Wilhelm Raabe
Der Schüdderump
Wilhelm Raabe

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Fünftes Kapitel

Die Alten und die Jungen, die Patrizier und die Plebejer, die Klugen und die Narren, die ehrbaren Frauen und jene muntern Frauen in roter Haube oder gelbem Mantel zogen sie hervor aus den Häusern oder huben sie auf in den Gassen und luden sie auf jenen schrecklichen schwarzen Karren, den Schüdderump. Das ist lange her. Der schwarze Wagen ist zu einer unvergleichlichen Merkwürdigkeit geworden und wird dem durchreisenden Fremden als die einzige Kuriosität des Städtchens, welches das Glück hat, ihn zu besitzen, gezeigt! Es ist lange, lange her, seit er zum letztenmal in Gebrauch war, seit zum letztenmal die Lebendigen vor dem dumpfen Geknarr seiner Räder vom Fenster wegstürzten und scheu einander ansahen und sich die Ohren verstopften! Wir haben eine sich selbst nicht wenig lobende Gesundheitspolizei, die Sitten sind andere und bessere geworden, selbst der Ungebildete weiß, daß grüne Pflaumen und Gurkensalat zur Zeit der Brechruhr nicht zu den gesunden Nahrungsmitteln gehören. Gesundheitsflanell, wollene Leibbinden und Korksohlen werden täglich in den Intelligenzblättern angeboten und von den verständigen Leuten gekauft. Selbst der Ungebildete vermag, wenigstens in Deutschland, die Intelligenzblätter zu lesen, für die Gebildeten haben Lessing, Herder, Schiller, Goethe und Jean Paul gelebt, und – um so erstaunlicher ist es, wie nahe wir trotz alledem doch noch dem Schüdderump stehen! Wer sich eingehender damit beschäftigt, dem vermischen sich endlich die Vorstellungen derartig, daß er kaum noch die Vergangenheit von der Gegenwart zu unterscheiden vermag.

Es war ein schönes, halbnacktes Mädchen, dem nicht einmal der Schwarze Tod alle Reize hatte nehmen können, und selbst auf dem Schüdderump wehrte es sich noch gegen die scheußliche Grube, gegen die Verwesung mit und in dem Haufen der andern Leichen. Ich habe sie im Traume gesehen; – die im letzten Krampf starr und steif gewordenen Arme klemmten sich zwischen den Leisten der Seitenwände des schwarzen Wagens, ein Nagel hatte ihr Gewand gefaßt und es ihr von den Schultern gezogen. Als die wilden, rohen Knechte den Karren umstülpten, schien diese Tote allein den andern Leichnamen nicht folgen zu wollen. Die Knechte mußten sie mit ihren eisernen Haken losreißen und sie den übrigen nachschieben, und sie lachten dabei und wiesen die Zähne und die Zungen; denn es war ein sehr schönes Mädchen und war noch schön auf dem Schüdderump – und so ist auch Marie Häußler, die Tochter des Dorfbarbiers zu Krodebeck, ein sehr schönes Mädchen gewesen.

Zieht den Hut; der eigentliche Held und Triumphator dieser Geschichte erscheint für einen Augenblick im Hintergrund und schleicht leise über die Bühne!

Dietrich Häußler wurde zu Anfang des Jahrhunderts in Krodebeck geboren. Er verheiratete sich im Anfange der zwanziger Jahre und zeugte die schöne Marie. Im Jahre achtzehnhundertneununddreißig starb seine Frau, nachdem er im Jahre vorher mit seiner Tochter aus dem Dorfe verschwunden war. Die schöne Marie kam im Jahre fünfzig mit ihrer kleinen Antonie zurück nach Krodebeck; der Stammherr des Geschlechtes Häußler von Haußenbleib, dem freilich Schild und Schwert sogleich mit in die Grube gegeben werden muß, wird im Jahre einundsechzig zurückkommen, wenn Antonie Häußler eine schöne Jungfrau geworden ist, und dann – dann wird der Titel des Buches seine volle Lösung finden.

