Wilhelm Raabe
Der Schüdderump
Wilhelm Raabe

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Vierunddreißigstes Kapitel

Beinahe vierzehn Tage gebrauchte der Junker Hennig von Lauen, um sich notdürftig zu fassen, und nie während seines Aufenthalts in der Fremde hatte er mit solcher Sehnsucht auf eine Lebensäußerung aus Krodebeck und vom Lauenhofe gewartet als dieses Mal. Er wartete vergeblich, und wir wissen weshalb. Da er die Sache den Leuten zu Krodebeck so eilig als möglich gemacht zu haben glaubte, so begriff er nicht im mindesten ihr Stillschweigen, und das machte ihn womöglich noch ratloser und zorniger. Er war ratlos im höchsten Grade. Hatte er das Recht, dem Herrn Dietrich Häußler einen Besuch auf seine freundliche Mitteilung zu machen und ihm mit den Fäusten auf den Leib zu rücken? Was wußte er von dem Grafen Basilides Conexionsky? In welcher Weise sollte er ihm gegenüber auftreten?

Der Name dieses Herrn war ziemlich häufig in der Unterhaltung seiner Wiener Freunde und Freundinnen aufgetaucht, und jedermann schien eine Ehre darein zu setzen, ihn zu kennen, und es für ein großes Vergnügen zu halten, mit ihm verkehren zu dürfen.

Tonie hatte freilich nie von ihm gesprochen, und nun zeigte es sich plötzlich, daß sie ihn jedenfalls genau gekannt haben mußte, daß sie längst im allergenauesten Verkehr mit ihm gestanden haben mußte!

Und was hatte die schöne Emanuele Werdenberg neulich, als er mit ihr nachts von der Villa Wanesch heimfuhr, gesagt? Alle Augenblicke sah er erschreckt über die Schulter, als ob da eben jemand hinter ihm höhnisch und hell gelacht habe; und dann lachte er selbst und nannte sich einen Dummkopf und hielt sich vor, wie vielen Ärger, wie viele Sorgen und Unannehmlichkeiten er sich erspart haben würde, wenn er nach dem ersten Besuch in der Laimgruben ruhig nach Italien weitergereist wäre und sich bei Pisa dem Studium der Kamelzucht, seiner Absicht gemäß, gewidmet hätte.

»Heut könnt ich mich selber dort auf die Weide geben!« rief er grimmig. »Dann wäre doch Hoffnung, daß ich einmal wieder in Krodebeck anlangen würde – mit einem Affen auf dem Buckel und einem Tanzbären, einer Querpfeife und Trommel zur Seite. O du lieber Himmel, da fehlte dann wirklich nichts weiter, als daß meine Mutter noch lebte und ihr Vergnügen an diesem Triumphzug haben könnte!«

Im nächsten Moment durchrieselte es ihn wieder heiß und kalt:

»Es ist nicht wahr! Es ist nicht möglich! Sie spielt nicht mit in der heillosen Posse! Sie ist nur elend und wird von den andern mit herumgezerrt und kann sich nicht wehren. Beim Satan, weshalb glaube ich ihr denn nicht? Sie hat nie ein unwahres Wort gesprochen. Ich höre ihre Stimme auf dem Lauenhofe hinter den Hecken, wenn man sie rief und sie aus der Ferne antwortete; – als ob die Stimme lügen könnte!? Weshalb der Chevalier nur nicht schreibt? Es kann ihm doch kein Vergnügen machen, sie – seinen Liebling hier im Pech zu wissen, von mir gar nicht einmal zu reden! Wenn ich nur wüßte, was ich anfinge! Ein frischgeschorener Pudel unter einem Sofa ist ein couragierter Kerl, ein Held gegen mich. Was hilft es mir und ihr, wenn ich auch hervorkrieche, um die hochverehrte, miserable Gesellschaft anzuheulen und anzubellen? Ich habe ja nicht die kleinste Berechtigung dazu vorzuweisen, und sie hätten das größte Recht, mich auszulachen, und zwar ganz höflich im besten Ton. Hallo, aber wenn sie mich auslachten und ich benutzte die Gelegenheit, um dem Don Basilio, oder wie der Bursch heißt, scharf auf den Leib zu rücken?! Das ginge vielleicht an! Das ist wenigstens ein Gedanke! Da könnte ich auch ganz fein sein und brauchte durchaus nicht aus dem guten Ton herauszufallen. Wir lernten einander bei der Gelegenheit kennen, und auf diese Weise würde einem von uns beiden jedenfalls geholfen werden! Das ist wahrhaftig ein Gedanke, und es ist eine wahre Schande, daß ich vierzehn Tage brauchte, um ihn zu finden. Der Tonie würden dadurch auch noch einmal sozusagen die Würfel in die Hand gegeben; dem alten Rattenkönig, dem Häußler, würde unbedingt für einige Zeit das Konzept verdorben, und was das beste ist, ich brauchte nicht mehr auf einen Brief aus Krodebeck zu warten. Abgemacht! Auf Ehre, morgen mache ich dem Herrn von Haußenbleib den Gegenbesuch für seine Visite auf dem Lauenhofe!«

