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War dieses noch der stille, unschuldige Erdenwinkel, der von der Welt nichts wußte und sich nicht um sie kümmerte? Die wackeren alten Berge, die auf ihn herabsahen wie Schutzgeister, gute Ammen und brave Gevattern auf eine grünverhangene Wiege, bedeckte die Nacht, und immer betäubender legte sich der Dunst des Höhenrauchs auf Krodebeck. Kein Stern erschien in der Finsternis; das Tal war schutzlos gegen jeglichen bösen Willen, der in sein bis dahin so sicheres, abgeschlossenes Dasein hineingreifen wollte. Ein tiefer, unendlicher Schmerz erfaßte den Junker Hennig von Lauen, ein Schmerz, wie er ihn noch nie in seinem jungen Leben erduldet hatte. Und mit dem unendlichen und tiefen Schmerz kam die volle Erkenntnis dessen, was Antonie Häußler für den Lauenhof bedeutete, und was sie ihm, d. h. dem Junker selber, geworden war im Laufe der Jahre, ohne daß er es gemerkt hatte. Er, d. h. der Junker Hennig von Lauen, weinte blutige Tränen nach innen und rang im stummen, fiebernden Jammer die Hände.
So oder ungefähr so hätten wir berichten – schreiben müssen, wenn uns im geringsten daran gelegen wäre, den Beifall und die Teilnahme unserer Leser in der gewöhnlichen Weise zu fesseln und nach altem und durch die Gewohnheit fast geheiligtem Brauche das Wahre dem Erhebenden mit wahrhaft rührender Naivität nachzusetzen.
Wer gut sein Schifflein zu steuern weiß,
Den soll man höchlichst preisen;
Doch vitam impendere vero ist
Das Wort der Helden und Weisen;
und obgleich wir weder zu den Helden noch den Weisen zu rechnen sind, werden wir in diesem Fall doch bei der Wahrheit bleiben. Der Junker von Lauen weinte keine blutigen Tränen, er rang nicht die Hände und hatte durchaus nicht die Absicht, seine Vasallen aufzurufen und mit Schild und Schwert den süßen Schatz des Lauenhofes gegen den nichtsnutzigen Feind zu decken. Er war ärgerlich, wütend, ein wenig ängstlich betrübt und vor allem in großer Verlegenheit. Das war aber auch alles, was wir in diesem Momente über seine Stimmung mitteilen können.
»Und ich habe nicht einmal den Mut, dem alten Herrn die Sache vorzutragen, Jane!« sagte er. »Wenn einer außer sich geraten wird, so ist's der Ritter; denn er vor allen hat sein ganzes Herz an das arme Kind gehängt. Ich glaube, er würde es nicht überleben, wenn er sich von ihr trennen müßte.«
Jane Warwolf antwortete auf diese Lamentationen nichts mehr; sie trat nur fester auf und schritt schnell vorwärts, und so kamen sie beide zurück auf den Lauenhof.
Hier herrschte noch immer große Unruhe. Das Getümmel war fast so arg wie an jenem Abend, an welchem Hennig triefend aus dem Kuckelrucksholze von Jane Warwolf zurückgeführt wurde, nachdem er in der Wildnis die Bekanntschaft Tonie Häußlers gemacht hatte. Da war wieder viel Geschrei und Hinundherrennen von Menschen und Tieren, aber heute standen der Chevalier und das Fräulein von Saint-Trouin nicht angstvoll in banger Erwartung unter dem Vordach der Treppe. Sie hatten sich längst als ruheliebende und ruhegewohnte Leute aus dem fröhlichen Wirrwarr zurückgezogen und saßen ein jegliches friedlich in seinem Gemach, behaglich die Frau Adelheid dem ihr gemäßen Element überlassend.
