Wilhelm Raabe
Der Schüdderump
Wilhelm Raabe

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Sechstes Kapitel

Wenn der Junker Hennig von Lauen traumlos die Nacht durchschlief, so erwachte er am folgenden Morgen mit einem fressenden Appetit, gleich allen seinen Ahnen. Und da am Frühstückstisch natürlich wieder von dem Ereignis des vergangenen Tages, der Heimkehr der schönen Marie und ihres Kindes, die Rede war, so fiel unter dem Kauen und Schlucken auch dem Junker der Karren mit der kranken Frau und dem kleinen wildäugigen Mädchen ein, und zwar begleitet von jenem eigentümlichen Grauen der Kinder, welches oft so unerklärbar ist und meistens doch viel mehr bedeutet als das Grauen der Erwachsenen.

Hier freilich war des Kindes Abneigung und Furcht nicht unerklärlich, und wird an dieser Stelle die passende Gelegenheit gekommen sein, einige Worte über die Erziehung Hennigs zu sagen. Der Einfluß des Vaters auf dieselbe bestand darin, daß der biedere Landedelmann mit großem Erstaunen in die Wiege des Stammhalters sah und seine Verwunderung darüber aussprach, wieviel der Mensch in seinem Leben erleben könne. Hennig hatte nur ein dumpfes Bewußtsein davon, daß ihn ein großer Mann mit großem, wehendem rötlichem Schnauzbart vor sich im Sattel gehalten habe und mit ihm durch den Wald, entlang dem Rande des Waldes und über das Stoppelfeld im vollen Galopp gejagt sei und daß er in Angst und Wonne, schreiend und lachend, umflattert von der schwarzen Mähne des Gauls, die Bäume, die Ackerstiere, die Menschen, die ganze weite Welt mit dem blauen Gebirge in der Ferne, vorüberfliegen sah. Der Tod hatte den braven Herrn von Lauen leider allzufrüh selber aus dem Sattel gehoben, und die Frau Adelheid regierte an seiner Statt auf dem Lauenhofe. Wir wissen bereits, daß sie das Regiment ernst nahm, allein in die Erziehung ihres Sohnes griff sie nur selten, dann aber jedesmal an dem rechten Orte und in der rechten Weise ein. »Munter!« sprach sie, dem Jungen in den Haarbusch greifend und ihn mit Energie auf den Standpunkt des gesunden Menschenverstandes zurückschüttelnd, wenn der Chevalier oder das Fräulein den »Taps« ihrer Meinung, d. h. der Meinung der gnädigen Frau nach zu hoch von demselben weggehoben hatten. Sie jagte ihn in das kalte Wasser und im Notfalle mit der Haselgerte dreimal um die Mauern des Lauenhofes. Sie war's, welche das Kopfschütteln des Ritters von Glaubigern in Worte übersetzte und der Malteserin damit in den Weg trat:

»Nun, Frölen, jetzt tun Sie mir die einzige Liebe an und machen Sie mir den Bengel nicht ganz verrückt. Weiß der Himmel, nächstens muß ich ihn noch mit den Hämmeln auf die Weide schicken, damit er nicht verlernt, daß das Gras grün ist und daß der Regen naß macht!«