Dietrich Häußler hatte mit dem Kollegen von Sevilla nur die leichte Hand, doch nicht den leichten Sinn gemein. Er rasierte eigentlich vortrefflich; allein da er den Gott in seinem Busen kannte und eine Ahnung davon hatte, zu welch großen Dingen er berufen sei, so rächte er sich für jetzt dadurch an seiner niedrigen Lebensstellung und an der Menschheit, daß er so schlecht als möglich rasierte. Blutgierig zog er an jedem Sonnabend den Bauern von Krodebeck die Haut ab, machte in dieser Hinsicht sein Handwerk wirklich zur Kunst und konnte so mit ganzer Seele sich seinem Geschäft hingeben, grad wie in früheren Jahrhunderten ein schwärmerisch entflammter Folterknecht dem seinigen. Er war gewiß nicht dumm, sondern ein hinterlistiger, heimtückischer Gesell, welcher seine Lehrzeit und drei Jahre drüber in Berlin zugebracht hatte und einen großen Teil seiner Lebensanschauungen und Grundsätze auf diese fromme und vergnügte Zeit begründete. Sein Weib und seine Kinder führten ein gar elendes Leben unter seinem Regimente. Sein Weib, von dem weiter nichts zu sagen ist, starb, und seine Kinder verdarben bis auf diese Marie, welche man in Krodebeck die schöne nannte und welche ebenfalls starb und verdarb, aber auf eine andere Art als die übrigen, denn die übrigen versanken nach einem kurzen Taumeln und Quälen in Krodebeck selbst; Marie aber kam in die weite Welt hinaus und erlebte viele Dinge, ehe sie nach Krodebeck zurückgebracht wurde, um ebenfalls daselbst unterzugehen.

Wie gesagt, hatte Dietrich die Verhältnisse der großen Stadt, da seine eigenen Neigungen schlecht waren, von der schlechtesten, erbärmlichsten Seite angesehen, und noch dazu von der erbärmlichsten Seite in der geringen Sphäre, in welche ihn sein Schicksal hingestellt hatte. Aber er war dazu mit einer gewissen Phantasie begabt, welche ihm die Dinge oft in einem absonderlichen Lichte erscheinen ließ. Er konnte so gut wie ein anderer träumen und die Wirklichkeit idealisieren und die Welt vollständig auf sich als den Mittelpunkt der Welt beziehen und in seinen einsamen Stunden gradeso glücklich sein wie ein anderer. Das ist das erfreuliche am Leben, daß der Mensch für seine Natur kaum verantwortlich zu machen ist, und so werden wir gewiß nicht auf den Meister Dietrich Häußler um das, was er war, und um das, was er wurde, mit zu finsterm Auge und zu tiefem Stirnrunzeln blicken. Nun hat ein Barbier in einer großen Stadt, der sich auch ein wenig aufs Frisieren versteht, Gelegenheit, allerlei zu sehen und zu hören, worüber sich nachdenkliche Betrachtungen anstellen lassen. Das Ideal tritt in erstaunlichen Formen auf, und schon in Berlin lag das Ideal für Dietrich in der Vorstellung, eine schöne Tochter zu haben und beliebig über dieselbe verfügen zu dürfen. Da er ein ganz stattlicher Bursche war, gelang es ihm, in der preußischen Hauptstadt in ein Geschäft hineinzuheiraten und dasselbe in zwei Jahren zu ruinieren. Er kam nach Krodebeck zurück, imponierte den Bauern mächtig in der ersten Zeit, log fürchterlich und wurde allmählich zu einer Persönlichkeit, welcher das Dorf alles in der Welt zutraute, jedoch nicht das Allergeringste anvertraute. Man lachte über ihn und fürchtete ihn ausnehmend, man glaubte seiner Versicherung, daß er morgen vierspännig fahren könne, wenn er wolle; allein man glaubte nicht, daß er morgen die fünf Silbergroschen, die er heute borgte, zurückzahlen werde. Man schenkte ihm heute die vollste Bewunderung und warf ihn morgen aus der Kneipe, und der, welcher ihm dabei den grimmigsten Fußtritt gab, schlich übermorgen zu ihm und schob die Schuld auf einen andern. Daß er seine Gelegenheit in allen Dingen abzuwarten wußte und nach Jahren noch jede Beeinträchtigung und Beleidigung heimzahlte, war jedermann bekannt, und da jedermann bekanntlich dem andern gern von Zeit zu Zeit einen tüchtigen Schabernack spielen läßt, so behauptete der Meister Dietrich Häußler seine Stellung in Krodebeck, bis er selbst es für angezeigt hielt, sie aufzugeben.

