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Ja, da stand er! – so alt, so kümmerlich, halb blind und tief gebückt, und doch ein Ritter und ein Held, dieser Chevalier Karl Eustach von Glaubigern – wie vielleicht in diesen Tagen die menschenbevölkerte Erde keinen zweiten aufweisen konnte, um damit vor dem milden Auge der Sonne zu prangen und sich zu rühmen!
Es war ein weiter Weg aus dem chinesischen Gartenhäuschen auf der Terrasse zu Krodebeck in die Vorstadt Mariahilf; aber es war ein noch viel weiterer und wunderbarerer Weg aus der müden, schlaftrunkenen, längst wie in sich selber verlorengegangenen Existenz des Greises in diese helle, grelle, wirbelnde gegenwärtige Stunde hinein. Wahrlich lag ein Heroentum sondergleichen in dieser Kraft, mit welcher der alte Mann aus der vergangenen Zeit den Leuten der Gegenwart unter die Augen trat – ein vom Kopf bis zu den Füßen geharnischter Streiter, ein waffenrasselndes Gespenst, das den besten Willen hatte, den Kampf auf Leben und Tod mit den erstaunten und bestürzten Herrschaften aufzunehmen, und welches sich durchaus nicht aus dem goldenen, heiterblauen, vergnüglichen Tage, aus dem hellen Mittage hinweglächeln ließ.
Was der Edle von Haußenbleib auf der Stelle wußte, das ahnten die übrigen bereits im nächsten Moment so bestimmt und deutlich, daß der Herr des Hauses sich jede weitere Erklärung ersparen mochte. Der Graf Basilides Conexionsky wußte ganz genau, was ihm die Ankunft dieses wunderlichen Ritters bedeute; er erschien als der Ruhigste im Kreise, und da wir die Ehre hatten, ihn ziemlich genau kennenzulernen, so wissen wir, daß er auch wirklich vielleicht der Ruhigste war. Er lehnte sich jetzt freundlich-nachdenklich auf den Sessel der schönen Zoe, und um Augen und Mund zwinkerte und zuckte ein gar nicht geheimgehaltenes Ergötzen über die händereibende Verlegenheit seines lieben, teuern, verehrungswürdigen und verehrten Geschäftsfreundes, seines Nonno Teodorico von Haußenbleib, seines babbo carissimo, oder wie er ihn sonst in den Momenten zärtlichster Vertraulichkeit zu nennen beliebte.
Der Edle war in der Tat verlegen und rieb sich wirklich die Hände. Er sprach von der großen Ehre, die ihm und seinem Hause widerfahre, er bat seine Enkelin, sich doch zu fassen und zu beruhigen; er bat mit dem kläglichsten Blick im Kreise umher um Hülfe, und vor allen Dingen wünschte er den Chevalier von Glaubigern, die holde Zoe, die heitere Emanuele, den norddeutschen Krautjunker und – sich selber zu allen Teufeln oder – mit Ausnahme der letzterwähnten Persönlichkeit – in die allerunterste, tiefste und kühlste Kasematte der von ihm so unendlich geliebten und verpflegten Festung Verona.
»Sollen wir gehen?« flüsterte Emanuele Werdenberg der Freiin von Wanesch zu, und Zoe bewegte leise das Haupt:
»Nein!... Natürlich nicht!«
Sie blieben natürlich, und sie blieben auch nicht die einzigen, welche an diesem seltsamen Morgen dem Edlen von Haußenbleib und seiner Enkelin einen Besuch machten. Es hielten noch mehrere Wagen vor dem Hause, und die Türglocke klang, und Toinette meldete manchen wohlklingenden Namen. Es rauschten Schleppen herein, und Kavaliere von allen Lebensaltern und Stellungen kamen, ihre Glückwünsche zu bringen; die glänzenden, im Sonnenschein tanzenden Wogen stiegen immer höher um den Greis und sein Pflegekind, und beide sahen und hörten nichts mehr von dem, was sie umgab, umflüsterte und in wachsender Verwirrung umdrängte.
