Wilhelm Raabe
Der Schüdderump
Wilhelm Raabe

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Vierzehntes Kapitel

Die Alte hatte recht; sie hatte viel Unruhe, aber auch viel Freude und großen Segen von dem Kinde, welches die schöne Marie in der Welt und in dem Siechenhause von Krodebeck zurückließ. Die Unruhe und Sorge entsprang bald ganz und gar den Gedanken an die Zukunft; die Gegenwart bot nur Freude und Licht. Ja, Licht! Es folgte überall ein glänzender Schein den kleinen Füßen, welche das Siechenhaus nun so lustig machten und die Greisin in stets neue Verwunderung setzten. Es war ja auch das erstaunlichste, daß diese kleinen Füße so viele und verschlungene Wege über Berg und Tal, durch Städte und Dörfer geführt worden waren, um endlich das Siechenhaus von Krodebeck zu erreichen und die alte Hanne Allmann zu umtanzen und zu umtrippeln, wie nur Elfenfüße trippeln und tanzen konnten.

Ein Lebensjahr war der Hanne Allmann noch zugemessen, gerechnet von der Ankunft Marie Häußlers an, – ein Jahr des Segens von Sommer zu Sommer! Es war, wie wenn zuguterletzt nun doch noch aller Welt Lieblichkeit und Schönheit in den dunkeln Winkel der Alten blicke und lächelnd rede: »Hattest du gar keine Ahnung davon, Hanne, daß man diese kurzen fünfundsiebenzig Jahre hindurch nur seinen Spaß mit dir getrieben habe? Du Närrin, es war ja nur ein Versteckenspiel; – jetzt mach die Augen auf, so weit du kannst, und sieh uns, wie wir sind und wie schön die Erde für ihre Bewohner, wie süß das Leben sein kann!«

Die Greisin sperrte die trüben Augen freilich so weit auf, als sie konnte, und merkte, wie das immer geschieht, wenn die Freude auf Erden in ein Haus und in ein Herz kommt, durchaus nicht den bittern Hohn, der aus den Falten des blauen Gewandes der Göttin die Zähne wies. Sie war dankbar, als ob wirklich eine Verpflichtung dazu vorhanden sei. Ganz menschlich vergaß sie die fünfundsiebenzig Jahre der Dunkelheit um einen Augenblick nicht des Lichtes, sondern des Widerscheins des Lichtes. Sie vergaß den Scherz, welchen das Schicksal mit ihr getrieben hatte, im fünfundsiebenzigsten Lebensjahre, als ihre Augen bereits stumpf geworden waren und ihre Glieder zitterten unter der Last des höchsten Alters.

Jauchzend brachte das Kind sein Spielzeug und füllte die Hütte damit an – das alte, das uralte Spielzeug der Menschheit, die Lust an den roten Morgen- und Abendsonnen, den treibenden Wolken, dem Reif am Baum, dem Mondschein auf den beschneiten Feldern! Die Tür stand jetzt immer offen; denn das Kind ging aus und ein und hatte die volle Schürze mit beiden Händen zusammenzuhalten, um nichts von seinen Schätzen zu verlieren.

Fünfundsiebenzig Jahre war Hanne Allmann alt geworden, und immer noch rief es in dem Walde:

Kuckuck up der Wie'n,
Wannehr schall eck frien?

Immer noch blies man auf die befiederte Samenkugel der abgeblühten Butterblume und fragte den Tod um seine Meinung und Absicht, während Mutter Natur ihr beschwingtes Blütenleben auf dem Kinderhauche weiter in die Welt hineinbeförderte. Noch immer war der Apfelbaum im Frühling aller Schönheit und im Herbste aller Herrlichkeit voll, und noch immer gab es nichts Geheimnis- und Ahnungsvolleres als im Februar den Haselstrauch mit seinen blutroten Kämmchen und gelben Troddeln.