Der Chevalier stand ihrer Anschauungsweise am nächsten, und wahrlich, solche Lehrmeister wie er sind sehr selten in dieser erziehungsbedürftigen Welt! Er hatte den Krieg gesehen und über den Frieden nachgedacht. In Einsamkeit und Stille, in Geduld und Entsagung hatte er an seinem eigenen Wesen, wenn auch nicht gebaut und gemeißelt, so doch geschnitzelt und gedrechselt, und damit soll gewiß kein Tadel ausgesprochen sein, sondern das höchste Lob, was einem guten Mann in seiner Lage gegeben werden mag. Ein altes, wunderlich kluges Kind! Und der Lauenhof, das Dorf Krodebeck und vor allem die Frau Adelheid wußten, was für einen Schatz sie an ihm besaßen, und überlegten es dreimal, ehe sie einem Worte oder Winke von ihm entgegentraten. Selbst seine größeste Widersacherin, das Fräulein Adelaide Klotilde Paula von Saint-Trouin, fürchtete sich im geheimen unendlich vor ihm, wenn es das gleich im gegebenen Falle nur durch höheres Aufwerfen der Nase, kläglichere Seufzer und anzüglichere Bemerkungen kundgab. Der Ritter von Glaubigern hatte viel studiert seit seiner Ankunft auf dem Lauenhofe. Er hatte seinen Sinn darauf gesetzt, zu erfahren, wie es eigentlich bei den Römern zu Hause aussah, und er hatte wirklich Latein gelernt, und zwar nach Johann Amos Comenius. Er hatte alle seine Wissenschaften nach dem Rezept des alten berühmten Rektors von Lissa zusammengetragen, und er gab sie nach demselben Rezepte wieder von sich: die Herren von der Domschule zu Halberstadt konnten freilich nachher die Hände über den Köpfen zusammenschlagen, als der Junker von Lauen in ihre Lehre geriet. Die Bilder fanden sich überall, im Hause und draußen und zu jeder Zeit, und der Kommentar fand sich ebenfalls am Rande ein, wie in jenem wunderlichen lateinischen Orbis pictus, den selbst die Türken, Perser, Araber und Mongolen seit 1641 handschriftlich weitergaben. Wenn von dem Gebirge her die Schneewolken sich über das flache Land wälzten; wenn die Wetterfahnen des Lauenhofes wehklagend sich im Kreise drehten; wenn die Schornsteine mit Stimmen begabt wurden, die lebhaft an die Hexentänze des Blocksbergs, der so nahe in die Fenster guckte, erinnerten; wenn der Regen der Tagundnachtgleiche über den Hof, durch das Dorf und über die Felder in Stößen fuhr; wenn im Walde die ersten Anemonen und Leberblumen aus dem welken Laub unterm Gebüsch aufsahen und wenn der Wald so grün stand, wie das freudigste Kinderherz nur irgend verlangen konnte: so – hatte das alles stets seinen besondern Zusammenhang mit dem alten Comenius, und der Chevalier verfehlte nicht, den Finger an die Nase zu legen und diesen Zusammenhang ernstlich hervorzuheben. Der Comenius war für alles brauchbar, nur nicht für das Fräulein von Saint-Trouin. Dieses zog seine Weisheit und Lehrhaftigkeit aus anderen Quellen und ließ sie über die junge Seele des Junkers laufen trotz der Dämme, welche der Ritter wehmütig, kläglich und bescheiden dagegen zu errichten beflissen war. In der Politik wie in der Pädagogik begegneten sich der Chevalier und das Fräulein wie Mystax und Peccadillo bei einem Knochen. Wenn jener, d. h. der Herr von Glaubigern, die reichsunmittelbare Herrlichkeit des Rittertums im westlichen Deutschland und vorzüglich in seinem Stammlande Westfalen für die Krone auf dem Tempel der Weltgeschichte hielt, so setzte das Fräulein den großen König Ludwig den Vierzehnten als alleinigen wahren Gott in diesen Tempel und berief sich auf dieselbe Memoirenbibliothek, aus welcher es zugleich in seiner Weise die Erziehung Hennigs mitleitete. Diese Memoiren haßte der Ritter, und die gnädige Frau verachtete sie. Letztere – deren allergrößester Stolz und allerherrlichste Familienzierde jener bei Zorndorf gefallene Oberstleutnant von Lauen war, der sich durch diesen Fall die ganze Approbation des Alten Fritz erwarb – half sich durch ein erhöhtes Geklapper ihres Schlüsselbundes gegen den großen Louis. Der Ritter, welcher als feiner Kavalier nie vor den Damen mit irgend etwas klapperte, fand sich ziemlich wehrlos gegen denselben, zog nur im verborgenen die Achseln in die Höhe und sagte bah! im geheimen. Auf diese Interjektion hin sah der junge Hennig den treuen Mentor fragend an, aber der Chevalier warf sich jedesmal mit entsagungsvoller Energie auf die Historie vom Herzog Wittekind und trieb ihn nebst seinen Sachsen melancholisch in die Enge und in die Weser. Dem jungen Hennig wurde erst ziemlich spät klar, was jenes Bah bedeutete, aber auch dann sah er freilich lange nicht vollständig ein, wieviel Philosophie der Geschichte darin verborgen lag.

Das Grauen, von welchem im Anfange dieses Kapitels die Rede war, wurde diesmal einzig und allein durch die Prätendentin des oströmischen Kaiserthrons in die junge Seele gepflanzt. Adelaide verspürte es ja selber vor vielen Dingen und Verhältnissen, die verständigeren Leuten nur merkwürdig, achtbar, beklagenswert oder gleichgültig erscheinen können. Adelaide stand viel zu hoch, um die Welt zu nehmen, wie sie war, und da sie also naturgemäß in recht ungemütlicher Verlassenheit wandelte, so suchte sie andere zu sich emporzuziehen, sei's um eine Kammerjungfer der Vergangenheit, sei's um den Kavalier der Zukunft für diese tief gesunkene erbärmliche Welt heranzubilden.