Der Ritter von Glaubigern hatte seinen Pflegesohn zurückgeschoben und sich über die Tonie geneigt. Er hatte sie wortlos aufgehoben, und sie hatte die Arme um seinen Nacken geschlungen und hing an ihm, und er war stark genug, sie zu halten und zu stützen. Sie weinte laut und bitterlich, als ob sie beide allein miteinander in einer Wüste gewesen wären. Es war für beide die Zeit vergangen, wo sie auf die Gefühle der Leute um sie her Rücksicht nahmen, den Anstand bewahrten und Furcht hatten, sich lächerlich zu machen. Sie waren ja allein in einer Wüste – allein in der Wüste des Lebens, der Lebendigkeit. Sie fühlten wohl den Boden, den Fels, auf welchem sie standen, unter sich wanken, sie wußten, daß die Wogen um sie her wuchsen, daß das Leben, die Lebendigkeit immer recht behält, sie wußten, daß sie verloren waren, und sie waren doch glücklich und sicher – gerade darum waren sie glücklich und sicher.
Mit zärtlicher, liebkosender Hand streichelte der Ritter von Glaubigern unter den Blicken des Edlen von Haußenbleib, des Grafen Basil, der schönen Damen und des Junkers Hennig von Lauen der Tonie Häußler die Wangen:
»Mein Kind!... Mein liebes, liebes Kind! Da bin ich; ich bleibe bei dir. Sei still, mein Kind.«
»Ich kann nichts sagen! Mein Vater, mein Vater! Und ich habe gedacht, daß niemand mir helfen würde! Mein Freund – mein Vater, wie bin ich nun in Sicherheit! Hab Dank – Dank –«
Sie schloß die Augen und glitt mit einem schweren schmerzlichen Seufzer langsam an der Brust des Greises herab. Der Ritter von Glaubigern sah mit einem wilden, zornigen Blick umher; er schwankte unter der Last, und Tonie würde ihn mit sich zu Boden gezogen haben, wenn jetzt nicht Hennig und die Kammerjungfer beide aufgefaßt hätten.
»Pardon«, sagte der Graf, »das gnädige Fräulein« – aber er vollendete nicht; der Chevalier winkte ihm zu schweigen, und er schwieg wirklich. Für die übrigen Herren und Damen wurde die Szene allmählich ein wenig peinlich trotz dem Interesse, welches sie so überreichlich darbot. Es wurde leer in dem Salon des Edlen von Haußenbleib, und selbst Zoe von Wanesch und Emanuele Werdenberg nahmen endlich mit Tränen in den Augen und wiederholten heftigen Küssen von der wehrlosen, halb bewußtlosen jungen Freundin Abschied und entrauschten, um mit lebhaftesten Farben und glühender Phantasie das Erlebte weiterzutragen im Kreise der Bekannten und Freunde des Hauses und überall eine lächelnde Verwunderung zu erregen.
Die Nächstbeteiligten fanden sich allein, und mit einem Ton und Ausdruck, den wir bis jetzt noch nie von ihm vernahmen, sprach der Ritter von Glaubigern, die Hand seines Pflegekindes fest in der seinigen und ihr Haupt auf den Kissen des Diwans im Arm haltend:
»Meine Herren, ich habe vielleicht in irgendeiner Weise die Formen des heutigen Tages verfehlt, und ich bitte, das zu entschuldigen. Ich bin sehr alt, um ein bedeutendes älter als der Herr von Häußler, und der Herr von Häußler weiß, aus welchem abgeschlossenen Dasein ich hierherkomme, und wird dem Herrn Grafen gewiß später das Notwendige darüber mitteilen. Ich bitte, Geduld mit mir zu haben; denn ich komme, vieles zu fordern – ein ungeschriebenes Recht, mein Recht an dieses Kind – diese junge Dame.«
Der Graf Basilides verbeugte sich stumm vor dem alten Herrn. Er stand da wie Buffon mit dem Knochen eines vorsintflutlichen Tieres vor sich, und nicht ohne einen geheimen Reiz baute auch er aus der Erscheinung, den ersten Worten und Gesten des Chevaliers eine untergegangene Welt auf. Der Edle aber ergoß sich wiederum in einen Schwall von Worten und konnte doch nicht Worte genug für seine Gefühle finden. Mit der Hand auf dem Herzen versicherte er immer von neuem, daß er sich unendlich geehrt durch diesen Besuch des Herrn von Glaubigern und durch dessen Teilnahme an dem Wohle seiner Familie tief gerührt fühle. Er habe es nie vergessen und werde es nie vergessen, was das berühmte, edle, alte Haus unter den Harzbergen für ihn – den Edlen von Haußenbleib – und seine Enkelin getan habe. Daß das Haus derer von Haußenbleib dem Herrn Leutnant zur unbeschränkten Verfügung stehe, sei so selbstverständlich, daß er hoffentlich darüber kein Wort zu verlieren brauche.