Er zeugte drei Söhne, die, wie gesagt, in früher Jugend verkamen, da er nichts mit ihnen anzufangen wußte. Nachher wurde Marie geboren und wuchs auf in Schmutz und Lumpen und hatte schon in ihrer Kindheit ein übel Leben; denn es wiederholte sich mit ihr eine alte, alte Geschichte, nämlich die von der Schönheit, welche in die Welt hineingeboren wird und natürlich von denen, die sich am heftigsten nach ihr sehnten, anfangs auf das stumpfsinnigste verkannt werden muß. Es haben viel größere und edlere Leute als der Barbier von Krodebeck ihr Ideal verkannt, ja blieben sogar noch hinter dem Barbier zurück; denn als diesem die Augen geöffnet worden waren, da glaubte er an sein Ideal und begrüßte es mit Jauchzen, was sehr hohe Geister und herrliche Charaktere sehr häufig nicht über sich gewinnen konnten.

Die Augen gingen ihm übrigens nicht sogleich auf und vor Vergnügen über. Das kleine Mädchen erschien anfangs in seinem Schmutz und seinen Lumpen, in seiner vollen und abscheulichen Verwahrlosung häßlich genug und wurde daher auch in den ersten Kinderjahren fast noch ärger mißhandelt als die unnützen Buben. Es bekam wenig zu essen, aber viele Fußtritte und Schläge. Was die Bauernschaft von Krodebeck dann und wann an dem Vater Häußler sündigte, kam der Familie des Barbiers in ganz logischer Folge heim, und oft vernahm man das Geheul und Wimmern dieses häuslichen Herdes in ruhigen Nächten durch das stille Dorf. Oft, sehr oft fanden die gnädige Frau vom Lauenhofe, welche damals noch eine viel jüngere und in behaglicher Ehe lebende gnädige Frau war, und der Chevalier von Glaubigern, welcher ebenfalls in jener Zeit ein noch viel rüstigerer Ritter war, Gelegenheit, hier ihre Autorität geltend zu machen, jedoch ohne großen Nutzen.

Adelaide Klotilde Paula von Saint-Trouin hielt es unter ihrer Würde, in solchen Fällen ihre Autorität geltend zu machen. Von einer Dame, welche eigentlich berechtigt war, Byzanz zu regieren und den Sultan Mahmud den Zweiten für einen niederträchtigen Usurpator zu erklären, von der konnte man doch nicht verlangen, daß sie sich so weit herunterlasse, um die Verhältnisse im Hause des Barbiers von Krodebeck zu regeln und sein Weib vor Prügeln, sein Kind vor Fußtritten zu schützen. Und doch trug nur die sehr noble und sehr mächtige Chevalière von Malta die Schuld davon, daß der Meister Dietrich sein Ideal erkannte.

Es war an einem schönen Sommermorgen, als das Fräulein, von einem romantischen Spaziergange in die Wälder durch das Dorf nach dem Lauenhofe zurückkehrend, durch einen argen Lärm im Hause des Barbiers aus seinen hohen Träumen aufgeschreckt und der trivialen Gegenwart gegenübergestellt wurde. In dem Hause dauerte zwischen Mann und Weib der Kampf um den täglichen Frieden noch fort; doch vor dem Hause am Brunnen wusch Marie Häußler bereits die Tränen aus den Augen und das Blut von der Nase. Ein schicksalvoller Sonnenstrahl fiel auf die Stirn, das Haar und die nackte braune Schulter des Mädchens, und statt in das Haus zu stürzen und dem Barbaren den Prügel aus der Hand zu nehmen, stand das Fräulein sehr still und hob die Lorgnette und winkte lächelnd hinüber:

»Himmel, welch ein Bild!«

Es war freilich ein Bild, ein reizendes Bild, und Adelaide bewährte das feinste Gefühl für den Zauber desselben. Sie ging langsam näher und hob mit den äußersten Fingerspitzen das Kinn der Weinenden empor, ließ das Augenglas herabfallen und rief:

»Es ist in der Tat keine Täuschung; – es ist wirklich überraschend! Und das ist heraufgekommen wie die Blumen unter der Hecke. Mon Dieu, Kind, wie kommst du unter die Canaille? Weißt du genau, wer du bist und woher du kommst?«

Mit ziemlich weit geöffnetem Munde, aber noch immer schluchzend deutete Marie Häußler auf die Tür ihres Vaterhauses, in welcher jetzt der Meister Dietrich stand und, gleichfalls sehr verwundert, nicht zu wissen schien, ob er sich näher heranwagen oder sich so tief als möglich vor der Malteserin in das Innere zurückziehen solle. Aber Fräulein Adelaide winkte, und der Barbier von Krodebeck trat oder kroch vielmehr mit den höflichsten Bücklingen näher und wünschte dem Fräulein einen guten Morgen, worauf dieses jedoch entgegnete:

»Er ist ein elender, ein flegelhafter, nichtswürdiger und zu gleicher Zeit ein dummer Gesell, Häußler. Ohne Komplimente, Häußler, Er ist ein widerlicher, brutaler Patron, und wenn die Welt noch regiert würde, wie es sich gebührt, so würde Er sicherlich nicht einen solchen heitern Morgen durch seine Roheiten ungestraft verstören dürfen. Übrigens hab ich Ihn nicht gerufen, um Ihm das zu sagen, denn es ist kaum noch etwas darüber zu sagen; aber das will ich Ihm mitteilen, daß ich dieses junge Mädchen von jetzt an unter meinen besondern Schutz nehme. Weiß Er, Häußler, daß Er eine sehr hübsche Tochter hat, welche nicht in Krodebeck unter dem Bauernpöbel verkommen soll? Sieh auf, Kind, und schäme dich nicht, mein feines Lärvchen. Komm im Lauf des Tages zu mir, nachdem du dich gewaschen hast. Bringe deine Schulbücher mit, wir wollen ein kleines Examen anstellen und sehen, ob die Stirn hält, was sie verspricht. Bist du willig, so sollst du bei mir bleiben als Chambrière; – ja, ich will dich erziehen, Kleine, und dein Glück zu machen suchen. Eine Kammerfrau der guten alten Zeit sollst du werden; ach, auch das Geschlecht ist vergangen mit allem übrigen Guten und Schönen! O mon Dieu, ich will mir ein Verdienst daraus machen, der Welt eine wirkliche Kammerjungfer zu bilden. Bonjour, Marion, weine nicht länger, mein Miezchen, und vergiß nicht, im Sonntagskostüm zu erscheinen.«

Mit graziösem Kopfneigen schritt die Enkelin so hoher Ahnen weiter und ließ den Barbier Dietrich Häußler in dem ungeheuersten Erstaunen an der Seite seiner Tochter zurück. Er blickte der Dame nach und sah auf seine Tochter; er sah lange und von den verschiedensten Standpunkten aus auf seine Tochter, rieb sich die Augen und die Stirn, blickte wie zweifelnd nach seinem Hause hin und blickte von neuem auf seine Tochter. Auch er hob jetzt ihr Kinn empor, wenn auch nicht mit den zartesten Fingerspitzen, und endlich trat er drei Schritte weit zurück, schlug mit der geballten rechten Hand in die offene linke und rief:

»Alle Donner – ob sie recht hat! Dreimal hat sie recht! Und ich bin ein Esel, ein Rindvieh, ein elendiger Tropf! Fünfzigmal hat sie recht, die hochnäsige Gans, und nun, marsch mit dir ins Haus, du nichtsnutziges Balg – nein, wollte ich sagen, geh rein, mein Herzchen, mein Püppchen, und sag der Alten, ich käm sogleich nach; aber vorerst müßte ich mich noch ein wenig erholen von allen Alterationen und angenehmen Überraschungen!«

Marie ging, wie ihr befohlen war; der Barbier aber lief dreimal um das Dorf und kam ganz kühl und ruhig heim, half selbst mit merkwürdig milder Hingebung an der Toilette der Tochter und schickte sie am Nachmittag mit dem schönsten Gruß auf den Lauenhof zum Fräulein Adelaide Klotilde Paula von Saint-Trouin.