Wir kennen bereits den Chevalier in seinem schneeweißen wollenen Schlafrock, seinem Jabot, seinen hellgrauen Pantoffeln und dem hellgrauen Hauskäppchen mit dem hellblauen Quast. Manches Jahr ist hingegangen, seit wir ihn zum erstenmal darin erblickten, und nichts hat sich an diesen Äußerlichkeiten verändert. Nur Mystax ist tot und nicht ersetzt worden, er liegt im Garten begraben, und der Herr Ritter kann das Frölen nicht begreifen, welches den Peccadillo von einem kunstreichen Harzförster ausstopfen ließ, ihn in einem Glaskasten aufbewahrt und immer noch viel Kampfer und Wehmut an ihn verwendet, trotzdem daß Tonie Häußler auf den Lauenhof gekommen ist. Wir kennen den Chevalier in seinem Lehnstuhl vor seinen Wappenbüchern und Sigillenkästen und brauchen also nicht zu schildern, wie ihn Jane und Hennig bei angezündeter Lampe und zugezogenen Vorhängen fanden, nachdem auch sie sich dem aufdringlichen Spektakel des Hofes entwunden hatten.
Sie hatten angeklopft, und der Ritter hatte sie aufgefordert einzutreten. Nun standen sie in dem stillen, warmen Raume vor dem alten Herrn, der verwundert bei ihrem Eintritt seinen Sessel zurückgeschoben hatte und, wie es schien, für heute trotz aller Herzensgüte genug der Aufregungen hatte. Ach, er wußte nicht, wie das Schicksal ihn jetzt zu überraschen gedachte und wie wenig bald die Behaglichkeit dieser Abendstunde für ihn in Betracht komme!
»Siehe da, meine Freundin Jane!« sprach er. »Und auch du, Hennig? Nun, das war heut ein anstrengender Tag für die Bewohner des Lauenhofes, aber doch auch ein recht gesegneter. Ich habe deiner Frau Mutter bereits meinen Glückwunsch abgestattet; aber der Höhenrauch, Heerrauch, Haarrauch oder wie du sonst willst, hat mich wie gewöhnlich frappiert, indigniert und intrigiert. Du siehst mich beschäftigt, Hennig, einige ältere Autoren über seine Entstehung, Bedeutung und seinen sehr fraglichen Nutzen nachzuschlagen; ich finde jedoch auch hier leider nichts als Dunst, Nebel und einen höchst übeln Geruch. Also, Jane, ich freue mich stets, dich zu sehen; was bringst du mir noch in so später Stunde? Du weißt, es ist eine späte Stunde, um noch irgendein Geschäft abzumachen, wenn es nicht sehr dringlicher Art ist. Hat Eure Botschaft nicht Zeit bis morgen?«
»Nein, Herr von Glaubigern«, sagte Jane Warwolf leise und betrübt. »Wie gern, wie gern würde ich Ihnen das Herzeleid ganz ersparen, wenn es anginge. Aber es geht nicht an; denn es ist mir alle Augenblicke, als spüre ich eine haarige Kralle im Nacken, und ich muß mich umsehen, als ob mir der Teufel schon in die Kiepe gesprungen wäre und ich seinen heißen Hauch hinter den Ohren verspürte. Ich hab mit dem Herrn von Lauen allbereits von dem Elend gesprochen, weil ich mir gleich gedacht habe, der Fall gehöre – und noch dazu so spät am Abend – zuerst der Jugend zu; allein der Herr Hennig getraut sich nicht, ihn anzufassen, und, Herr Ritter, Herr Ritter, so hab ich mir wieder einmal in meiner Angst keinen andern Rat gewußt als bei dem Herrn Ritter, und jetzo sage ich's gradheraus, ich brauche den Herrn Ritter als Kumpan bei der Mordtat; er mag es nehmen, wie er will; aber ich weiß, wie er es nehmen wird!«
»So kurz als möglich!« murmelte der Chevalier, den der böse Rauch vor seinen Fenstern ungemein nervös machte.