Der Ritter von Glaubigern neigte das Haupt und verwendete diese Verbeugung zu gleicher Zeit mit zu einem kurzen Gruße für Hennig, den er bis jetzt von allen Anwesenden am wenigsten beachtet hatte. Dann sagte er ruhig:
»Ich danke Ihnen, mein Herr von Häußler. Ich werde Ihre Freundlichkeit nicht mißbrauchen. Ich werde niemand ein wirkliches Recht streitig machen; aber auch das meinige wünsche ich mir zu erhalten und bitte deshalb, mein Erscheinen allhier so ernsthaft als möglich zu nehmen. Herr Graf, ich bitte Sie, sich der Vorteile der Jugend nicht überall in unserm Verkehr miteinander zu erinnern.«
»Mein Herr«, sagte der Graf sehr ernsthaft, »ich fühle mich so alt wie Sie, und ich vertrete eine Welt, die nicht jünger ist als die Ihrige. Ich bin mir keines Vorteils gegen Sie bewußt.«
Zitternd faßte die Hand des Mädchens den Arm des Greises fester; aber der Chevalier legte der Tonie seine Hand auf die Stirn und sprach:
»Der Herr Graf hat recht, Tonie, und wir werden freundlich miteinander verkehren und friedlich miteinander auskommen. Liege still, mein Kind! Du liegst wie auf dem Strohlager der Hanne Allmann im Siechenhause zu Krodebeck; – der Schnee fällt draußen – liege still, wir wachen.«
»Herr von Glaubigern, Herr von Glaubigern, ich bitte Sie!« rief der Edle von Haußenbleib trotz aller seiner Selbstbeherrschung in halber Verzweiflung und sah wie hülferufend auf den Grafen; allein dieser kam ihm keineswegs zu Hülfe, sondern sagte mit einem eigentümlichen Blick auf den Edlen:
»Unsere arme Antonie scheint in der Tat durch die plötzliche und heftige Gemütsbewegung sehr angegriffen worden zu sein. Mein Herr von Glaubigern, ich finde mich plötzlich sowohl dem Fräulein wie Ihnen gegenüber in einer ziemlich verlegenen Stellung. Ach, Antonie, Sie werden nicht an meiner Aufrichtigkeit zweifeln, wenn ich Ihnen sage, daß ich von ganzem Herzen wünsche, daß dieser – dieser Besuch für Sie, für uns alle seinen Zweck erreiche! Wenden Sie sich nicht ab, Antonie; ich habe Ihnen nie einen Grund dazu gegeben, an meiner Ehrlichkeit zu zweifeln, und ich habe Sie mir nur gewonnen, um Sie glücklich zu machen!«
Antonie Häußler schauderte leise, und der Ritter von Glaubigern fühlte, wie ihr ganzer Körper erzitterte.
»Wir haben einander beide sehr erschreckt, das Kind und ich«, sagte der Ritter. »Die Herren sollten uns einen Augenblick allein lassen. Es ist eine Bitte, Herr Graf.«
»Die ich vollständig erklärlich finde und der ich gern und willig Folge leiste, mein verehrter Herr; Sie werden in allen Dingen während Ihres hiesigen Aufenthalts verfügen – in allen Dingen, mein teuerer Herr von Glaubigern; und wo wir einander als Gegner finden, da wollen wir wenigstens mit ehrlichen Waffen kämpfen. Kommen Sie, Haußenbleib.«
Er winkte dem Edlen, und dieser sah zum erstenmal in dieser Geschichte dumm aus, vollendet dumm. Er blickte auf Antonie, er sah auf den Ritter, und er sah sehr fragend auf den Grafen Basil. Aber der letztere zuckte ungeduldig die Achseln und trat leise mit dem Fuße auf. So blieb denn dem Edlen nichts übrig, als dem Winke des Grafen zu folgen.