Im Winter behielt der Chevalier gewöhnlich die Oberhand im pädagogischen Wettstreite. Die lieblichere Zeit des Jahres war, dem alten Comenius zum Trotz, selbstverständlich auch die Zeit der lieblicheren Belehrung.

Da wurde allerdings dann dem Kinde vieles klargemacht, was dem Herrn von Glaubigern in alle Ewigkeit dunkel blieb, und umgekehrt wurde manches in Nebel und Dunst gehüllt, was der Ritter eben erst mit vieler Mühe dem Kinderkopfe in ein helleres Licht gerückt hatte. Wenn der Herr von Glaubigern auch das Bewußtsein des Standes und des durch den Stand bedingten Interesses im höchsten Grade besaß, so war er doch zu verständig und billig, um nicht einzusehen, daß die Welt sich doch nicht ganz seit dem Untergang des Heiligen Römischen Reichs Deutscher Nation zum Schlechten verändert habe. Trotz aller Sehnsucht nach verlorenen bessern Zuständen konnte er auch den gegenwärtigen Tag gelten lassen und hielt es unter seiner Würde, die Gegenwart durch jenen bekannten, mehr oder weniger geschickt und feierlich verhängten Standesegoismus hinter das Licht zu führen. Er konnte sich immer noch an der Lebendigkeit, der Bewegung des Tages freuen, und wo er ihn nicht mehr verstand, da suchte er den Widerspruch lieber im stillen zu verdauen, als daß er sich mit seiner harmlosen Umgebung in einen zwecklosen und unfruchtbaren Kampf darüber eingelassen hätte. Er sagte sich, daß von Krodebeck aus die Weltenuhr sich wahrscheinlicherweise nicht vor- oder zurückstellen lassen werde, und verdiente somit die Verachtung des Frölens im vollsten Maße. Mit Verachtung blickte das Frölen selbst auf den Kürassierharnisch, welchen der gute Ritter bei Ligny trug und über welchem er mit so heißen Tränen die Arme gekreuzt hatte, als er in der Nacht verwundet auf dem Schlachtfeld lag und der Rückzug seines Volkes an ihm vorüberrauschte.

Adelaide Klotilde Paula von Saint-Trouin, Gräfin von Pardiac und allen möglichen und unmöglichen andern Grafschaften, hielt es unter allen Umständen für ihre Pflicht, selbst da nein! zu sagen, wo niemand verlangte, daß sie ja! sage. Einmal in jedem Jahre wallfahrtete sie sicher nach Blankenburg, um auf dem Schloß und am Fuß der Teufelsmauer eine stille Andacht zu halten. Auf dem Schloß hatte ja Seine geheiligte Allerchristlichste Majestät der König Ludwig der Achtzehnte, leider recht bescheiden, selbst hofgehalten, und an der Teufelsmauer zeigte man eine Felsenfratze, welche dem dicken Herrn wie aus dem Gesichte geschnitten war und die bourbonische Nase sowie das bourbonische Kinn in wahrhaft genialer Weise zur Schau trug; wobei übrigens die Bemerkung gestattet sein wird, daß man in Deutschland kaum eine größere Felsenpartie bereisen kann, ohne daß die Reisehandbücher und die Führer aus der bourbonischen Physiognomie Kapital schlagen: vorzüglich in Gegenden, wo der Sandstein vorherrscht. Vor dieser Blankenburger Felsennase betete das Fräulein im vollsten Sinne des Wortes an und versank in eine Verzückung, welche den Schwarzen braunschweigischen Jägeroffizieren, die es zuerst auf das loyale Naturwunder aufmerksam gemacht hatten, großen Spaß bereitete. Daß der junge Hennig von Lauen sehr bald an diesen Wallfahrten teilzunehmen hatte und auch ein großes Vergnügen dran fand, war vorauszusehn. Es wurde ihm der Glaube an noch ganz andere Wunder zugemutet, und da er sich in jener Lebensepoche befand, in welcher man vorzüglich gern an alles Wunderliche und Wunderbare glaubt, so hatte er häufig einen größern Genuß davon als von dem grimmigen Amos Comenius, jedoch nicht immer. Den ausgezeichneten Jüngling Télémaque zum Beispiel haßte er viel ausbündiger als den Comenius.