»Das wäre mir auch das liebste«, sprach Jane, »aber ich kenne den Herrn Ritter ebensogut, als er sich selber kennt, und so meine ich, ein kleiner Umweg –«
»Ärgert mich nicht, Jane!« rief der Chevalier. »Sperrt man ihn noch so sehr aus, im Notfall findet er seinen Weg durch den Schornstein, ich meine den Höhenrauch oder Heerrauch, und du, Hennig, sprich, was wollt ihr eigentlich? Was habt ihr mir noch mitzuteilen?«
Er war aufgestanden und stützte sich, vorgelehnt, den beiden Besuchern gegenüber mit beiden Händen auf den Tisch. Er schien die größte Lust zu haben, sowohl die Jane als den Junker wieder zur Tür hinauszuschieben; allein der letztere schob nun die alte Frau zur Seite, stützte gleichfalls beide Hände auf den Tisch und sprach mit der unheimlichen Lust, mit welcher auch der Gutmütigste seinem Nebenmenschen eine unangenehme Nachricht überliefert:
»Herr Leutnant, der Herr Dietrich Häußler ist auf dem Wege nach Krodebeck.«
Der Ritter sah ihn fragend an. Auch er hatte die Existenz des Meisters Dietrich ziemlich vergessen. Selbst der Name Häußler sagte ihm zuerst nichts, so sehr war Antonie Häußler allmählich zu einem von allen solchen äußerlichen Bezügen abgelösten Wesen auf dem Lauenhofe geworden. In dieser Hinsicht ging es ihm wie dem Junker, und erst nachdem ihm die Nachricht von Jane Warwolf mit mehr Nachdruck wiederholt worden war, begriff er sie in ihrer vollen Bedeutung. Da suchte er mit zitternden Händen zwischen seinen Papieren und Höhenrauch-Autoren nach seiner Tabaksdose, und als sie ihm zwischen die Finger geriet, schüttete er ihren Inhalt auf den Tisch und rettete nur eine Prise, auf welche er nieste, was eins der größten Wunder war, das ihm passieren konnte.
»Der Meister Dietrich – der Dietrich Häußler ist auf dem Wege nach Krodebeck?« stammelte er.
»Ja – ja und dreimal ja!« rief Jane Warwolf. »So ist es; in Alexisbad bin ich ihm begegnet.«
»Das Kind! das Kind! aber wir haben das Kind!« schrie der Ritter. »Was will er hier? Will er uns das Kind nehmen? Das wird er nicht, das soll er nicht! Holla, mein Gott, das ist ja fürchterlich. Rufe deine Frau Mutter, Hennig; – ja, ruft auch das Fräulein – ruft sie alle zusammen, ruft das ganze Haus zusammen: ich gebe das Kind nicht her. Die ganze Welt hat es aufgegeben, und ich habe es mir erworben; mir gehört es, und niemand soll es mir nehmen. Aber er wird das auch nicht wollen, wir werden es ihm abkaufen, er war stets ein erbärmlicher Schuft; ich werde selber ihm entgegenfahren, er soll den Lauenhof gar nicht betreten.«
Jane schüttelte den Kopf:
»Der Junker wollte die Hunde auf ihn loslassen und ihn mit der Hetzpeitsche bewillkommnen. Das wäre freilich das richtigste, wenn es anginge; aber es geht nicht an. Und mit dem Loskaufen ist's auch nichts, Herr von Glaubigern. Sie werden ihn nicht wiedererkennen, Herr. Er ist ein gar vornehmer Mensch geworden, wenn ich gleich nicht weiß, was er sonsten dabei geblieben ist. Er ist imstande und frägt bei der gnädigen Frau an, wieviel sie für den Lauenhof verlangt.«
»Das ist unmöglich!« rief der Chevalier.
»Gerade darum!« sprach die Frau Jane.
»Er wird uns das Kind nicht nehmen wollen!« rief der Chevalier.
»Er hat ein Band im Knopfloch, einen dicken Bauch, weiße Haare wie ein Generalsuperintendent und zwei Bediente in langen gelben Röcken und mit blanken Knöpfen; was er tun wird, weiß ich nicht«, sprach die Frau Jane.
Der Ritter blickte verwirrt und hülflos von einem zum andern.