Antonie Häußler, das verwahrloste, verwilderte Kind der Vagabundin, kam wie die Tochter eines gar reichen, hohen Hauses in das Siechenhaus von Krodebeck. Die kleinen Hände, die zierlichen Füßchen, die klaren, klugen Augen und der lachende Mund waren gleich der Mitgift eines Königskindes zu achten, und der kluge, verständige Sinn, das leichte, gute Herz des Kindes, an welches niemand ein Recht hatte, stammten aus dem tiefsten, reichsten Grunde der Welt. Die Alte im Siechenhause schlug offen oder im stillen die Hände zusammen über den Reichtum, welchen ihr Tonie mitgebracht hatte; die Alte vor allem war berufen, den Schatz zu erkennen und den höchsten Genuß sowie die größeste Sorge davon zu haben. Daß dem so war, sprach sich im vorigen Kapitel in der Unterredung mit der gnädigen Frau deutlich aus.

Aber das Kind, das Kind war da in seiner ganzen Lieblichkeit, und die Sorge nahm in dem Gemüt der Greisin doch nur einen geringen Raum ein! Erst kam die Verwunderung, dann das Lachen in das Siechenhaus zurück; es ging kaum ein Tag vorüber, an welchem Hanne Allmann nicht sich und die schwarzen Wände fragte:

»Wo kommt sie her? Und wie komme ich zu ihr?« Wenn Tonie dann zufällig die halblaute Frage verstand, so schmiegte sie sich dichter an die Pflegemutter und rief dagegen:

»Von wem sprichst du, Mutter? Sprichst du von mir? Wenn du von mir sprichst, so sag's; – ich will dir sagen, woher ich komme. Ich war bei meiner Mutter auf dem Kirchhofe, und nachher habe ich mich doppelt gesehen im Entenweiher. Wo ist meine Mutter geblieben? Ich bin doch mit ihr in so vielen Ländern und unter so vielen Menschen umhergezogen, bis ich hierher zu dir gekommen bin. Meine Mutter hat mich immer auf dem Arm getragen, und wenn die Leute schlecht gegen sie gewesen sind und sie in der Nacht oder auf dem Wege hat weinen müssen, so habe ich sie an den Flechten gezogen und an den Ohren gezogen und ihr die Augen zugehalten, daß sie hat lachen müssen. Ich sehe sie nicht mehr und höre sie nicht mehr – sie ist gestorben; – ist das nicht kurios und recht traurig? Sieh, wie grau der Himmel ist, es ist gar kein grün Blatt mehr an den Bäumen und nicht eine einzige Blume auf dem Kirchhof. Das Gras ist noch da, das ist auch noch grün, aber es gefällt mir nicht; meine Mutter liegt darunter und sagt nichts und rührt sich nicht. Der Wind pfiff über den Zaun, und mir ist bange geworden, und ich habe mich gefürchtet, bis die Enten durch die Hecke krochen und über die Gräber und Steine wackelten. Sie schnatterten und schlugen mit den Flügeln und steckten die Schnäbel durch das Gras. Die dickste wollte sich auf meiner Mutter Kopf stellen; aber da habe ich sie gescheucht, und es hat einen großen Lärm gegeben, und wir sind alle zu gleicher Zeit am Weiher angelangt. Sie sind hinein- und hinübergefahren; aber ich bin auf der Brunnenröhre sitzen geblieben, bis das Wasser wieder ruhig war, und nachher habe ich mich doppelt gesehen. In dem Wasser war der graue Himmel auch; weißt du, und meine Mutter hat oft gesagt, sie wolle in das Wasser gehen, da sei ihr allein geholfen. Weshalb habt ihr sie denn in die Erde gegraben, wenn ihr im Wasser geholfen war? Ich gehe gern an das Wasser, vorzüglich im Sommer an den Teich im Walde. Darin sieht man viel, und die Enten stören einen nicht. Da fährt's leise und schnell drauf hin und her, und von unten auf wächst Kraut und kommen Blumen auf langen Stengeln. Wenn die Sonne drein scheint, sehe ich doch noch mal meine Mutter darin; aber heute am schmutzigen Weiher, da habe ich nichts gesehen als mich, und das Wasser hat mich ganz häßlich gemacht. Dann sind zu den Enten die Gänse gestanden, und alle haben die Hälse nach mir gereckt und geschrieen und gezischt. Ich habe einen Stein nach mir im Wasser geworfen, da war alles aus; und weil das lange gelbe Fräulein vom gnädigen Hofe mit dem guten Herrn auf der Landstraße dahergekommen ist, habe ich mich wieder gefürchtet und bin gelaufen. Sieh, nun weißt du, woher ich gekommen bin. Vor dem guten Herrn allein hätte ich mich nicht gefürchtet; doch das ist alles gleich, mir kann doch ja keiner helfen.«