»Kommen Sie denn, mein lieber junger Freund«, ächzte er, seinen Arm zärtlich in den des Junkers von Lauen schiebend. »Vielleicht ist es wirklich das beste, daß wir den Herrn Ritter und meine Enkelin einige Augenblicke allein lassen.«
Das war der schlimmste Moment, den Hennig je in seinem Leben durchlitt. Zorn, Angst, Selbstvorwürfe ballten sich zu einem Chaos in seiner Brust. Er warf einen ratlosen, hülfeflehenden Blick auf den Chevalier, welcher denselben gänzlich unbeachtet ließ. Betäubt und zerschmettert hatte der Junker den dringenden Nötigungen des einstigen Barbiers von Krodebeck zu folgen, und vor der Tür blieb der Graf Basilides Conexionsky kurz stehen, klopfte den Herrn des Hauses auf die Schulter und sagte sehr kühl und ruhig:
»Babbo Teodorico, ich rate Ihnen herzlich, einen genügenden Vorrat philosophischer Trostgründe einzulegen. Ich hoffe übrigens, daß Sie fest im Auge halten werden, bis zu welcher zarten Nuance des Lächerlichwerdens Sie mich kompromittieren dürfen. Meine Herren, ich habe die Ehre, mich zu empfehlen.«
Hennig war zu betäubt, um ihn aufhalten oder ihm folgen zu können. Der Graf Basilides sagte auf der ersten Treppe: »Maledetto!«, auf der zweiten: »Ah, ah, on n'a pas toutes ses aises en ce monde!«, und als er in der Gasse sein Pferd bestieg, murmelte er: »Das war freilich ein raffinierter Geschmack, sich in eine Sterbende zu verlieben, und noch dazu unter den übrigen lächerlichen Umständen. Da ist es freilich kein Wunder, wenn die Toten am hellen Mittag aufstehen, um das Ihrige in Anspruch zu nehmen!«
Er blickte grimmig an dem Hause hinauf und stieß mit einem slawischen Fluch seinem Pferde die Sporen in die Seiten, daß es hoch aufstieg. So ritt er davon.
»Sie sind alle fort – wir sind allein«, flüsterte der Ritter von Glaubigern, und sein Pflegekind legte das Haupt an seine Brust und küßte seine Hand.
»Wir sind allein, Tonie«, sagte der Ritter. »Aber sie mögen zurückkommen – fürchte dich nicht – wir bleiben zusammen. Hast du wirklich gedacht, daß Krodebeck dich ganz und gar im Stich lassen würde?«
Das junge Mädchen schüttelte den Kopf:
»Ich konnte es mir nicht vorstellen, aber so schön hab ich's mir doch nicht gedacht! Es war mir immer, als könne ich die Heimat zuletzt doch noch mit meinem Herzen herziehen; aber jetzt ist die Wirklichkeit doch viel wundervoller als jeder Traum, als jeder heiße, weinende Wunsch und Gedanke. Mein Vater, mein einziger Freund, wie hat man Ihr armes Kind gequält! Ist es Ihnen in der Nacht langsam, langsam wie heiße Blutstropfen auf Ihre Seele gefallen? Haben Sie so tief fühlen müssen, wie ich mich nach Ihnen sehnte, daß auch Sie keine Ruhe mehr in der Heimat hatten, daß Sie einen so weiten, weiten Weg kommen mußten, um mir zu helfen, um mir Ruhe und Erlösung zu bringen in meiner Not?«
»Freilich, freilich hab ich das, und der Hennig hat geschrieben, und es war schlecht bestellt um unsere Ruhe und Freude dort oben. Von dem weiten Wege habe ich nichts gespürt. Da richtet das arme, gemeine Volk, auf seinen Wegen übers Meer in fremde Wildnisse hinein, größere Wunder aus! Lache mich nicht aus, Tonie; ich bin noch sehr jung, und die Reise hat mich noch jünger gemacht; – wenn wir beiden zusammenhalten, können wir es noch mit vielen Leuten aufnehmen. Und höre – ich bringe die allerschönsten Grüße von Krodebeck, dem alten Hause, deinem Gärtchen und dem Fräulein Adelaide, von der Jane Warwolf – ja, die läßt dich tausendmal grüßen – und hundert andern Leuten und Dingen, welche allesamt eine große Sehnsucht nach ihrer kleinen Wiener Freundin haben und sie auf das feurigste zu sich zurückwünschen.«
»Sie werden mich nicht wiedersehen«, sagte Antonie Häußler. »Für die Hoffnung ist es zu spät; aber ich bin so glücklich, so glücklich in der Gegenwart, daß die über alle Träume und Hoffnungen geht.«
»Kind, Kind, das dürfte ich sagen; aber nicht du, mein liebes Kind!« rief der Chevalier.