»Das Kind! das Kind! wem gehört das Kind? Jane, du mußt uns bezeugen, wie das Kind nach Krodebeck gekommen ist und wie wir es nachher an der Gartenmauer des Lauenhofes auf der Landstraße gefunden haben. Ihr habt es heut noch gesehen, wie es von eurem Erntewagen heruntersah und lachte. Wem gehört das Kind, wie es jetzt ist? Mir, mir und – dem Fräulein von Saint-Trouin. Jaja, das ist es, wenn ihr alle keinen Rat wißt – wenn alles so ist, wie ihr sagt – Hennig, so hilf mir in die Kleider, ich gehe zu dem gnädigen Fräulein. Jaja, die Komteß wird mir helfen. Sie ist klüger als wir alle; – o er soll nur kommen, der Landläufer, der Räuber, der Bösewicht; wir beide, das Fräulein und ich, werden für die Tonie einstehen. Meinen Hut! Meine Schuhe! Meinen Stock, ja meinen Stock, Hennig –«
»Ob ich mir den Jammer nicht so auf ein Haar hinaus vorgestellt habe, den ganzen Weg hierher!« ächzte Jane Warwolf. »Es ist wahrhaftig zuletzt ein Mirakel und eine Lächerlichkeit, zu welchem kuriosen Elend man auf Erden jung werden muß.«
Ein Mirakel und ein Zeichen allergrößester Ratlosigkeit war es jedenfalls, daß der Ritter von Glaubigern bei der »Komteß« Rat und Hülfe suchte. Es zeigte vor allen Dingen recht deutlich, wie sehr auch Adelaide von Saint-Trouin bei der Erziehung Antonie Häußlers beteiligt war und der Ritter ihren Einfluß, und vorzüglich in einem solchen Notfall, zu würdigen verstand.
Mit zitterhafter Unbehülflichkeit zog der Chevalier seinen Schlafrock aus, unter Beihülfe der alten Freundin. Mit zitternder Unbehülflichkeit tastete er nach den Ärmellöchern seines dunkelblauen Staatsfracks, welchen Hennig ihm hinhielt. Er griff in der Tat nach seinem Stock wie nach einer Waffe, beschrieb damit einen drohenden Kreis in der Luft, nahm ihn unter den Arm, und, gefolgt von den beiden Unglücksboten, wackelte er eilig über den Korridor nach den Gemächern des Fräuleins von Saint-Trouin.
Auch Adelaide hatte sich in Betracht des Erntelärms und des Höhenrauchs früh zurückgezogen und den Tee auf ihrer Stube eingenommen. Obgleich sie jetzt nicht ganz so häufig an Kopfweh litt wie in früheren Tagen, so litt sie doch noch häufig genug daran; und sie schlug nicht die Bücher der Gelehrten nach und benutzte die Gelegenheit nicht, um ihre Kenntnisse zu vermehren. Ein etwas gespenstischer Heroenkultus, bestehend aus einer weinerlichen Andacht vor dem Glaskasten Peccadillos, war alles, was ihr jetzt in solchen Fällen ihre Nerven erlaubten, wenn sie die Tür selbst vor Antonie Häußler verriegelt hatte.
Noch nie hatten die Angehörigen des Lauenhofes, welche nur allzu gut die Symptome kannten, es gewagt, die hohe Dame in solchen Zuständen herauszupochen!
Heute – jetzt klopfte der Chevalier an, aber er winkte zugleich warnend und abwehrend nach rückwärts, und seine Begleiter blieben gern auf dem Gange zurück, mischten sich nicht in die Kapitulationsverhandlungen zwischen den beiden vortrefflichen Herrschaften und beneideten den Ritter gar nicht um den nun endlich erlangten Eintritt in das jungfräuliche Refugium.
Der Ritter trat ein, die Tür schloß sich hinter ihm; Jane Warwolf setzte sich matt auf eine Bank, die in der Fensternische der Tür des Fräuleins gegenüber stand; Hennig aber legte das Ohr an die Tür und horchte: auch er winkte dabei warnend und abwehrend rückwärts.
Sie lauschten beide, und beide sehr beklommen.
Die Türen auf dem Lauenhofe waren noch aus gutem, altem, schwerem Eichenholz gezimmert und taten ihre Pflicht, wie moderne Türen sie nicht mehr tun, aber dessenungeachtet vermochten sowohl der Junker wie auch die Frau Jane den Gang der Handlung drinnen ziemlich genau zu verfolgen.