Von dieser Unglücksstunde an aber kam eine große Veränderung in das Haus Häußler. Der Vater Dietrich wurde immer höflicher und immer zärtlicher gegen sein Kind und stieg durch tiefe Unterwürfigkeit allmählich auch immer höher in der Achtung, Gunst und Neigung der Gerichtsherrin von Valcroissant. Über ein Jahr blieb und studierte Marie Häußler in Adelaides Zucht und Schule, und nicht ein einziges Mal während dieser Zeit gab der Vater Häußler nach der gewohnten Art dem Dorfe Stoff zum Skandal oder Zorn. Es wurde merkwürdig still in seinem Hause; auch Dietrich studierte, und zwar die sonderlichsten Dinge; sein unglückseliges Weib quälte er schlimmer als je, doch ebenfalls auf eine andere Weise, ganz ohne alles fernere öffentliche Aufsehen und Ärgernis.

Was der Lauenhof über das Verhältnis denken mochte, welches sich zwischen dem Fräulein Adelaide und dem Hause Häußler angesponnen hatte, wie der Ritter von Glaubigern auch den Kopf schütteln mochte: es hatte niemand das Recht, sich zu verwundern, als am zehnten September des Jahres achtzehnhundertachtunddreißig plötzlich das Geschrei im Dorf erging, der Barbier sei über Nacht verschwunden und habe seine Tochter, die schöne Marie, mit sich genommen, und niemand wisse, wo er geblieben sei, seine Frau am allerwenigsten.

Betäubt und verstört erschien die Frau auf dem Lauenhofe und verlangte hustend und heulend ihr Kind und ihren Mann von Adelaide von Saint-Trouin. Das Fräulein jedoch war durchaus nicht in der Stimmung, sich auf dergleichen Zumutungen einzulassen; es lag in Krämpfen auf seinem Sofa, winselnd über sein allzu gutes Herz und die Undankbarkeit der Welt, trotzdem daß es bereits all seine Schiebladen, Kasten und Kisten genau durchgesehen hatte und sich der Überzeugung hingeben konnte, Marie Häußler habe den Dienst verlassen, ohne sich an andern Köstlichkeiten als eben dem guten Herzen ihrer Gönnerin zu vergreifen. Ohne den Chevalier und die gnädige Frau würde das arme Weib des Krodebecker Barbiers nicht den geringsten Trost vom Lauenhofe heimgebracht haben; so aber nahm sie wenigstens die Versicherung mit, man werde nach Kräften für sie sorgen, und was der Chevalier und die gnädige Frau versprachen, das hielten sie auch. Sie brauchten jedoch nicht lange für die Verlassene Sorge zu tragen, denn sie starb an der Schwindsucht und wurde begraben und vergessen.

Auch der Meister Dietrich und die schöne Marie wurden vergessen; wenn auch nicht so bald. Diejenigen, welche das Unglück haben, in die Mäuler der Leute zu geraten, mögen sich damit trösten, daß die Leute sehr beschäftigt sind und ungemein viel mit sich selber zu schaffen haben und daß der größte Skandal in Dorf und Stadt in demselben Augenblick beiseite gelegt wird, in welchem das Schicksal jeden einzelnen stillvergnügten Schwätzer an den Schultern faßt und ihn selber zurechtschüttelt.

Man vernahm, daß der Meister Häußler mit seiner Tochter zuerst sich nach Berlin gewendet habe, und natürlich erkundigte jeder, der aus Krodebeck nach der Reichshauptstadt kam, sich nach den beiden Ortsangehörigen. Es gelangten freilich nur wenige Krodebecker nach Berlin, und diesen imponierte die große Stadt so sehr, diese verloren in dem ungewohnten Gewirr und Getümmel so vollständig ihre schlaue ländliche Unbefangenheit, daß ihre Aussagen vor Gericht kaum einigen Wert gehabt haben würden. Die Nachrichten, welche sie heimbrachten, waren so unbestimmt und schwankend und widersprachen einander häufig derartig, daß jedermann alles daraus machen konnte und machte, ohne sich zu überheben, das heißt ohne mit dem Daumen über die Schulter auf jene hinzuweisen, die seit den Tagen der Keilschriftsteller von Babylon und Ninive Weltgeschichte zu unserm Nutzen und Vergnügen zusammentrugen und niederschrieben.