War aber nicht der Klang der Fanfaren und Pansflöten von Marly und Versailles am Fuße dieser Harzberge ein Wunder, welches die junge Seele mit Lust und Behagen erfüllen mußte? Mit Begeisterung folgte Hennig dem Ritter von Glaubigern auf die wirkliche Hasenjagd; allein der barocke Zauberspuk des achtzehnten Jahrhunderts, welchen Adelaide heraufzubeschwören wußte, hatte gleichfalls seine innigen Reize. Ehe der Junker von Lauen die ersten Hosen aufgetragen hatte, war er zeitweise vollständig in einen Kreis gebannt, um welchen der Chevalier ängstlich genug herumtrippelte und von welchem aus er, d. h. Hennig, vorzüglich jenes ekle Grauen vor den ungewaschenen, lärmenden Erscheinungen der Wirklichkeit – das Grauen der Unmündigen und – der verzogenen und verzärtelten Erwachsenen empfand.

Mit Ekel, Abscheu und ohne die geringsten Gewissensbisse hatte sich das Fräulein von Saint-Trouin von dem Elendskarren der einst so schönen Marie Häußler und ihrem armen Kinde abgewendet; Furcht und Ekel erweckte das Bild dieser drei »Gegenstände« dem Junker von Lauen am Frühstückstisch auf dem Lauenhofe. Sogar die Neugier, welche das kindliche Alter allen Dingen entgegenträgt, wurde hier durch die Furcht überwogen, und mit heftigem Mißbehagen horchte der Knabe auf das, was die Mutter und der Ritter über die Leute im Siechenhause zu sagen hatten, während das Fräulein appetitlos, mürrisch-weinerlich dasaß und in allem, was gesprochen wurde, eine tiefe Kränkung seiner eigenen Persönlichkeit fand.

Der Herr von Glaubigern und die Frau Adelheid nahmen allerdings auf die Gefühle und Anschauungen des Fräuleins keine Rücksicht. Der Chevalier setzte auseinander, was geschehen könne, um die Aufregung des Dorfes über die heimgekehrte Gemeindegenossin so schnell als möglich zu verwischen. Er sprach sehr nüchtern von den Bauern von Krodebeck und gab sich darüber keinen Täuschungen hin; allein er sprach jedenfalls wie ein guter Mann, der ein unter seinen Augen begangenes Unrecht, welches er nicht verhindern konnte, nach Kräften auszugleichen bestrebt ist. Daß er bei seinen Vorschlägen und Ratschlägen nicht die Malteserin ansah, sondern lieber seinen Teller, war sicherlich ebenfalls ein Zeichen eines gutmütigen und feinfühlenden Herzens.

Die gnädige Frau blickte auf den grauköpfigen braven Hausgenossen mit den hellsten, glänzendsten, freundlichsten Augen und nickte von Zeit zu Zeit vergnügt in seine Worte hinein. Als er aber geendet hatte, knüpfte sie ihre Schürzenbänder fester, schüttelte sich in ihren Röcken zurecht und rief: »Man muß eben sein Bestes tun!«

Dann nickte sie auch dem Fräulein zu und sprach, durchaus nicht die Rücksichten des Chevaliers nehmend:

»Was machen Sie denn eigentlich wieder für'n Gesicht, Frölen? Herrgott und alle Klagelieder Jeremiä, eine Ananas haben Sie damals nicht aus der Krodebecker Gurke gezogen; aber – aber nun heulen Sie nur nicht! Ich will ja gern Abbitte tun, wenn ich zuviel gesagt habe! – Ach du liebster Himmel, da geht sie wieder hin!«

Da ging sie wirklich wieder hin mit dem Taschentuch vor den Augen, schwankend und stöhnend wie die Clairon in der Rolle der Phädra. Den Junker von Lauen hatte sie am Handgelenke gepackt und zog ihn hinter sich her. Belfernd und kläffend folgte Peccadillo ihr, während Mystax mit Bedacht auf ihren Stuhl sprang und mit ruhiger Würde sich der gnädigen Frau und dem Chevalier gegenüber niederließ.

»Nun bitt ich Sie, Glaubigern!« sagte die Frau Adelheid und fügte nach einigen Augenblicken hinzu: »Alter Freund, lassen Sie mir den Jungen nicht aus den Augen!«


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