Seit vierzehn Tagen hatte Hennig von Lauen nicht so frei und leicht geatmet wie an dem Abend, an welchem ihm dieser praktische, für alle Parteien so komfortable »Gedanke« aufging. Zum erstenmal seit vierzehn Tagen speiste er wieder mit Vergnügen und Appetit zu Nacht, um sich dann in das Karlstheater zu begeben und mit bescheiden-heiterm Gemüte den alten Nestroy in seinem eigenen Meisterstück »Einen Jux will er sich machen« – zu bewundern. Das war ganz ein Stück, sowohl für sein allgemein ästhetisches Verständnis wie für seine augenblickliche Stimmung. Für die hohe Komödie oder gar die Tragödie war er eben nicht gemacht, und da er sich ganz gemächlich und wohl dabei befand, so können wir ihm nur Glück dazu wünschen.

Er kam vollkommen in Harmonie mit sich und der Welt heim, speiste zum zweitenmal zu Nacht und trank diesmal, in seiner Ecke allein sitzend, fast zu viel. Seit vierzehn Tagen hatte er nicht einen so ruhigen Schlaf genossen wie jetzt, und als er am folgenden Morgen erwachte und mit etwas schwerem Kopf sein Programm für den heutigen Tag sich aufs neue zurechtlegte, fand er nichts daran zu ändern und machte, seine rüstige Gestalt und sein ehrlich Gesicht mit außergewöhnlichem Wohlgefallen im Spiegel beschauend, eine außergewöhnlich sorgfältige Toilette.

Während derselben fiel ihm allerlei ein, an welches er »viele Jahre nicht gedacht« hatte, und seltsamerweise spielte das Fräulein Adelaide Klotilde Paula von Saint-Trouin keine unbedeutende Rolle in diesen schwankenden Erinnerungen. Der Junker von Lauen dachte an die Zeiten, wo er mit offenem Munde zu den Füßen der hohen Dame saß, mit dem tapfern Johann von Brienne Tyrus eroberte und Kaiser von Konstantinopel wurde und alles glaubte, was das Frölen sagte, und nichts an der Art und Weise, wie es es sagte, auszusetzen fand.

»Es ist doch angenehm, wenn man etwas auf sich halten darf!« murmelte er, und: »Alles für die Ehre!« fügte er hinzu, sich seiner eigenen ritterlichen Ahnen erinnernd.

Ach – »alles für die Ehre!« hatte auch jener Herr Hilmar von Lauen gerufen, der im Jahre des Herrn 1578 mit dem einen Ende der großen Wurst in den Fäusten drei Tage und drei Nächte hindurch seinen Schemel im Kreise um die Säule im Kommißhaus zu Wolfenbüttel rückte, und es war ein Glück zu nennen, daß der jetzige Junker von Lauen mit seiner Toilette zu Ende gekommen war, ehe er seine Erinnerungen bis zu diesem Ahnen hinuntergeführt hatte! –

»Wie gut hat's doch der Mensch, der endlich weiß, was er zu tun hat«, sagte er vor dem Frühstückstisch im Kaffeehause. »Was mag die arme liebe Tonie sich über mein Ausbleiben eingebildet haben? Na, jetzt wird alles recht werden! Ah, und jetzt vorwärts! Wahrhaftig, nach einem reinen Gewissen geht doch nichts über solch eine reine, frische Morgenluft! Bei Gott, ich habe mich lange nicht so sehr Krodebeck gefühlt wie in diesem Augenblick.«

Er trat hinaus in die Gassen und ging noch ein wenig spazieren. Im Schaufenster eines Waffenhändlers betrachtete er längere Zeit mit innerlichstem Wohlbehagen ein elegantes Pistolenkästchen, und da in diesem Augenblick ein anderer junger eleganter Herr neben ihm stehenblieb, blickte er denselben unwillkürlich mit Interesse an und würde sich wenig verwundert haben, wenn sich derselbe ihm plötzlich als der Graf Basilides Conexionsky vor- und zur Verfügung gestellt haben würde.

