Wilhelm Raabe
Der Schüdderump
Wilhelm Raabe

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Dreiundzwanzigstes Kapitel

Wir haben wohl den Schüdderump gänzlich vergessen? Das Leben ging uns so leicht und weich ein, die Tage gingen wie auf samtnen Schuhen vorüber: weshalb auch sollten wir in der guten Stunde selbstquälerisch das aufsuchen, was seinerzeit ohne Einladung nahen und sich nicht abhalten lassen wird? Wir waren gesund und wohlauf; ja, wir konnten lachen, ohne zu wissen warum; warum sollten wir freiwillig das dunkle Bild im Winkel aufstöbern, welches uns sehr ernst stimmt, ohne daß wir behaupten könnten, wir wüßten nicht weshalb?

Horch, was war das? Vielleicht traf das Rad des widerwärtigen Karrens auf einen Stein im Wege, und so wurde die schauerliche Last ein wenig zusammengerüttelt, und den Ton vernahmen wir mitten im fröhlichen Behagen des Daseins, im Kreise der Freunde, einsam am warmen Ofen in der Winternacht, auf der Höhe des Gelags, unter den Kränzen der Hochzeitsfeier, im Theater, am Wirtshaustisch oder im tiefen traumlosen Schlaf. Das ist's! Und man fährt mit der Hand an die Stirn: so viel Lichter um uns her angezündet sein mögen, so hell die Sonne scheinen mag, auf einmal wissen wir wieder, daß wir aus dem Dunkeln kommen und in das Dunkle gehen und daß auf Erden kein größeres Wunder ist, als daß wir dieses je für den kürzesten Moment vergessen konnten.

Da denken wir mit Schauern derer, welche gestern starben, und derer, die in tausend Jahren sterben werden, und vielleicht denken wir auch an ein uns fremdes, gleichgültiges, unbekanntes Kind, das wir einst zufällig unter den Blumen seines Sarges erblickten, und sehen ernst genug geradaus und begreifen augenblicklich kaum noch, wie der dicke Gevatter uns gegenüber so herzlich über den alten Witz seines hagern Nachbars lachen kann, bis dasselbe Wunder auch uns von neuem widerfährt und das Messer- und Gabelgeklirr des Lebens auch uns von neuem betäubt und obendrein uns recht vergnügt stimmt. –

Sie waren wiederum alle in der gelben Stube versammelt und sahen auf die Karte des Herrn von Häußler, welche auf dem Tische lag. Auch Jane Warwolf saß im Winkel; die Frau Adelheid hatte ihr den Eintritt und Aufenthalt nicht verwehrt, in Anbetracht, daß sie wohl ein Recht besaß, bei diesem Empfang zugegen zu sein, und sich vielleicht dabei sogar nützlich machen konnte.

Antonie saß bleich und zitternd zwischen dem Chevalier und dem Frölen; sie kannte nun ihre Familiengeschichte bis in die geringsten Einzelheiten, und als die gnädige Frau, welche am Fenster Posto gefaßt hatte, plötzlich den Kopf zurückwarf und rief: »Da kommt er, wahrhaftig! Nun munter!«, da lehnte sich das junge Mädchen im Stuhl zurück, griff zur Rechten und Linken nach den Händen der beiden alten Freunde und schloß für einen Moment ganz die tränenschweren Augen. Der Junker von Lauen blickte seiner Mutter entsetzlich dumm über die Schulter und murmelte:

»Also das ist er?«

Er war es wirklich! Ein ältlicher, wohlerhaltener, behaglicher Herr von Mittelgröße, mit grauweißem Haar, in einem schon erwähnten grauen Herbstkostüm; ein freundlicher Herr, dessen äußere Erscheinung weder etwas Auffallendes noch etwas Unangenehmes hatte, ein Herr, dem man im Eisenbahnwagen mit Vergnügen die Tabaksdose angeboten hätte, um eine erfreuliche Reisebekanntschaft anzuknüpfen, ein Herr, der keineswegs aussah, wie die Frau von Lauen ihn sich vorgestellt hatte, und der weder durch Arroganz noch Verlegenheit eine Handhabe für einen übelwollenden Gegner bot.