Zuerst hörten sie natürlich die ziemlich klägliche und scharfe Stimme, die Familienstimme Jehans von Brienne, die vor so vielen Jahrhunderten schon die Einwohner von Konstantinopel mit Vergnügen vernahmen. Das gnädige Fräulein beklagte sich mit bitterer Höflichkeit über die Störung in so später und ungewöhnlicher Stunde. Doch ein dumpfes Gesumm gleich dem Getön einer an einer Fensterscheibe auf und ab summenden Brummfliege ließ sich vernehmen; der Chevalier von Glaubigern bat jedenfalls um Entschuldigung und versicherte, daß nur die dringende Not ihn zu solcher Ausschreitung, zu solcher Überschreitung der Grenzen der Sitte und Höflichkeit getrieben habe.
Wieder vernahm man des Fräuleins Organ. Adelaide nahm die Entschuldigungen des Ritters an, bat jedoch unbedingt um eine nähere Erklärung; – es wurde still hinter der Eichentür, das heißt, die Horcher draußen vernahmen nicht den atemlosen Bericht des Herrn von Glaubigern. Es blieb aber nicht still, und jetzt war nur eines schade, nämlich daß der Meister Dietrich Häußler nicht ebenfalls an der Tür des Fräuleins von Saint-Trouin horchte: jetzt hätte sich die Tugend an ihm gerächt, jetzt hätte er den Lohn für alle seine Sünden, Bosheiten und Lasterhaftigkeiten in Empfang nehmen können! Heller denn je klang die Stimme Adelaides auf, und Jane Warwolf legte sich auf ihrem Sitze zurück und seufzte mit einer gewissen Befriedigung:
»Na gottlob, jetzt ist die Katze auch da aus dem Sacke! Herr von Lauen, anjetzo haben wir wenigstens nicht mehr zu befürchten –«
Sie konnte ihren Satz nicht vollenden. Die Tür wurde aufgerissen, und das Frölen, échevelée, jede Rücksicht auf das, was es seiner Stellung schuldig war, beiseite lassend, erschien – stürzte hervor – stürzte sich (o wie schade, daß es sich nicht auf den Meister Dietrich stürzen konnte!), stürzte sich im flatternden feuergelben Nachtgewand auf die in ihrer Mattigkeit scheu sich duckende Jane, packte sie an beiden Schultern, zog sie in die Höhe, zog sie gegen die Zimmertür, zog sie in das Zimmer und schlug dem Junker Hennig von Lauen die Tür vor der Nase zu – »als ob man nicht das mindeste Interesse an der Sache gehabt hätte!«, wie sich der Junker später ausdrückte.
Einige Zeit wartete Hennig noch, ob man nicht auch ihn zur Beratung hereinrufen und -holen werde, allein man schien ihn drinnen durchaus nicht mehr nötig zu haben. Es blieb ihm nichts übrig, als zu seiner Mutter zu gehen, um bei dieser das zu suchen, was die andern nicht mehr von ihm zu wollen schienen, nämlich Hülfe und Trost. Noch warf er einen Blick durch das eben erwähnte Fenster des Korridors in den dunkeln, nebeligen Hof, wo es jetzt allgemach ruhiger geworden war, hinunter, und in demselben Augenblick schlüpfte Antonie Häußler drunten, ein Laternchen tragend, vorüber. Sie ging, mit einer weißen Schürze angetan, nach einem der Nebenwirtschaftsgebäude, lächelnd, schlank und leichtfüßig – allein licht und freundlich in dem schweren schwarzgrauen Dunst und der Nacht. Sie schien ihre Freude an den phantastischen Schatten, welche sie umgaben, zu haben; denn sie hielt ihre kleine Laterne hoch und blieb stehen und drehte sich und sah über die Schulter, wie ein Kind, das sich von einem Spielkameraden nicht fangen lassen will. Zierlich nahm sie einen Zipfel ihrer Schürze auf und verschwand um die Ecke eines Gebäudes; da mußte jemand sie anhalten und mit ihr reden, denn der rote Schein der Laterne zitterte noch eine Weile in dem Nebel, bis er endlich verschwand und Hennig von Lauen – seinen Mund schloß.