»Kind«, rief die Alte, »jetzt hab ich dich lange genug angehört. Was schwatzest du da stundenlang her? Und weshalb soll dir keiner helfen können?«

»Die Leute im Dorfe sagen es. Sie sagen, ich sei nichts nutz und nichts wert, und als die Buben neulich die Katze versäuft haben, haben sie mich mit versäufen wollen und sind mit einem Strick und einem Stein hinter mir drein gerannt; aber diesmal bin ich ihnen noch zu schnell gewesen. Die Mädchen haben aber nachher gelacht und gesagt, es helfe mir doch nichts, daß ich so flink sei; ins Wasser müsse ich doch einmal. Nun sage du, muß ich ins Wasser, und ist mir dann geholfen?«

Wenn nun in diesem Augenblick die Wände des Siechenhauses zu Krodebeck auseinandergerückt wären, wenn die hellste Sonne eines Wiener Sommertages durch rotseidene geschlossene Vorhänge in das hohe, stolze Gemach gefallen wäre und den modernen, weißen, silberbeschlagenen zierlichen Sarg in der Mitte dieses Gemaches mit einem rosigen Schimmer bemalt hätte, so würde die Alte im Siechenhause nicht schmerzensreicher und angstvoller dreingesehen haben als jetzt, wo alles fürs erste beim alten blieb und sie mit abwehrenden Händen nur stöhnen konnte:

»O Kind, Kind, was für Unsinn redest du und was für schlechte Dummheiten lässest du dir in den Kopf setzen!«

Hüpfend und lachend in die Hände klatschend, rief Tonie Häußler:

»Sei ganz ruhig, ich gehe mein Lebtage nicht ins Wasser; es gefällt mir zu gut auf der Erde und bei dir, Mutter! Und heute hab ich viel trocken Fallholz aus dem Kuckelrucksholz geholt, nun können wir heut abend warm sitzen und hören, wie's im Ofen schilt und schwatzt. Nachher kriech ich zu dir ins Bett; dann braucht sich keiner zu fürchten vor Gluhschwänzen, Tückebolden und Gespenstern. Wenn du im Schlaf Angst hast, zupf ich dich an deiner alten spitzen Nase; dann wachst du auf und merkst, daß du bei mir bist, und alles ist gut. Und wenn ich vom gelben gnädigen Fräulein träume, so schüttle mich nur tüchtig; – wenn ich wache, fürchte ich mich vor niemandem. Den möcht ich sehen, dem zuliebe ich ins Wasser ginge! Ich habe es ganz gut in der Welt und verlange es nicht besser.«

Das letztere war mehr, als der Junker Hennig von Lauen in diesen Zeiten von sich behaupten konnte. Seine Verdauung war noch immer vortrefflich; allein sein Gemütszustand ließ vieles zu wünschen übrig, und daß auch ihm dann und wann vom Fräulein Adelaide von Saint-Trouin träumte, war noch das wenigste; denn er hatte die wohlmeinende Dame auch im Wachen um sich, und da ließ sie sich keineswegs abschütteln wie ein Traum. Nachdem der Metzger vom Hofe war, hatte sich der ruhige Moment zur »freundschaftlichen Erörterung« in der Tat bald gefunden, und das darauf folgende Geschrei war freilich entsetzlich gewesen.