»Doch, mein Vater, ich darf es auch sagen, denn es ist die Wahrheit, und gerade in dieser Wahrheit bin ich ruhig und glücklich und verlange nichts mehr. Die Heimat wird mich nicht wiedersehen; aber sie hat mir ihren liebsten Abgesandten geschickt, und der soll ihr nachher von meiner Liebe und Dankbarkeit erzählen.«
»Nachher, nachher!« murmelte der Greis. »Nachher ist ein Wort, das für fünfundsiebenzig Lebensjahre und diesen kahlen Schädel nicht mehr paßt, von einem solchen jungen Munde gesprochen.«
»Es ist doch wahr, mein Vater! Du von allen, die mich liebgehabt haben im Leben, hast zuerst gewußt, wie schwer es sein werde, eine ruhige Stelle für mich in diesem Leben zu finden. Du hast vielleicht Freude an mir gehabt, denn ich habe das sehr gewünscht; aber die schwere Sorge um mich bist du nie losgeworden. Und weshalb wärst du jetzt zu mir gekommen? Hast du einen Platz auf Erden gefunden, wohin du mich führen und allein lassen und lächelnd sagen könntest: Da sitze still und sei zufrieden, denn du bist geborgen!? – Nein, mein Herr Ritter, in jener Nacht, in welcher der alte Mann aus dem Siechenhause mir am Grabe meiner Mutter die Hand auf die Schulter legte, bin ich zum Tode erschreckt worden. Seit der Nacht friert mich in der Sonne. Seit jener Nacht habe ich angefangen, mich vor der Sonne zu fürchten. Der Chevalier von Glaubigern wird nach Krodebeck zurückkehren und den Leuten sagen, wo das Kind, das mit der schönen Marie ins Dorf gebracht wurde, geblieben ist. Ach, er wird den Leuten nicht erzählen, welch einen Segen er jenem Kinde in der letzten Stunde aus seinem treuen guten Herzen brachte!«
»Und mit einem solchen Glauben, mit einer solchen Gewißheit in deinem Herzen hast du dem Mann, welcher da eben hinausging, deine Hand gegeben?«
»Mein Großvater hat das getan, und Sie, mein Vater, sind zu mir gekommen, als Sie davon hörten. Nicht wahr, Sie sind nicht zu mir gekommen, um mich so schlecht Komödie spielen zu sehen? Ach, das ist heute nicht anders, als es gestern, als es vor einem Jahre war, als es seit dem Tage ist, an welchem man mich von dem Lauenhofe fortführte: ich habe immer Komödie spielen sollen, und weil ich stets meine Rolle schlecht machte, habe ich schlechte Tage und Nächte gehabt. Nun hat man mir meine letzte Rolle gegeben. Sie glauben es nicht, daß es meine letzte sein wird; aber ich weiß es, und da lache ich zum erstenmal über das Spiel, in welchem ich selber von den harten Händen um mich her vor- und zurückgeschoben werde. O mein Vater, dies Lachen müssen Sie mir gönnen; es ist der einzige Gewinn, den ich mir aus meinem Leben, meinem schrecklichen Leben in dem Hause meines Großvaters erworben habe.«
»Wehe über sie alle, welche dich so lachen machten!« rief der Ritter von Glaubigern. »Du hast recht; ich bin zu dir gekommen, nicht um dein hiesiges Leben persönlich zu erkunden, sondern um dich mir zurückzufordern. Du sollst mit mir heimgehen, Antonie! Sie haben ja jetzt erfahren, daß du nicht zu ihnen gehörst, – der alte Mann haßt dich und fürchtet dich; er wird dich gern freilassen. Du spielst nicht Komödie; aber nun mache dem Spiel der andern mit dir ein Ende – dieser Graf wird dich nicht halten, ich habe in seiner Seele wie in der deines Großvaters gelesen. Sie wissen, warum ich hier bin; sie haben heute Furcht vor mir gehabt. Sie wissen, daß sie keine Macht mehr über dich haben; sie haben Furcht auch vor dir, und du hast gesiegt in diesen Jahren, nicht sie! Sie wissen das ganz genau und werden uns nicht auf unserm Wege aufhalten! Ich führe dich heim nach dem Lauenhofe.«
