, daß sie bereits das streng Geschäftliche von aller schönen Vertraulichkeit zu sondern wisse. Der zweite Teil der Epistel begann mit einem dicken schwarzen NB! und forderte die teure Enkelin mit vollem Ernst und Nachdruck auf, wohl ihre Stellung im Leben und der Gesellschaft zu bedenken und mit möglichster Delikatesse alles zu vermeiden, was den Interessen des Edlen und damit ihren eigenen Interessen zum Schaden gereichen könne. Der würdige alte Herr hielt sich versichert, das Tonerl wisse, daß es sich in einer Situation gleich der des Hauses in der Laimgruben nicht um dumme, kindische Sensiblerien handle, sondern um sehr ernste und bis jetzt mit eiserner Konsequenz durchgeführte Zwecke und um Hoffnungen, die man nicht ein ganzes langes Leben hindurch verfolgt habe, um sie zuletzt vielleicht den lächerlichen Vorurteilen und Wallungen einer albernen, nervösen jungen Dirne aufopfern zu müssen. Es sei keine Kleinigkeit – schrieb er –, als reicher Mann zu leben und als sehr reicher Mann dereinst – wenn es nötig sein sollte – zu sterben. Nicht umsonst habe er sie – die Tonie – vom Lauenhofe abgeholt und in solch ein glänzendes Dasein geführt, nachdem er sich überzeugt habe, ein glücklicher Zufall habe sie ganz seinen Ansichten gemäß erzogen. Nun solle sie – und sonderbarerweise bat er das Kind jetzt »auf den Knieen« –, nun solle sie ihm, dem treuen Verwandten, wohlmeinenden und die Welt kennenden Großpapa, nicht wiederum die bittere, herzkränkende Überzeugung wachrufen, er habe sich hier sowohl in seinen Ansichten wie auch in seinem Vorgehen recht verdrießlich geirrt und sich durch seine Reise nach Krodebeck höchstens eine tüchtige Rute gebunden.

Wie er am Schluß dieser Auslassungen der Adressatin noch seinen Segen geben konnte, ist eigentlich unbegreiflich, allein zum Glück knüpfte er denselben an die Bedingung, daß der »Junker vom Blocksberg« so schnell als möglich nach Hause oder weitergeschickt werde, und so kam alles wieder ins Gleichgewicht. Der Brief aber kam richtig in Wien an und gelangte wie alles, was der Edle von Haußenbleib seit jener Reise nach Krodebeck Antonie Häußler mitzuteilen hatte, leider Gottes an seine Adresse.


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