Wilhelm Raabe
Der Schüdderump
Wilhelm Raabe

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Viertes Kapitel

Adelaide von Saint-Trouin, welche eine zarte, eine zierliche Antipathie gegen jeden nahen Verkehr mit den untern Klassen der Gesellschaft hatte und aus gewissen Gründen eine unaussprechliche Abneigung gegen die schöne Marie zu hegen berechtigt war, ging nicht mit in das Siechenhaus, hielt auch den jungen Hennig fest an der Hand zurück, sowohl während der Karren abgeladen wurde, wie auch nachdem mit Hülfe einiger gutherziger Männer – nicht Weiber – die Kranke und ihr Kind in die Hütte geschafft worden waren. Der Ritter von Glaubigern, weniger zart organisiert, steuerte nach Kräften den noch immer sich wiederholenden Roheiten des Volks von Krodebeck, und es gelang ihm auch, den jetzt nachkommenden Vorsteher zu bestimmen, sein Ansehen in dieser Richtung walten zu lassen. Es zeigte sich, daß die alte Praktik des Gellertschen Amtmanns noch immer Geltung hatte. Der Dorfgewaltige wußte überzeugend zu sprechen. Vor seinen Ochsen, Eseln und Flegeln zerstreute sich der Haufen, bis auf das Malteserfräulein, welches sich keinen der mannigfachen Ehrentitel zurechnete und mit dem jungen Herrn von Lauen seinen Standpunkt auf der Landstraße behauptete, während der Chevalier jetzt hinter der Tür das alte Weib zu beruhigen suchte, welches, bis zum Zittern bestürzt über die neuen Ankömmlinge, die Hände rang und dumpfe Angsttöne hören ließ.

»Es wäre vielleicht angemessener, wenn wir nach Hause gingen, Hennig«, sagte das Fräulein. »Solche Szenen haben etwas Widerliches und Unschickliches, und diese vor allen kann mir nur peinlich sein. Auch sehe ich eigentlich nicht, welche Moral für dich, mein Kind, in diesem häßlichen Fall liegen könnte.«

»Ich gehe nicht nach Haus ohne den Herrn von Glaubigern«, sagte Hennig fest.

»Mon Dieu, der Chevalier! Ich begreife den Chevalier wirklich nicht. Er weiß doch, daß er hier auch einige Rücksicht auf mich zu nehmen hat.«

»Er wird der kranken Frau Geld geben, und ich will dem kleinen Mädchen meinen neuen Ball geben. Sagen Sie, Frölen Trine, weshalb schrieen und schimpften die Leute so sehr über die kranke Frau und das kleine Mädchen?«

»Hennig«, sprach die Abkömmlingin der Kaiser von Konstantinopel mit Würde und Entrüstung, »Hennig, wie oft habe ich mir schon diese pöbelhafte und zugleich alberne Bezeichnung meiner Persönlichkeit verbeten? Das ist unaussteh– nun, Vorsteher, sind Sie endlich mit Ihrem Arrangement da drinnen fertig?«

»Frölen Trine«, sagte der Vorsteher, sich den Schweiß von der Stirn wischend, »das sind kuriöse Sachen da innenwendig. Wer offiziell nichts drmit zu tun hat, der ist wohl dran, und wenn ich, mit Permission zu sagen, der Herr von Glaubigern wäre, so tät ich was Besseres, als mir darmit zu vermengelieren. Der Herr Ritter sind aber zu gütig, und so habe ich jetzo die Angelegenheit in seine Hände refüsiert, und er muß nun zusehen, wie er die Alte zur Ruhe und die Junge mit ihrer Krabbe in ein angenehmliches Verhältnis zu ihr bringt! 'pfehle mich, Frölen Trine.«

»Er hat auch Frölen Trine gesagt!« schrie Hennig, dem abmarschierenden Schulzen nachdeutend. »Alle im Dorfe sagen es, und ich bin auch aus dem Dorfe, und es ist ganz die Geschichte vom kleinen Töffel, sagt der Herr Ritter!«