»Nach dem Lauenhofe?« rief Antonie, in Angst und Scham und Schrecken die Hände erhebend. »Nach dem Lauenhofe? Wissen Sie nicht, mein Freund, daß Hennig mich aus Mitleid dahin führen wollte? Da ist der Tod unwiderruflich in mein Herz getreten, als er mir seine Hand aus Mitleid anbot. Mein Vater, mein Vater, ich rede zu Ihnen über die Schulter, schon halb verdeckt von dem Schatten, der nach dem Tage kommt und zur ewigen Dunkelheit wird – deshalb allein kann ich so zu Ihnen sprechen! Ahnen Sie nicht, weshalb mein Heimatsrecht an den Lauenhof nur bei Ihnen ist und bei den zwei Gräbern auf dem Kirchhof, dicht an der Hecke des Siechenhauses?«
Sie barg von neuem ihr Gesicht an der Brust des Greises und weinte sehr. Der Ritter von Glaubigern sah in ratloser Verzweiflung umher – er wußte freilich jetzt alles. Er wußte vor allen Dingen, weshalb das Kind der schönen Marie, sein Pflegekind, die arme Antonie Häußler, so wenig Widerstand gegen den Willen ihres Großvaters in betreff des Grafen Basilides Conexionsky geleistet hatte. Sie spielte doch Komödie! Das Herz zerbrach ihm im tiefen Schauder über die tragische, entsetzliche Rolle, die sie diesmal auf sich genommen hatte.
»Sie liebt den Knaben – den törichten, nichtigen Knaben, der nichts als ein halb unbewußtes, ein schnell vergehendes Mitleid für sie hat!« murmelte er. »O sie sieht furchtbar klar – sie wäre doch verloren in der Heimat. Sie hat recht, sie hat keine Heimat – dort nicht – dort nicht. Und weil sie weiß, daß man an einer Rolle wie der ihrigen wirklich stirbt, so hat sie sich in dieselbe hineingeflüchtet, und ich – ich habe ihr nichts mehr zu sagen, nichts mehr zu bieten!« –
Da merkte er, daß er nicht umsonst mehr denn siebenzig Jahre alt geworden war und das Vermögen, über sein eigen Dasein und das seiner Brüder und Schwestern im Leben nachzudenken, behalten oder doch für einen kurzen Augenblick wiedererhalten hatte. Grimmig richtete sich die furchtbare Sphinx vor ihm empor und sah ihn an mit den großen, kalten, unergründlichen Augen.
Was war es auch, was ihn hier in dem Geschicke seines Pflegekindes so tief bewegte? War es wirklich so spät am Abend der Mühe und der Tränen wert? So spät am Abend! Was hatte er selber dadurch gewonnen, daß er siebenzig Jahre alt geworden war und daß er es, wie die Leute in Krodebeck sagten, in seinem Leben gut gehabt hatte? –
Hatte er es in seiner träumerischen, einsiedlerischen, verlorenen Abgeschiedenheit wirklich so gut gehabt, wie die Leute in Krodebeck meinten?
Ach, er fühlte sich als ein gar armer Mann, als er so spät am Abend seinen Gewinn zusammenzählte, während das bleiche Pflegekind von seinen Kissen ihn ebenfalls mit großen, unergründlichen Augen anblickte, als warte es darauf, daß er ihm das Ergebnis seiner Rechnung leise sage.
Er hatte hier Hülfe bringen wollen? Er? – – – So alt, so alt und ebenso allein und hülflos in dem wilden, wimmelnden, vorwärts stürzenden Leben wie dieses junge Wesen – ja hülfloser noch!
Er blickte auf den Weg zurück, auf welchem er gekommen war, und er sah ihn leer. Nur die Nacht schritt hinter ihm her, die Schatten wuchsen um ihn.
»Ach, lebte doch die Frau Adelheid noch!« sagte er, und dann dachte er an die zwei andern alten Weiber, die noch auf dem Lauenhofe saßen; aber was konnten die ihm und der Tonie helfen?