Während der Chevalier mit billigend erhobenen Augenbrauen und zustimmendem Kopfnicken eine stumme Prise nach der andern nahm, hatte die Enkelin Jehans de Brienne gleichfalls eine Prise nach der andern genommen, nachdem der erste Stupor vorüber war, jedoch nicht stumm. Keine tragische »Madame« ihrer klassischen Landsleute erhob je den Dolch der Verzweiflung oder den Giftbecher der Rache mit furchtbarerem Pathos; die Frau Adelheid hatte – so was in ihrem Leben noch nicht gesehen.

Das sei zu arg, rief Adelaide von Saint-Trouin – das habe sie nicht um den Lauenhof verdient.

Sie ging so weit, als eine zimpferliche alte Jungfer nur irgend gehen kann, und behauptete, sie habe dieses Kind geliebt, als ob sie es selber geboren und gesäugt habe.

Ja, sie sagte »gesäugt« und rührte selbst den jüngsten Verwalter dadurch zu Tränen!

Sie behauptete: Da sie es – das Kind – in einer andern und bessern Weise als sonst jemand unter den Barbaren des Lauenhofes gebildet habe, so habe sie auch ihre Meinung über dasselbe, und ihre Meinung sei, daß man dieses Kind, bloß um sie – Adelaide Klotilde Paula – zu ärgern, auf den Pfad des Verderbens hinausstoße. Sie wußte fest, daß es sich hier gar nicht um die Sorge für die Edukation des Junkers handle, sondern einzig und allein um eine giftige, heimtückische, boshafte Verschwörung und Verabredung gegen eine unglückliche, hülflose Persönlichkeit, deren Namen sie nicht nennen wolle, da es doch nichts helfe. Wie die eben versteinernde Niobe ihr Jüngstes, umfaßte sie den zerknirschten Hennig und fand ebensowenig Erbarmen als jene, obgleich sie jedesmal, ehe sie in Krämpfe verfiel, außer sich vor tragischem Weh, schrie: noch nie sei für einen echten Kavalier etwas Gutes und Anständiges aus diesem In- und Auf-Schulen-Gehen zum Vorschein gekommen, und durch hundert traurige Beispiele aus der Geschichte des hohen und niedern europäischen Adels wolle sie das beweisen und belegen.

Wenn sie dabei auf den Chevalier von Glaubigern sah, wie die Gemahlin Amphions auf den hochgebildeten, aber rachgierigen Gott Apollo, so hatte das weiter keine Folgen, als daß der erstere alte Herr im Innersten seiner Seele wehmütig sagte:

»Ach du lieber Gott, das wird eine schöne Zeit werden!«

Die gnädige Frau erwiderte auf alles, was das gnädige Fräulein vorbrachte, einfach:

»Liebste Seele, daß Sie ein arges Lamento erheben würden, das hab ich im voraus gewußt, und daß ich mich sehr davor gefürchtet habe, das können Sie mir auf mein Wort glauben. Aber was hilft's? Die Sache ist einmal beschlossen, und ich meine, Sie kennen mich gut genug, um zu wissen, daß sie nicht übers Knie abgebrochen wurde. Daß ich auf Ihre Meinung viel halte, Frölen, wissen Sie gleichfalls, wenn Sie's auch nicht zugestehen werden; aber mein Seliger hat doch auch ein Wort mitzureden, und dessen Meinung war's item, daß der Junge nicht gänzlich unter uns Mistfinken hocken bleibe und ebenfalls zu einem werde.«