So war die schöne Marie in Krodebeck heute eine vornehme Dame, welche in ihrem eigenen Wagen durch die Straßen fuhr und ihren Herrn Vater zum Geheimen Oberhofbarbier am Hof von Schaumburg-Oder-Lippe gemacht hatte: morgen dagegen war sie eine Lumpensammlerin, und der Papa, der Lump, saß ruhig in Spandau und zupfte Wolle und spann Trübsal. Die guten Krodebecker hatten einen gewaltigen Respekt vor dem Meister Häußler und allem, was zu ihm gehörte. Sie konnten sich eine solide mittlere Lebensstellung für ihn durchaus nicht vorstellen, und so hatte er nur die Wahl zwischen der höchsten Höhe und der tiefsten Tiefe des Daseins.

Friedrich Wilhelm der Dritte ging nach Charlottenburg und zu seinen Ahnen; der Professor Krüger malte das unsterbliche Huldigungsbild Friedrich Wilhelms des Vierten, welches der Unendlichkeit gegenüber nur den einzigen Mangel hat, daß es auf der Tribüne im Vordergrund den Meister Dietrich noch nicht mit zur Darstellung bringt. Daß er darauf gehörte, bewies er später zur Genüge, wie wir selber beweisen werden. Für jetzt freilich kam nur die erste authentische Nachricht über ihn nach Krodebeck vermittelst eines Steckbriefes, der ihn in ganz seltsamer Weise mit dem in der Angelegenheit des Erzbischofs von Köln begangenen Dokumentendiebstahl in Verbindung brachte. Wer kann übrigens sagen, auf welche Art dieser Steckbrief in die Amtsblätter kam? Er tat gewiß Herrn Dietrich Häußler keinen Schaden; denn schon in der nächsten Woche zeigte der Brave in den nämlichen Blättern an: es sei ihm nie eingefallen durchzugehen, und er sei immer noch in Berlin, Große Friedrichstraße Nummer soundso zu finden für jeden, der ihn aufzusuchen wünsche. Zugleich machte er Anspielungen auf den neukreierten Bischof von Jerusalem, welche ganz heimtückischer Natur waren. Der Exbarbier von Krodebeck hatte seine Verbindungen mit Ober-Lippe; allein schon im nächsten Jahre übertrug er dieselben nach Hannover, und der mythische Nebel, der bald um alle großen Menschen aufsteigt, zog sich nunmehr immer dichter über ihm zusammen. Immer undeutlicher und deshalb auch immer phantastischer tanzte der Meister Dietrich in dem sonderbaren Dunst und Duft, und als man einmal wieder schärfer hinsah, war er vollständig verschwunden und blieb es für lange Jahre. Man vernahm, er habe sich nach Österreich gewendet, doch ohne die schöne Marie. Heinrich Heine soll sie auf seiner berühmten Reise nach Hamburg im Zuchthaus zu Celle gesehen und mit Entzücken seinen Pariser Freunden von ihr gesprochen haben; doch dieses müssen wir dahingestellt sein lassen, denn Heinrich Heine besah und besang so manche schöne Damen in so mannigfachen Situationen, daß eine Verwechslung der Persönlichkeiten hier wohl zu entschuldigen ist. Daß Marie Häußler vier Jahre später sich in königlich preußischer Untersuchungshaft befand, ist urkundlich nachzuweisen, ebenso, daß sie aus derselben entlassen wurde, ohne daß der preußische Staat darüber zusammenfiel, und drittens, daß sie in ihre Heimat verwiesen wurde, aber daselbst nicht anlangte. Vom Februar des Jahres achtzehnhundertachtundvierzig bis zur Präsidentschaft, das heißt der Polizeipräsidentschaft des Herrn von Hinckeldey, lebte sie zum zweitenmal in Berlin, und zwar mit einem unmündigen Kinde, der kleinen Antonie. Vor dem Herrn von Hinckeldey flüchtete sie im Januar achtzehnhundertfünfzig nach Braunschweig, und von Braunschweig kam sie im Sommer des nämlichen Jahres auf dem Schub heim nach Krodebeck.

So spann Lachesis, welche von vielen für die liebenswürdigste und behaglichste der drei sonderbaren Schwestern gehalten wird!


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