Er hatte seinen Arm in den des Pastors Buschmann geschoben, und diesem Herrn sah man freilich die Verlegenheit und das Gefühl seiner falschen Stellung deutlich an. Er lächelte auch, allein auf vollkommen andere Weise als der Edle von Haußenbleib. Oh, der Würdige duldete Arges in diesem Augenblicke, und seine Qualen wurden nicht dadurch gemindert, daß er wohl ahnte, sein Begleiter wisse, wie sehr er leide und für seine tiefe, herzliche, selbstlose Teilnahme am Wohl und Wehe des Nächsten büße. Der Edle von Haußenbleib hielt ihn sehr fest, er ließ ihn nicht los, er hielt ihn sogar immer zärtlicher, und die gnädige Frau hinter der Fensterscheibe sprach:

»Ganz wie Pastor und Pullox, oder wie Ihre beiden alten Völkerschaften sonst heißen mögen, Glaubigern! O Kinder, Kinder, er ist es, er ist es wirklich! Aber einem andern als mir selber würd ich's doch nicht glauben. Das ist der Häußler, der Dietrich Häußler? Da sollte es freilich jeder verschwören, je einen Eid vor Gericht abzulegen.«

Er war es unzweifelhaft, und er ließ den Pastor Buschmann anklopfen; schnarrend rief Adelaide Klotilde Paula von Saint-Trouin: »Entrez.« Antonie erhob sich mit einem klagenden Ausruf und wankte mit ausgestreckten Händen vorwärts; der Edle trat ihr rasch entgegen, sah sie einen Moment starr, erstaunt und doch ein wenig fragend an und rief sodann, mit ausgebreiteten Armen, in voll herausbrechender naivster Herzlichkeit und Freude:

»Jesus Maria, ganz wie ihre Mutter, ganz wie mein liebes Kind! Ganz wie ich sie mir vorstellte und wünschte! Tonerl, Tonerl, du bist's! Du bist's gewiß und wahrhaftig, und hier hast du mich, hast du deinen armen, alten Großpapa, und nun werden wir uns unter keinen Umständen wieder verlassen!«

Niemand hatte das Recht oder maßte es sich an, ihn zu hindern, das Kind in seine Arme zu ziehen und es fünf Minuten hindurch immer von neuem abzuküssen; selbst das Fräulein von Saint-Trouin konnte ihn nicht daran hindern. Antonie weinte laut, und als der Edle, von so vielen sonderbaren Mienen umringt, sie endlich freiließ, sah er doch endlich auch einmal aus wie jemand, der irgend etwas ganz anders fand, als er's sich in der Phantasie ausgemalt hatte.

Aber unter dem Blicke Adelaides faßte er sich ungemein schnell. Die Hand seiner Enkelin haltend, trat er einen Schritt zurück, verbeugte sich ernst und würdig im Kreise und wendete sich an den Angstschweiß schwitzenden Pfarrherrn mit den Worten:

»Mein verehrter Freund, ich bitte Sie, kommen Sie mir zu Hülfe. Sie wissen alles, was ich sagen könnte; o reden Sie, reden Sie, reden Sie für mich! Sie sehen, ich habe für tausend unbedingt nötige Worte nur ein unverständliches Stammeln. Mein würdiger Freund, Sie, dem ich meine ganze Seele geöffnet habe, sprechen Sie, sprechen Sie für mich!«

Der Pfarrherr, mit einem Gesicht wie ein nicht schnupfender Diplomat, welcher aus der Dose eines regierenden Herrn eine Prise nehmen mußte, wand und drehte sich, allein es war keine Hülfe für ihn, und er erhob die Hände, und er öffnete den Mund und begann mitten aus der eigenen vollkommenen Enttäuschung heraus:

»Ach, hochgeliebte Anwesende, wie fein und lieblich ist es, wenn Brüder einträchtiglich miteinanderwohnen –«

Weiter ließ ihn die gnädige Frau leider nicht gelangen, denn ohne auf seine Stellung im Leben und in der Kirche Rücksicht zu nehmen, wohl aber seine Stellung zu den gegenwärtigen Zuständen scharf ins Auge fassend, unterbrach sie ihn und sagte:

»Lassen Sie das, Buschmann. Von allem andern abgesehen, meine ich, daß sich für dieses merkwürdige und erfreuliche Wiedersehen vielleicht passendere Bibelstellen finden und anwenden lassen würden. Sprechen Sie nur dreist selbst, lieber Häußler; wir kennen uns ja und werden einander gewiß verstehen. Ich bin eine einfache Frau, aber auf den Kopf bin ich doch nicht gefallen; also stammeln Sie in Gottes Namen nur los, Alterchen; und um einen guten Anfang zu machen, fasse ich ebenfalls tausend Worte in eins und sage Ihnen, daß Sie uns heute eine recht sonderbare Ehre erweisen, und ich hätte nimmer gedacht, Sie noch einmal mit meinen leiblichen Augen in Krodebeck und hier auf dem Lauenhofe zu erblicken.«