Mistfinke!... Wir müssen leider das scheußliche Wort noch einmal hinschreiben; denn seine Wirkung auf die Erbin von Byzanz war zu fürchterlich und wirkte wie ein Topf voll griechischen Feuers von den Mauern Konstantinopels auf ein sarazenisches Admiralschiff. Es hob die Versteinerung der Tochter des Tantalus vollständig auf; Fräulein Adelaide ließ den Junker frei aus den Falten ihres Gewandes, richtete sich zur vollen Höhe ihrer majestätischen Erscheinung empor, sprach: »Ich habe keine Macht, mir das zu verbitten; aber ich verbitte es mir doch!«, wandte sich, ging die Treppe hinauf und ließ sich acht Tage lang das Essen auf ihr Zimmer schicken! –

Den Junker nahm dann der Ritter von Glaubigern mit auf seine Stube und wendete sich in langer, wohlgesetzter Rede erst an seine Vernunft sowie seinen Verstand, und als dieses nichts half, an sein Ehrgefühl, was von besserer Wirkung war. Die gnädige Frau, welche nicht die Zeit hatte, um, wie sie sagte, abgetane Geschichten noch einmal breitzutreten, ging ihren Geschäften mit gewohnter energischer Gemütsruhe nach und machte sich ein Vergnügen daraus, das Fräulein in seiner grämlichen und gramvollen Abgeschlossenheit mit den lieblichsten Delikatessen der Jahreszeit zu versorgen. Um Weihnachten machte das Schicksal den letzten Schwankungen im Busen Hennigs dadurch ein Ende, daß es den Sohn des Pastors von Krodebeck, den lieben Franz Buschmann, zum erstenmal als Unterquartaner mit einer roten Mütze von Halberstadt nach Hause führte. Der liebe Franz, sonst ein blöder, etwas heimtückischer Knabe, trat jetzt stolz und überlegen dem frühern Spielkameraden entgegen und fand selbstverständlich einen großen Reiz darin, ihn durch seine Würde und Welterfahrung niederzudrücken. Hennig prügelte ihn zwar hinter der Pfarrscheune jämmerlich durch und warf die rote Mütze in die nächste Pferdeschwemme; allein moralisch erlag er jedoch vollständig gegen den Pastorenfranz. Dieses zeigte sich vorzüglich daran, daß er eine halbe Stunde nach dem Kampfe gegen seine kleine Freundin im Siechenhause in ganz derselben Art und Weise renommierte, wie Franz gegen ihn geprahlt hatte, und sich in den glorreichsten Phantasien darüber erging, wie er nun ebenfalls in nicht gar langer Zeit mit einer roten Mütze von Halberstadt nach Krodebeck heimkehren werde.

Daraus wieder geht für den Leser hervor, daß das mit dem Siechenhause angeknüpfte Verhältnis in vertraulichster Weise fortdauerte. Das Fräulein von Saint-Trouin hatte sich auch darein finden müssen. Es kann leider nicht länger verhehlt werden, daß das so vielfarbig leuchtende Gestirn Adelaides immer tiefer am Horizont des Knaben sank, während der Ritter von Glaubigern mit seiner ganz gewöhnlichen Laterne sich immer höher erhob. Seit der Chevalier seinen Zögling auf die Hintertüren des Hauses und des Lebens aufmerksam gemacht hatte, hatte er seine Stellung ihm gegenüber merklich verbessert, allein ihn zugleich auf Wege und Gänge hingewiesen, die jedermann leider nur zu bald von selber findet und die nur von so ganz gewöhnlichem Mittelgut, wie der Junker Hennig von Lauen, ohne weitere Gefahr beschritten werden.

Ungehindert trug der Knabe die Subsidien jeglicher Art, welche der nahrhafte Edelhof der alten Bewohnerin des Armenhauses fast gegen ihren Willen zukommen ließ, hinüber und den Dank in ebenso mannigfachen Gaben zurück. Die Welt nahm allmählich eine andere Form und Farbe für ihn an, und immer neue Elemente mischten sich in die phantastischen Anschauungen, die eine Folge seiner bisherigen wunderlichen Erziehung waren. Als mit abziehendem Winter die wandernde Frau Jane Warwolf von neuem in Krodebeck vorsprach, da fand sie im Äußern alles beim alten, allein im Innern doch manches verändert, und zwar nicht zum Nachteil weder des Ganzen noch des einzelnen.