Er, der Junker, tat einen Sprung und einen Faustschlag in die Luft und rannte treppab, stolpernd und polternd, zu seiner Mutter, fiel ihr, wie sie behauptete, gleich einem Klotz auf den Leib und gebärdete sich nun mit einem Male schlimmer als irgendein anderer auf dem Lauenhofe um das, was die Rückkehr des Herrn Dietrich Häußler dem Hofe androhte und möglicherweise wirklich antun konnte.
Es war unmöglich, der Lauenhof konnte nicht von der Tonie lassen!
»Und das muß einem auch jetzt, wo man schon alle Hände voll zu tun hat, über den Hals kommen!« war das erste, was die gnädige Frau sagte; aber trotz aller gegenwärtigen und aller in Aussicht stehenden Unruhe und Aufregung (der Erntetanz mußte unbedingt in den allernächsten Tagen gefeiert werden!) sagte sie doch noch mehr und schüttelte sich mit der gewohnten Energie in ihren Röcken.
»Das ist Schwindel, und wir lassen uns nicht darauf ein!«
»Was sollen wir aber anfangen, wenn sich alles wirklich so verhält, wie Jane Warwolf erzählt?«
»Zuerst glaube ich noch nicht daran. Seit die Alte vor die verschlossene Tür des Siechenhauses gekommen ist, sieht sie Funken, Flammen und Gespenster auf allen Wegen. Bah, wen mag sie in Alexisbad gesehen haben? Und dann, wenn wirklich ein Fetzen Wahrheit der Vogelscheuche aufgehängt sein sollte, so (und hier richtete sich die Gnädige zu ihrer ganzen Höhe auf) – so soll er mir nur kommen, der Hauptlump, der Jammerkerl! Er soll's nur wagen, mir vor die Augen zu treten; er hat bereits früher das Pläsier gehabt, die Frau von Lauen kennenzulernen, und mit Vergnügen werde ich ihm die guten alten Zeiten ins Gedächtnis zurückrufen.«
»Das wird viel helfen!« meinte Hennig kläglich.
»Halt den Mund, Junge. Herrgott, diese alten Zeiten! Man darf nichts anrühren, ohne daß es irgendwo klingt und klirrt und rauscht, daß einem die Tränen vor Rührung in die Augen kommen. Das ist wie eine Rumpelkammer oder wie ein alter dunkler, vergessener Kleiderschrank von der Großmutter her. Wie lang ist's eigentlich her, daß ihn, ich meine den Häußler, mein Seliger zum erstenmal aus dem Hause warf? Da, halt mir einmal das Licht, Junge, das ist eine solche Ewigkeit, daß ich alle Finger gebrauche, um es herauszurechnen. Und wie alt war die schöne Marie, als sie uns zum Sterben hierher nach Krodebeck zurückgebracht wurde? Halt das Licht gerade, Junge; – sechzig Jahre ist heut der Bursch sicher alt; auch zwei oder drei Jahre drüber, darauf soll's mir bei solch einem nichtsnutzigen Exempel und Exemplar nicht ankommen. Munter, jetzt hab ich's, seit Anno 1838 haben wir nicht die Ehre gehabt, ihn bei uns zu sehen; ja, da kann er es freilich in der Zeit zu etwas Ordentlichem gebracht haben! Sie sagten immer, er sei ein Genie, und der eine sagte: ein verrücktes, und der andere sagte: ein heilloses; aber die meisten meinten kurzweg, er sei ein Halunk, und das war auch meine Meinung, und er natürlich hat behauptet, das sei eine alte biblische Geschichte, daß der Prophet in seinem Vaterland nichts gelte. Sieh, sieh, und nun kommt der wieder und ist ein großer Mensch, ein großer Herr geworden! Wir waren damals so froh, als wir ihn los waren. Herrje, erleben möcht ich wohl, daß die Jane richtig gesehen hätte! Da muß man die Menschen kennen! Das würde ein schönes Leben in Krodebeck abgeben.«