»Sie haben, wie immer, recht, gnädige Frau«, erwiderte der Edle plötzlich gefaßt, kühl und ohne jegliches Stammeln. »Sie haben heute ebenso recht wie unter andern Umständen vor zwanzig Jahren; es ist eine große Ehre sowohl für Krodebeck als auch für den Lauenhof. Einer solchen Dame gegenüber ist es freilich besser, selber seine Sache zu führen, und so stimme ich der gnädigen Frau in aller Untertänigkeit bei: lassen wir jetzt und in Zukunft alle Mittelpersonen beiseite! Verhandeln wir von Mund zu Munde, vom – Herzen zum Herzen! – im Grunde war das alle Zeit meine Maxime. Vom Herzen zum Herzen! Kann man einen bessern Wahlspruch, eine edlere Devise für ein Wappenschild ersinnen? Und ich habe die Worte zur Devise genommen, meine Herrschaften, und ich habe im großen und im kleinen zu jeder Zeit danach gehandelt. Tonerl, Tonerl, vom Herzen zum Herzen; würde ich hier auf dieser Stelle, in diesem Zimmer stehen, wenn nicht das Herz mich hergeführt hätte, wenn nicht das Herz jeden meiner Schritte gelenkt hätte!?«

»Bravo!« murmelte Fräulein Adelaide und schickte das Wort wie einen Pfeil gegen das Herz des Redners; allein der Edle schien mit siebenfältigem Erz gegen dergleichen ironische Angriffe gepanzert zu sein. Er achtete wenigstens nicht im geringsten auf die Haute-Justicière und diesen Akt peinlichen Rechtes; kaltblütig fuhr er gegen die Frau Adelheid gewendet fort:

»Ja, meine Gnädige, ein Zweck und Ziel, wie ich im Busen trage, lassen wohl größere Anstände überwinden als einige seit einem Menschenalter veraltete törichte Reminiszenzen, zumal wenn man sich im Rücken so gut gedeckt weiß durch eine ernste, segensreiche, mühevolle Tätigkeit wie der arme Dietrich Häußler. Es steht ein Greis vor Ihnen, gnädige Frau, ein Greis unter greisen Leuten, von allen übrigen Unterschieden gegen die Vergangenheit zu schweigen. Wir sind alle andere geworden, und ich bitte, nicht zu vergessen, daß ich nur deshalb in meinem Alter eine solche weite und beschwerliche Reise unternommen habe, um hier an dieser Stelle meinen innigsten, tiefgefühltesten Dank für alles auszusprechen, was man mir, meinem Haus und vor allem diesem lieben Kinde Edles und Gutes erwies. Ich bin kein armer Mann mehr, meine Herrschaften, und meine soziale Stellung läßt kaum noch etwas zu wünschen übrig; allein, was ich auch vor mich brachte, das Herz erhielt bis jetzt seinen Teil noch nicht, und dieses wünsche ich ihm nunmehr zu geben. Verzeihen Sie, gnädige Frau, daß ich mich immer zu diesem Engel wenden muß. Ja, Tonerl, Tonerl, dich habe ich nötig, du allein hast mir zum vollen Frieden und Glück meines Alters noch gefehlt. Und wie ähnlich du deiner armen, seligen Mutter siehst! Du bist wahrhaftig das Kind meiner Marie – es ist kein Zweifel möglich – alles übrige gilt mir nichts! Himmlisch! Rührend, rührend! Ach, meine Hochverehrtesten, das ist wahrlich ein süßer, ein unbeschreiblicher Moment!«

»Na, so beschreib ihn lieber nicht, Dietrich!« ließ sich, aus dem Winkel, entsetzlich roh und rücksichtslos die Meinung der Frau Jane Warwolf vernehmen und brachte auf sämtliche Anwesende einen ganz wunderbaren Eindruck hervor. Leider faßte sich der Edle am schnellsten. Er bediente sich seiner Lorgnette, zog die Augenbrauen ein wenig in die Höhe und sagte milde und lächelnd:

»Schau! Wohl noch eine alte Bekannte? Wenn ich nicht irre, eine recht gute alte Bekannte, die Frau Christiane Warwolf aus Hüttenrode? Mein Gott, wie sich die Zeiten ändern und wie einem die besten Freunde aus dem Gedächtnis schwinden können!«

Er ließ das Augenglas fallen und schloß damit dieses Intermezzo vollkommen ab. Dagegen faßte er die zitternde Antonie von neuem in die Arme und richtete die feuchten Augen – diesmal ohne Lorgnette – auf die übrigen Anwesenden.