Auf dem Lauenhofe stellte die scharfe Frau Jane den Junker nach ihrer Art zwischen ihre Kniee, tat ganz verwundert über ihn, als ob sie jetzt erst merke, was für ein merkwürdiger Bursche er eigentlich und unwissentlich sei, und erquickte ihn sehr durch das Gelöbnis, ihn auch in Halberstadt auf dem hochedeln und hochberühmten Gymnasium nicht verlassen, sondern ihn auch dort mit ihrem besten Rat und Trost unterstützen zu wollen. Als der Chevalier hierzu ein wenig lächelte, wurde sie ziemlich grob und versicherte ihn: sie wisse, was sie sage, mit ihrem Vater seliger habe sie das weltberühmte Bergwerk bis in die höchsten Klassen produziert, und ihr seliger Mann habe mit Stieglitzen, Dompfaffen und Kanarienvögeln in alle vier Winde hinein gehandelt. Sie habe sich mit den Herren Primanern und Sekundanern um manchen lieben Groschen geschlagen – rief sie –, und was die Herren Präzeptors und Klabberaters betreffe, so müsse es keine Botanik und Apothekerwirtschaft mehr auf Erden geben und kein kurios Kraut mehr rechts und links vom Brocken wachsen, wenn ihr die nicht grün wären bis in die äußersten Zweige.

»Nur stille, stille, ich glaube alles!« ächzte der Ritter mit beiden Händen vor den Ohren, und der Junker Hennig glaubte gleichfalls alles und noch mehr; denn vor der Tür teilte ihm die Frau Jane noch im höchsten Vertrauen mit: Was den Pastorenfranz angehe, so möge er sich um das »Trübsal« keine grauen Haare wachsen lassen; denn das Geschöpf sei froh, wenn es unter den jungen halberstädtischen Herren nicht selber Haare lassen müsse; seine Stellung im dortigen sozialen Leben sei nicht sehr bedeutend, und von seinen wissenschaftlichen Leistungen verstehe sie – Jane Warwolf – zwar wenig, allein reden habe sie noch gar nicht davon gehört; Prügel seien unter allen Umständen das Beste für den jungen Heiligen, und wenn sein Herr Vater –

Hier nieste sie glücklicherweise und nahm, ohne den Satz zu vollenden, mit dem gewohnten helltönigen Glückauf für diesmal Abschied vom Lauenhofe.

Im Siechenhause zog sie darauf die kleine Antonie Häußler ebenfalls zwischen ihre Kniee. Sie betrachtete sie dann eine geraume Weile wirklich in stiller Verwunderung und ließ sie frei, nachdem sie ihr mit leiser Hand über Stirn und Haare gestrichen hatte, ohne ein Wort zu sagen und ohne ein Gelöbnis zu tun. Als das Kind jedoch die Stube verlassen hatte, faßte sie schnell die Freundin Hanne am Oberarm, schüttelte sie ziemlich energisch und rief:

»Du, du, was hast du mit der Kreatur angefangen? O Hanne Allmann, sag, was für ein Vogel wird aus dem Ei, das dir der Kuckuck ins Nest legte? Herrje, willst du das Geheimnis und Rezept zu der Zucht nicht verkaufen? Damit ließe sich ein schön Stück Geld verdienen!«

»Ich habe viel Freude von dem Kinde, Jane«, sagte Hanne.

»Und schade, was beizufällt!« lachte Jane.