Da das aber nicht geschah, so ging er weiter und sah noch eine geraume Zeit dem Exerzitium an der Franz-Josephs-Kaserne zu und verlor sich allmählich dabei vollständig in seine eigenen heitern und finstern militärischen Erlebnisse. Unter den nachdenklichsten Betrachtungen über die Frage, ob die tschechischen, slowakischen und hungarischen Flüche und Liebkosungsworte, die ununterbrochen durch das deutsche Kommando schnarrten, rollten, zischten und klapperten, an Ausdruck und Bedeutung wohl denen seines eigenen alten Wachtmeisters gleichkommen möchten, hätte er beinahe die Visitenstunde versäumt. Mit einem plötzlichen Schrecken hörte er die Turmuhren schlagen und blickte auf die eigene Uhr und richtete eiligst seine Schritte der Vorstadt Mariahilf zu. Wir aber haben vielleicht wieder einmal Gelegenheit gehabt, uns zu überzeugen, daß auf sein Denken, Dichten, Tun und Lassen jetzt, wo sich unsere trübe Geschichte ihrem Ende zuneigt, noch viel weniger ankommen kann als im Beginn derselben. –

Vor dem Hause in der Vorstadt Mariahilf hielt ein Reitknecht zu Pferde mit einem prächtigen ledigen Pferde, welchem der Junker von Lauen fünf Minuten lang mit höchstem Verständnis seine Aufmerksamkeit widmete, ehe er das Haus betrat. Mit ihrem zuvorkommendsten Lächeln begrüßte ihn im dritten Stockwerk die schöne Toinette, und mit seinem hellsten, offensten Lachen kam ihm der Edle von Haußenbleib unter dem Bilde des Zinsgroschens entgegen, nachdem ihn die Kammerjungfer angemeldet hatte.

»Da sind Sie endlich!« rief der Edle, beide Hände ihm darbietend. »Wie lange haben Sie auf sich warten lassen, und meine liebe Tonie sagte mir doch, daß wir Sie ganz zur Familie rechnen dürften. O Sie ahnen wohl, was alles mich abgehalten hat, zu Ihnen zu eilen, Ihnen die Hand zu drücken, mein lieber junger Freund, mein teuerster Landsmann? Aber nun ist alles recht – kommen Sie nur, mein Schwiegersohn wird sich gleichfalls unendlich freuen, Sie endlich kennenzulernen! Kommen Sie, Hennig, liebster Hennig – ach verzeihen Sie meine Vertraulichkeit, ich bin im Glück – vollkommen Hans im Glücke, und da setzt man über alle dummen Mauern und Gräben leicht weg und hat das Recht dazu. Jaja, ich habe ja zu meiner Genugtuung auch bereits vernommen, daß es Ihnen in unserm schönen, gemütlichen Wien recht wohl gefällt! Jaja, unter Wölfen muß man eben mit den Wölfen heulen! Kommen Sie, mein werter, teurer Landsmann, Ihr Name hat eine recht innige, herzliche Aufregung da drinnen hervorgerufen.«

Dem Junker summte der Kopf, und Arm in Arm betrat er mit dem Edlen das Zimmer Antoniens. Es schwindelte ihm, es drehte sich alles um ihn, er hatte ein dumpfes Bewußtsein, daß er einem eleganten jüngern Herrn im Reitkostüm mit den herzlichsten Worten vorgestellt werde; er hatte ein dumpfes Bewußtsein davon, daß er etwas von Ehre und großem Vergnügen murmele. Dazwischen schwankte, fast noch undeutlicher, eine Vision von seiner Tonie in einem schwarzen Sammetkleide, bleich und doch lächelnd, in ihrem Sessel; er wußte ziemlich deutlich, daß er den Arm des Edlen sehr fest gepackt halte, und – wer es dem Edlen gesagt haben mochte, jetzt war das Wort eine Wahrheit: er gehörte ganz zur Familie, und er wußte ganz bestimmt und klar, daß man von ihm erwarte und innigst wünsche, er werde diese Ehre, dieses Vergnügen tief im Herzen zu empfinden und zu würdigen wissen und sich demgemäß aufführen und betragen. Am meisten klares Gefühl von sich selber hatte er in dem Moment, als er eine kleine kalte Hand in der seinigen hielt und jemand mit ruhiger, sanfter, aber tonloser Stimme zu ihm: »Guten Morgen, lieber Hennig!« sagte; doch das ging schnell vorüber, und nachher dauerte es eine geraume Weile, ehe ihm seine Umgebung vollständig klar und bestimmt aus dem Nebel hervortrat.

Noch eine geraume Weile hörte er gleich einem Betrunkenen nur Bruchstücke der fortgesetzten Unterhaltung, die längst weitergeglitten war, ehe er diese Bruchstücke in irgendwelche logische Verbindung unter sich hatte bringen können. Und als er endlich seine gewöhnliche Beurteilungskraft wiedergewonnen, da mußte denn auch er einsehen, daß es längst zu spät war, hier die Lösung des Knotens nach dem alten faustrechtlichen, oft ganz praktischen Modus vorzunehmen.