Er dachte an das hohe Alter der beiden, und das kam ihm auf einmal ganz außergewöhnlich gespenstisch vor, und dann blickte er sich von neuem in seiner Umgebung um und besann sich mühsam, wo er sich befinde. Er strich langsam über die dünnen weißen Haare und murmelte ganz ängstlich fragend:
»Tonie, Tonie?«
Sie verstand schnell, was das bedeute, und faßte seine Hand und flüsterte ihm zärtlich ermutigend zu: »Fürchte dich nicht, Vater. Du bist bei mir – bei deinem Kinde! Wir halten zusammen, wir bleiben zusammen. Niemand kann uns mehr ein Leid antun. O wir können ruhig sein, ganz ruhig, mein Vater!«
Da nickte er mit dem Kopfe, und das Kinn sank ihm tiefer auf die Brust herab. Die greisenhafte Erschöpfung gewann langsam wieder ihr Recht über ihn.
Noch wehrte er sich tapfer und ritterlich dagegen; aber schon wußte er, daß er unterliegen müsse, und jammernd rief er:
»Tonie, Tonie, weshalb bin ich denn hier? Weshalb bin ich hergekommen? Wo bin ich?«
»Du bist zu meinem höchsten Glück zu mir gekommen. In der höchsten Not. Nun bist du bei mir, mein Vater, und ich bin bei dir, und wir bleiben zusammen, niemand soll uns voneinander trennen. Sei ruhig, wir gehen denselben Weg, mein Vater!«
Noch einmal und zum letztenmal ging eine große Helle, ein großes Licht durch die Seele des Ritters Karl Eustach von Glaubigern. Noch einmal sah er sein Leben vom ersten Augenblick des selbständigen Denkens bis in diese feierliche Stunde in höchster Klarheit vor sich, und ganz klar erkannte er plötzlich, inwiefern seine tapfere Fahrt vollkommen mißlungen war und inwiefern dieselbe vollständig ihren Zweck erfüllte.
»Du sagst die Wahrheit, Tonie«, sprach er. »Wir wollen zusammenbleiben und zusammengehen, mein Kind, denn wir treffen auf ein und demselben Wege zusammen; ich komme nur ein wenig weiter her. Das sind deine jungen Locken, mein armes Kind; – man sollte es nicht denken, daß wir auf demselben Wege zusammentreffen könnten; aber es ist so. Wir können in dieser Welt einander nicht helfen, Tonie; wir können nur den Rest unseres Weges zusammen gehen.«
»Mein Glück, das ist mein Glück, lieber Vater! Und jetzt wollen wir die anderen Herren zurückrufen, und wir wollen verschwiegen sein und haben das leicht; denn wir müßten laut rufen, um uns hörbar zu machen.« –
Gerufen von Toinette, kam der Edle von Haußenbleib mit dem Junker von Lauen, stumm, sorgenvoll, verlegen und verstört. Sie hatten allen Grund, über den Ritter und sein Pflegekind zu erstaunen, denn Tonie empfing sie mit einem ruhigen Lächeln, und der Chevalier erschien ihnen nur ein wenig erschöpft von der Reise, und das konnte kein Wunder sein. Sie rieten ihm – dem Ritter von Glaubigern –, sich früh niederzulegen, und das versprach er gern, und als er dann mit Hennig nach der Taborstraße fuhr, schlief er wirklich schon im Wagen ein und schlief ruhig und fest die Nacht durch.
Auch Antonie Häußler schlief ruhig und lächelte im Schlafe; aber alle andern wachten in großer Unruhe und vielen Sorgen; vor allen andern aber wachte in Sorgen, Angst und großem Grimm der Edle Dietrich Häußler von Haußenbleib, denn er hatte gesiegt und triumphiert; – auch diesmal hatte er seinen Willen gehabt und den Sieg gewonnen, wie er unter allen Gestalten und in allen Verhältnissen, in der Tiefe und in der Höhe seit vielen, vielen tausend Jahren den Sieg gewinnt. – –
Und er war so zufrieden mit seinem Siege, wie er es seit Jahrtausenden stets ist; nämlich er zuckte die Achseln, da er die, welche ihm das Feld räumen mußten, nicht halten konnte. Daß er von allerlei verdrießlichen und unbequemen Gemütsbewegungen geplagt wurde, haben wir soeben erst gesagt; allein er wußte sich nach seiner Art ganz vortrefflich zu beherrschen, erschien dann und wann sogar recht gerührt und – erwies sich diesmal sogar außergewöhnlich höflich, nachgiebig und zuvorkommend gegen die Scheidenden bis – zum Schluß, bis zur Vollendung dessen, was er sein – gewöhnliches schlechtes Glück zu nennen beliebte.