Adelaide Klotilde Paula von Saint-Trouin erwiderte nichts. Sie schritt mit dem Crébillon im Pompadour und mit den Händen auf dem Rücken auf und ab vor dem Siechenhause, um das Wiedererscheinen des Chevaliers zu erwarten und von ihm ohne weiteres über den kleinen Töffel und das Verhältnis desselben zu ihr bedingungslosen Aufschluß zu fordern. Hätte sie eine Ahnung davon gehabt, daß der Schulze, im Weitereilen über die Schulter zurückblickend, tief geschichtsphilosophisch bemerkte: »Ein Frauensmensch ist genug, um sämtliche Nationen des Erdbodens in einen Knäuel drum aufzuwickeln!«, so würde sie sich auch zu dieser Unverschämtheit jedenfalls eine Erläuterung ausgebeten haben.

Die verscheuchten Dorfkinder lauschten verstohlen hinter und an den Hecken und suchten auf alle Weise die Aufmerksamkeit des Stammhalters der Herren von Lauen auf sich zu ziehen. Allein Hennig konnte sich jetzt nicht mit den Spielgenossen beschäftigen. All dieser Aufwand von Unruhe, Lärm, Ärger, geheimnisvollem Kopfschütteln und Ohrenkratzen beunruhigte sein junges Herz immer mehr, so daß er endlich in fast atemloser Spannung mit Auge und Ohr an den erblindeten Fenstern des Siechenhauses hing. Er fuhr ordentlich zusammen, als jetzt das eine dieser Fenster aufgerissen wurde und das gelbe traurige Gesicht des Ritters sich vorbeugte nach einem Atemzug frischer Luft.

»Ich bitte, Herr von Glaubigern«, rief das Fräulein, »die Atmosphäre hier ist drückend; – werden wir bald die Ehre haben –?«

»Sogleich, Gnädigste!« erwiderte der Chevalier mit artigstem Gruß und verschwand in demselben Augenblicke von neuem.

»Unausstehlich!« rief das Fräulein und zog den kleinen Hennig fast zornig über den Weg zu dem geöffneten Fenster hin. »Man scheint nicht die mindeste Zeit und Höflichkeit für uns überzuhaben«, murmelte Adelaide, während sie sich niederbückte und während Hennig sich auf den Zehen hob, um feurig neugierig in das Fenster gucken zu können.

»Also hier hängt der Schwarm am Zweig?« rief jetzt aber eine helle, sehr metallreiche Stimme hinter den beiden Lauschern. Mit aufgerichteter Nase, aufgestecktem Schurz und trotz der Hitze mit ungemein elastischem Schritt, welcher am ganzen nördlichen Abhang des Harzes seinesgleichen suchte, kam eine Dame über den Weg vom Dorfe her, der man es schon auf vierzig Schritt ansah, daß sie sich zur Herrin der Situation machen würde. Frau Adelheid von Lauen, die Herrin des Lauenhofes, war vor zehn Minuten auf dem Hofe von einem Ackerwagen niedergestiegen, hatte vernommen, was sich begeben hatte während ihrer Abwesenheit, hatte ihre Haube mit einem Ruck zurechtgeschoben und stand nun vor dem Siechenhause, um auch hier Ordnung zu stiften.

Zuerst bekam Hennig ihre wackere Hand zu kosten; im Vorbeimarsch fuhr sie ihm durch die Haare, zog ihm die Jacke zurecht und gab ihm durch einen wohlgemeinten Klaps zu verstehen, daß seine Erscheinung wie gewöhnlich mancherlei zu wünschen übriglasse. Sodann nahm Fräulein Adelaide einige geflügelte Worte in Empfang.