»Ja!« sagte Hanne Allmann, aber fügte leise hinzu: »Ich wollte freilich, das Kind wäre früher zu mir gekommen; jetzt fällt mir sicher der schönste Sonnenschein auf mein Grab; aber es ist auch so gut, und ich bin zufrieden.«

»Unsinn!« rief die Warwölfin ärgerlich. »Willst du junge Dirne vom Sterben sprechen, während ich eben das Maul auftue, um dir mein Kompliment über dein frivol und frisch Ansehen zu machen? Die Sonne wird freilich manch liebes Jahr auf deinen und meinen Hügel schauen, und daß wir manches Pläsier verpaßt haben, das steht auch fest, aber weshalb du anjetzo damit angerückt kommst, das begreife ein anderer.«

»Das Kind ist so jung – und die Welt ist so jung, und ich bin so alt, so alt!« rief Hanne Allmann weinerlich.

»Schön! sehr schön! Ei herrje, was man doch für Neuigkeiten erfahren kann, wenn man am Wege vorspricht!«

»Ja, du auf deiner Landstraße erfährst natürlich nichts davon, wie man alt werden kann; aber ich, ich spür's in allen Knochen, und es tut mir so leid, es tut mir jetzt so leid, und davon sprech ich heut zum ersten Male zu einem andern Menschen. Mir ist so weh, wenn ich das Kind ansehe, und ich bin doch so glücklich mit ihm. Auch Zorn ist dabei und Angst ist dabei; aber wie ich es auch sage, ich kann es doch niemandem recht sagen, wie es mir zumute ist um mich und um das Kind!«

»Dann halte den Mund; – andere Leute müssen es auch tun. Was weißt du von meiner Landstraße? Was weißt du, was ich erfahren und nicht erfahren, bedenken und nicht bedenken kann? Hanne Allmann, ich habe dich lieb, und du bist mein einziger Freund in der ganzen weiten Welt; aber ich kenne dich auch durch und durch, und was kein anderer verrichtet hat, das wirst auch du nicht verrichten: wirr und blöde laß ich mich nicht machen. Glück auf! Ich meine, einmal sehen wir uns doch noch wieder und mögen die angenehme Unterhaltung weiterspinnen. Glück auf!«

»Glück auf und lebe wohl, Jane Warwolf!« sagte Hanne und reichte der Freundin abgewendet die Hand. Jane hob ihren Tragkorb wieder auf den Rücken, schüttelte die dargebotene Hand und schritt von dannen, wie immer mit einer Miene, als ob sie Indien erobert und nun des Spaßes halber das Dorf Krodebeck noch nachgeholt habe. Sie schritt sogar noch straffer und sieghafter als gewöhnlich einher; aber nur so lange, als ihr Weg vom Siechenhause her zu überblicken war. Sobald sie den traurigen winterlichen Wald erreicht hatte, sank ihr Kopf herab und ging sie tief gebückt unter der Last auf ihrem Rücken. Die dichten, alten, borstigen Augenbrauen zogen sich finster zusammen, sie schlug mit ihrem Wanderstabe zornig in die Pfützen und nach den Steinhaufen an ihrem Wege und hub an, in einer ganz andern unmutigen und zornigen Weise als die melancholische Freundin mit den Göttern und Menschen zu hadern.

»Sie hat recht; wir leben ein Hundeleben und sterben einen Hundetod! Sie weint darüber, und ich lache darüber; aber es kommt auf dasselbe hinaus, und niederträchtig ist's! Der alte Herr vom Lauenhof weiß auch davon zu sagen – ein Hundeleben, ein Hundeleben! Ja, wie viele Jahre Zuchthaus hätt's gekostet, wenn die schöne Marie das Kleine mit einem Stein am Halse in den Bach geworfen hätte? Hui, da ist der Wind wieder! Da jagt er die Schneewolken über die Tannen herauf. Nun hab ich ihn wieder bis in die Nacht im Gesicht; – Sackerment, die sitzt und jammert über den letzten Sonnenstrahl, der in ihren Jammerwinkel fällt; – Sackerment, ein Hundeleben und ein Hundetod, und das letzte ist das Beste; – Glück auf, Jane Warwolf!«


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