»Und Antonie wird er uns nehmen und wird sie ruinieren, wie er seine Tochter zugrunde gerichtet hat!« rief Hennig. »Es wird mir immer klarer, was uns geschehen soll, und immer erbärmlicher wird mir auch. Ich gebe die Tonie nicht her! Ich tu's nicht. Ich schieße ihn nieder wie einen Hund. Eben ging sie über den Hof. Vor einer Viertelstunde wußte ich noch nicht, was wir an der Tonie verlieren; aber jetzt weiß ich's. Ich gebe sie nicht her; ich schieße jeden, der Hand an sie legt, nieder wie einen tollen Hund.«
Die Mutter nahm das Licht, welches der Sohn immer noch hielt, ihm aus den Händen und leuchtete ihm ins Gesicht. Mit einemmal war sie ganz kühl und ruhig geworden, und nach einer ziemlichen Pause sagte sie: »Junge, was fällt dir eigentlich ein? Und – wie ist mir denn? Jawohl, ja freilich, er könnte wohl ein Recht haben, seine Enkelin von uns zu fordern. Das ist doch eine Sache, über welche man ernstlich nachdenken muß, Hennig. Wenn er wohlhabend und irgendwie ein anständiger Mensch geworden ist, so sehe ich nicht ein, welch ein Recht wir aufzuweisen hätten, dem Kinde an seinem Glück hinderlich zu sein. Nur keine Sentimentalitäten! Herrje, da traue ich selbst dem Herrn von Glaubigern nicht. Wo ist die Jane? Ich muß sie auf der Stelle sprechen, jetzt muß ich mit eigenen Ohren hören, was sie von dem Herrn Häußler gesehen und über ihn gehört hat. Und wo ist die Tonie? Weiß sie es schon, was ihr bevorsteht?«
Hennig schüttelte den Kopf:
»Noch weiß sie es nicht. Sie ging soeben mit der Laterne über den Hof zur Mamsell Molkemeyer. Jane Warwolf ist mit dem Ritter in der Stube des Frölens; – sie haben mir die Tür vor der Nase zugeschlagen, als ob mich die ganze Geschichte nicht im geringsten zu kümmern brauche, und da hab ich das Kind mit der Laterne über den Hof gehen sehen; da ist mir klar geworden, wie sehr mich die Geschichte kümmert, und hier bin ich, Mutter, und du wirst uns helfen, daß wir die Tonie nicht verlieren und sie gar noch an einen solchen Schuft verlieren.«
»Ich werde jedenfalls meine fünf gesunden Sinne beieinanderbehalten, und das übrige wird sich finden«, sprach die Frau Adelheid von Lauen. »Auf Phantastereien laß ich mich nicht ein; – o Gott, da kann ich selbst den Herrn von Glaubigern nicht zu Rat und Trost gebrauchen; das seh ich schon, jetzt werde ich fürs erste die einzige verständige Seele auf dem Lauenhofe sein, und gerade jetzt in all dem Wirrwarr und Erntearbeiten! Das hat mir gerade noch gefehlt; und so ist es mir mein ganzes Leben durch gegangen! Aber das sage ich euch allen: hier behalte ich die Zügel in der Hand, und jetzt werde ich mit der Jane reden, an das Frölen und den Ritter mag ich gar nicht denken. O Himmel, da möcht ich lieber doch zum Pastor Buschmann um Hülfe und Beirat schicken!« –
Hätte Herr Dietrich Häußler Edler von Haußenbleib geahnt, in welche Verwirrung er das Haus derer von Lauen durch sein Erscheinen nördlich am Harz stürze, so würde er sich in seinem schlechten Gemüte sicher trefflich darüber ergötzt haben. Wer sagt uns aber, daß er es nicht wußte?
Es entstand in dem obern Stockwerk des alten Rittersitzes eine große Bewegung. Unten im Hause vernahm man den Chevalier, das Fräulein von Saint-Trouin und Jane Warwolf auf der Treppe. Sie stiegen in aller Hast hinunter und redeten wirr durcheinander.