»Jaja«, rief er in Freude und Wehmut zugleich, »dies ist denn das junge Mädchen, mein Kind, meine Enkelin, deren Existenz mir so lange verborgen blieb und die ich jetzt als mein ganzes, vollstes, eigenstes Eigentum an mein Herz nehme! Nicht wahr, meine Teuren, ich darf sagen, es ist unsere Antonie? Die Vergangenheit ist vollständig in diesem jungen, schönen Wesen begraben, und niemand hier in diesem Kreise trägt dem alten vereinsamten Mann es nach, wenn er auch seinerseits alles tun will und wird, was den Segen der Gegenwart und das Glück der Zukunft unbedingt erhöhen muß?!«

Der Ritter von Glaubigern seufzte tief; der Edle von Haußenbleib aber setzte sich auf den nächsten Stuhl und zog das Kind der schönen Marie auf seine Kniee.

»O gnädige Frau«, sprach er, »gönnen Sie uns Zeit, uns von einer solchen Aufregung zu erholen. Dort sinkt die Sonne hinter den bekannten Horizont meiner, ich kann leider nicht sagen glücklichen oder unschuldigen Jugendzeit. Ich bin ein sehr reicher Mann, aber ehe ich das Kind ließe, würde ich lieber als ein blinder Bettler mit ihm den Lauenhof verlassen. O gnädige Frau, könnten Sie wirklich das Brot und Salz des guten, alten Hauses, welches Sie keinem Bettler verweigern, mir verweigern wollen?«

Mit andern Worten hieß das: der Herr von Haußenbleib lud sich hiermit auf dem Lauenhofe zum Abendessen ein, und das war denn in einer Art praktisch und den Verhältnissen der Gegenwart und Zukunft so sehr angemessen, daß keine Weisheit und Welterfahrung, kein Plato und kein Pythagoras etwas Verständigeres und dem Moment Angemesseneres an die Stelle hätte setzen können.

Nur einen kurzen Augenblick sah die Gutsfrau etwas verloren und zweifelhaft auf den Edlen und die Freunde; aber da ihr niemand zu Hülfe kam oder zu Hülfe kommen konnte, so murmelte sie eine undeutliche Zustimmung und setzte etwas deutlicher hinzu, sie habe sich jedenfalls dieses Vergnügen ausbitten wollen. Was für eine gewaltige Kluft zwischen den Parteien dadurch plötzlich überbrückt war, das mußte bald jedermann klarwerden.

Jane Warwolf stöhnte und gnurrte in ihrer Ecke und wiegte den Oberkörper in höchster Mißbilligung hin und her.

»Wird dir übel, Jane?« fragte die Frau Adelheid, und tückisch erwiderte die Alte:

»Ja, recht sehr übel wird mir!«

Die Gnädige ergriff die Alte am Handgelenk, wendete sich nochmals an den Edlen:

»Also, wir haben nachher die Ehre!« und schritt steif hinaus, die Warwölfin hinter sich drein ziehend. »Es war die allerhöchste Zeit«, sagte sie nachher, »einen Augenblick später wäre sie ihm wie eine Wildkatze ins Gesicht gesprungen, und, lieber Glaubigern, anjetzt ist es mir wieder völlig unklar, weshalb ich sie eigentlich dran gehindert habe. Ach Gott, wir sind in diesem Punkte immer zu kitzlig auf dem Hofe gewesen. Einer Anspielung auf die Speisekammer gegenüber haben unsere besten und gröbsten Vorsätze nicht Stich halten können.«

Dem sei nun, wie ihm wolle, fürs erste war die Gnädige herzlich froh, einen Atemzug freierer Luft einnehmen zu dürfen, und leider müssen wir hinzufügen, daß sie, sobald sie die Tür hinter sich zugezogen hatte, in der Tiefe ihrer Seele folgendes Selbstgespräch hielt:

»Wer hat denn eigentlich diese ganze Suppe eingebrockt? Ich nicht! Da brauchte man wahrhaftig kein Prophet zu sein, um vorhersagen zu können, was aus diesem Wesen mit dem armen Kind zuletzt herauskommen mußte. Daß dieser Bursche, dieser Häußler, auf einmal wieder auftauchen würde, konnte freilich keiner wissen; aber das ist ganz einerlei, einmal mußte der Kuchen in die Asche fallen, und wer weiß, ob die Vorsehung nicht auch hier wieder den besten Weg gefunden hat? Ja, er soll bei uns essen, und der Ritter und das Frölen mögen jetzt die Kosten ihres Vergnügens tragen, ich habe sie oft genug gewarnt.«