Auch mit dem Grafen Basilides Conexionsky hatte sich jetzt der Edle von neuem auseinanderzusetzen, und dieses war für ein feinfühliges Gemüt, gleich dem seinigen, vor allem eine peinliche Aufgabe. Er versuchte es nach gewohnter freundschaftlicher Weise und, um die Wirkung zu erhöhen, mit dem Taschentuche vor den Augen. Aber wenn ihm der Graf Basil selbstverständlich auch auf halbem Wege entgegenkam, so machte doch das Taschentuch nicht die geringste Wirkung auf ihn.
»Mein lieber Herr«, sagte der Graf mit großem Ernst und mit gerade nicht geheimgehaltenem Ekel, »mein lieber Herr, ich hielt Sie für einen besseren Impresario, als Sie sich gezeigt haben. Per Bacco, ich schäme mich selber und finde für mich nur in meinem langen Aufenthalt in Italien eine Entschuldigung für die entsetzliche Gutmütigkeit, mit welcher ich mich Ihnen zur Verfügung stellte. Ich glaubte, mich für eine Buffoneria engagieren zu lassen, und nun finde ich mich als Arlecchino im fünften Akt einer Tragödie sondergleichen und hätte Lust, Sie, mein teurer capo della compagnia, auf eine Art dafür verantwortlich zu machen, die Ihnen für alle Zeit derartige Spekulationen verleiden müßte.«
»Ich bitte Sie, Basil!« rief der Edle mit gefalteten Händen.
»Lassen Sie das nur, mein wertester Exbabbo; aber danken Sie gehorsamst Ihren Göttern, daß meine Weltanschauung objektiv genug ist, um Sie wenigstens zu verstehen und deshalb milde gegen Sie sein zu können. Bei Ihrer Ehre, Sie haben nicht gewußt, daß Ihre Enkelin aus bloßem Eigensinn und Trotz unser lustiges Leben so tragisch nehmen würde! Natürlich! Sie waren mit Geschäften überhäuft, Sie hatten das Quadrilatère zu verproviantieren, und Sie wollten eben noch ein letztes Geschäft machen und verrechneten sich ein wenig. Sie dachten mit dem Strohmann zu spielen, und an seiner Stelle setzt sich der Tod an den Tisch; und – nun sage ich Ihnen, bei meiner Ehre, Signor Pantalone, wenn mir etwas unsere Situation in einer eigentümlich fahlen Beleuchtung zeigt, so ist es die Art und Weise, in der mir dieses arme Mädchen den Korb gegeben hat. Es ist Schick darin, mein Bester. Und es ist Schick in diesem alten Herrn vom Blocksberg, diesem gespensterhaften Kavalier aus Thule, der uns alle mit einer Handbewegung über den Haufen wirft und dem ich unbedingt mein Kompliment in jeder Hinsicht zu machen habe. Wahrhaftig, ich bin heute ein guter Freund – hören Sie wohl – ein sehr guter Freund Antonias; aber vor diesem süperben Greise streiche ich gern und willig die Flagge. Sie werden mich verstehen, mein Bester, wenn ich Ihnen wiederhole, daß Fräulein Antonie heute nur einen bessern Freund hat als mich – daß ich mich als ihr Freund behaupten werde und daß Sie bei Ihrem fernern Vorgehen gegen die Signorina dieses wohl im Auge behalten werden; denn ich würde unter Umständen dereinst Rechenschaft über die nächsten Wochen von Ihnen erbitten. Im übrigen empfehle ich mich jetzt. Man hat auf meinen Wunsch im Ministerium des Auswärtigen ausfindig gemacht, daß eine Verstärkung unseres diplomatischen Apparats zu Konstantinopel durch meine bescheidene Persönlichkeit höchst wünschenswert sein werde. Nach den Erfahrungen der letzten Zeit kann mir nur ein längerer Aufenthalt unter einfachern Menschen und in gesunderen sozialen Verhältnissen einigermaßen wieder auf die Beine helfen – ich reise. Addio, mein Teuerer; wir sind unwiderruflich geschlagen und haben uns, jeder in seiner Weise, mit den Siegern abzufinden.«
Der Graf Basilides Conexionsky hatte niemals ein wahreres Wort gesprochen, und der Edle von Haußenbleib hatte noch niemals so scharf mit seinen Gefühlen abzurechnen als in den traurigen Wochen, welche dieser Unterhaltung folgten. –