Als ein alter Freund des Hauses war er von dem gerührten Schwiegervater dem Schwiegersohn vorgestellt worden, und mit dem freundschaftlichsten, offensten, herzlichsten Entgegenkommen hatte ihn der Graf Basil angenommen. Es war eine absolute Unmöglichkeit, von dem klarsten Rechte, grob zu sein, Gebrauch zu machen; durch außergewöhnliche Höflichkeit, sozusagen durch einen Brennspiegel von poliertem Stahl hätte sich in dieser Hinsicht vielleicht noch etwas ausrichten lassen; allein einen solchen Brennspiegel besaß der Junker von Lauen freilich nicht.

Man saß ganz harmlos und plauderte, und zwar durchaus nicht über irgend etwas Außergewöhnliches. Alle saßen, nur der Edle stand oder lehnte vielmehr hinter dem Sessel des Schwiegersohnes, etwas bedientenhaft zwar, aber doch nur mit großer Mühe fähig, sich selbst zu bezwingen und den teuern Menschen nicht alle zwei Minuten zärtlich tätschelnd auf die Schultern zu klopfen. Alle hatten die Tür und damit auch die horchende Kammerjungfer im Rücken; nur Antonie saß ihr mit dem Gesicht zugewendet. Wieder waren der Sonne wegen die Vorhänge herabgezogen, aber ein schöner Wind hob und senkte sie, durch die geöffneten Fenster spielend, und glänzende Lichter und magische Schatten durchtanzten wechselweise das Gemach. Es hielt ein Wagen vor dem Hause, und Zoe von Wanesch kam mit Emanuele Werdenberg – lachend, rosig, rauschend kamen sie und schüttelten perlende, blitzende Tropfen des Lebens von ihren Schwingen und aus ihrem Gefieder, wie ein Paar weiße Schwäne, die sich im Sonnenschein halb aus ihrem Element freudekreischend aufrichten. Sie küßten Antonie auf die Stirn, und sie lachten über den Grafen Basil. Sie lachten über den Edlen und lachten über den Junker von Lauen, und sie hätten mit und über jeden geweint, wenn es die Umstände erfordert hätten – teilnehmend, naiv, herzlich und voll überquillender Lust am Dasein unter allen Umständen. Sie litten es nicht, daß Antonie noch länger die Augen mit der Hand beschattete. Emanuele zog ihr liebkosend die Hand herab und nannte sie ein dummes, süßes, zuckersüßes Herzchen.

»Antonie, um Gottes willen!« rief der Junker von Lauen. »Antonie! Antonie!«

Sie sahen ihn alle darauf sehr verwundert an, und vor allen übrigen der Graf Basilides, welcher jetzt auch am meisten das Recht dazu hatte.

»Meine Herren – meine Damen – Herr Graf, das ist eine Grausamkeit! Das ist eine –«

Tonie Häußler erhob die Hand wieder und winkte dem armen Teufel: »Sei still, lieber Freund! Es ist nichts; – ich bin wohl und – sehr glücklich.«

Sie blickten sämtlich wahrhaftig mit großer Verwunderung auf den Junker von Lauen, und Zoe klopfte ihm mit dem Fächer auf den Arm: »Liebster, wir sind en famille. Weshalb sollten wir uns nicht glücklich fühlen?« Und Emanuele drohte ihm lächelnd mit dem Finger und legte denselben zierlichen Finger in demselben Augenblick bedeutungsvoll auf die Lippen. –

Unterdessen war wieder ein Wagen vorgefahren, und ein alter Herr war mühselig ausgestiegen, hatte die Nummer des Hauses mit einer Notiz in seiner Brieftasche verglichen und war mühsam die Treppen hinaufgestiegen. Niemand hatte den Klang der Türglocke vernommen, niemand den schweren greisenhaften Schritt im Vorzimmer.

»Der Herr von Glaubigern!« sagte die hübsche Kammerjungfer, voll zweifelhaften Staunens den neuen Besucher meldend, und mit einem lauten Schrei richtete sich das Pflegekind des Herrn von Glaubigern empor, stieß mit heftiger, krampfhafter Bewegung die sie auf beiden Seiten Umgebenden zurück und sank langsam in die Kniee, beide Arme nach dem Retter ausstreckend. Daß der Edle von Haußenbleib nicht in die Kniee sank, hatte seinen Grund einzig und allein in der vollkommenen Versteinerung des Mannes. Er wußte die Bedeutung des Besuches sehr gut zu würdigen und sah gläsern auf den alten Mann und wiederholte tonlos die Meldung der schönen Kammerjungfer:

»Der Herr Ritter von Glaubigern!« –


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