»Sie sieht finster drein, Frau von Lauen«, sagte Jane Warwolf, »aber es hilft nichts. Jetzo möcht ich auch die Hunde loslassen.«

»Untersteh dich!« rief die gnädige Frau, aus ihrem Nachdenken erwachend. »Hier kann niemand helfen, und der liebe Gott kennt überall das Beste. Nein, es hilft nichts – der Herr ißt bei uns.« –

In der gelben Stube erschien der Edle gerührter denn je. Er vergoß sogar einige Tränen, was dem in Kummer und Zorn ringenden Ritter unmöglich war. Aber viel rührender als die Tränen des Edlen waren die Liebkosungen des Ritters, mit welchen er sein Pflegekind jetzt umfing, anzuschauen. Sowie die Frau Adelheid das Zimmer verließ, hatte Antonie sich den Armen des Großvaters entzogen und mit einem Wehelaut sich in die Arme des Pflegevaters geworfen, während sie eine heiße, fieberhafte Hand dem Fräulein von Saint-Trouin reichte:

»Ich kann euch nicht lassen! O wo ist meine Mutter? Wo ist die alte Frau, der ich ganz gehörte, als meine Mutter gestorben war? Was soll aus mir werden? Was soll ich tun?«

»Mein Kind! mein liebes, liebes Kind!« stöhnte der Ritter, der in diesem Moment vor den blinden Augen eine seltsame Vision von dem Kürassiersäbel und Panzer droben über seinem Sofa und vom Feld bei Ligny und der anrasselnden französischen Reiterei hatte, unfähig, sich von dem zerstampften Boden emporzurichten.

»O mein Kind!« ächzte das Fräulein, und Hennig rief:

»Tonie, bleibe bei uns! Es wird dich niemand uns nehmen, wenn du wirklich bei uns bleiben willst!«

Mit ausgebreiteten Händen wendete sich der Edle gegen den jungen Mann.

»Das Herz bricht mir, und doch – doch bin ich so glücklich!« rief er mit zitternder Stimme. »Jetzt erkenne ich erst ganz, welch ein Juwel mir zuteil wurde und welch einen Dank ich abzutragen habe. Ach, meine Antonie, es wird niemand dein Herz zwingen – niemand hier im Kreise! Frei und ungehindert mußt du der Stimme in deinem Innern folgen; ach, wer erkennt besser als ich, wie – wie étrange und delikat der Standpunkt ist, auf den dich ein hartes Geschick uns und der Welt gegenüber stellte. Ach wohl, mein teures Mädchen, folge hier und immer dem Zuge deines Herzens, es wird dich jederzeit das Richtige lehren.«

Er war noch lange nicht fertig. Es war sehr gefährlich, ihn zum Wort gelangen zu lassen, denn fürs erste hörte er nicht wieder auf. Er redete mit tränenvoller Stimme weiter von berechtigten Gefühlen, von süßschmerzlicher Gegenwart und hoffnungsreicher glanzvoller Zukunft. Er schlug einen vortrefflichen Seifenschaum und seifte sämtliche Anwesende in einer Art ein, die ihn zu seiner jetzigen Lebensstellung vollberechtigt erscheinen ließ. O er spielte trefflich den hochgebildeten Mann und ließ den reichen nur in den feinsten, aber grade darum anlockendsten Abschattungen hervortreten. Er freute sich so unendlich um des Kindes willen, sich aus Not, Elend und Niedrigkeit zu solcher wundervollen Lebenshöhe aufgeschwungen zu haben, und er ließ die Autorität, die er hätte in Anwendung bringen können, so zart verschleiert im Hintergrunde durchblicken, daß er auf jedem Punkte – zum zweiten Male sei es gesagt – im elegantesten, aber auch undurchdringlichsten Harnisch erschien. Zuletzt bat er in noch zartern Tönen und überquellenden Herzensklängen um ein kurzes Einzelgespräch mit Antonie und würde nicht darum gebeten haben, wenn man es ihm hätte verweigern können.

Willenlos trat Antonie Häußler wieder zu ihm hin; der Pastor von Krodebeck erhob sich von dem Stuhl, auf welchem vorhin Jane Warwolf saß, und wankte, sein Taschentuch erst auf das linke und dann auf das rechte Auge drückend, zur Tür. Vernichtet bot der Ritter dem Fräulein von Saint-Trouin den Arm, und der Junker von Lauen stürzte wie ein Verrückter ins Freie und stöhnte:

»Oh, wenn mir doch jetzt ein Mensch begegnete, dem ich die Seele aus dem Leibe prügeln könnte! Oh, wenn mir doch jetzt mein Freund Buschmann begegnete!«


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