»Nichts für ungut, Base, aber ich wäre dem Dinge doch etwas näher gegangen und ließe mich jedenfalls nicht unnötig hier in der Sonne braten. Also die Marie ist wieder da? Das hat Sie wohl recht gefreut, Beste? Na, den Tag, an welchem sie kommen würde, konnte ich nicht vorauswissen; aber gewartet hab ich seit Jahren drauf. Jawohl, es ist auch für Sie eine recht nachdenkliche Geschichte, Fräulein Adelaide. Munter!«

Mit dem letzten Wort, welches sie nicht selten sowohl an ihre Reden vor dem Volk wie an ihre Selbstgespräche hing, nahm die Frau Adelheid das Siechenhaus mit Sturm, und zwar mit dem besten Willen, Ordnung, Friede und Sicherheit mit oder gegen den Willen der Leute darin aufzurichten.

Fräulein Adelaide dagegen faßte das Handgelenk des jungen Hennig fester, drehte ihn mit einem ärgerlichen Ruck um und führte ihn zurück auf die Gartenterrasse des Lauenhofes unter den chinesischen Pavillon. Hier angekommen, ließ sie den kleinen Junker nach einem zweiten Ruck frei, sank sodann auf den nächsten Sessel und befand sich bereits im nächsten Augenblicke in der Gesellschaft des jüngeren Crébillon tief in der Mitte des achtzehnten Jahrhunderts mit Peccadillo auf dem Schoße und Mystax in angemessener Entfernung zu ihren Füßen; – ach ja, Frau Gräfin von Baschi, ma vie est une mort continuelle. Je devrois, sans doute, me retirer de la cour: mais je suis foible, et je ne puis ni la souffrir ni la quitter. Es zeugte freilich von einer großen Mäßigung und Duldsamkeit, von einer höchst anerkennenswerten Milde im Charakter des Fräuleins, daß es so großes Elend so sanft ertrug und nicht längst den Hof, nämlich den Lauenhof, verlassen hatte, um in die orientalische Frage einzugreifen und als Prätendentin für den Thron von Byzanz aufzutreten.

Der junge Hennig, dessen Leben noch nicht ein ununterbrochenes Sterben war, vergaß bald die Ereignisse des Nachmittags, den Karren, den Wachtmeister, die kranke Frau mit dem kleinen Mädchen über wichtigeren Angelegenheiten. Die Verwalter ritten von den Feldern heim, und in ihrer Begleitung begann er die gewohnten Inspektionswege durch Kuh- und Pferdeställe. Dann war die Klappermühle im Bach, welche er am Morgen aufgerichtet hatte, im Gange zu halten; der Hühnerhof verlangte sein Recht, und mit der Dämmerung meldete sich das nicht ungerechtfertigte Verlangen nach dem Abendessen. Der Tag war hingegangen, ohne daß er sowohl für das Fräulein von Saint-Trouin wie für den Knaben etwas absonderlich Merkwürdiges mitgebracht hatte. Eiligen Schrittes kam die Gutsfrau vom Siechenhause zurück und stürzte sich von neuem in die gewohnteren Sorgen. Einige Zeit später kam der Chevalier langsam, melancholisch nachdenklich heim, stand einige Minuten wortkarg in dem Getümmel, der Unruhe, die auf dem Lande dem Feierabend voranzugehen pflegen, und schloß sich dann bis zum Klange der Tischglocke in seinem Zimmer ein. Nachdem diese Glocke er- und verklungen war und der sonst so pünktliche Ritter noch immer nicht erschien, stieg Mystax die Treppe hinauf, um ihn zu holen, und kratzte leise an seiner Zimmertür. Ihm gelang es, den Ritter aus seiner trüben Mutlosigkeit emporzuziehen, und unter seiner Führung erschien der Herr von Glaubigern in dem Gartensaale, in welchem der Tisch gedeckt stand.

Es war ein schöner Abend. Die Fenster und Flügeltüren des Saales waren weit geöffnet. Unter ihren hellen Glasglocken flackerten die Lampenflammen nur ganz wenig im kühlern Abendwinde, und vergeblich versuchten die verirrten Nachtschmetterlinge im taumelnden Flug gegen das Licht zu ihrem Verderben zu gelangen. Draußen rauschte und lispelte der Garten, die Frösche ließen sich bald näher, bald ferner vernehmen, und die Leute vom Lauenhofe hatten alle einen guten Appetit – alle, bis auf den Ritter von Glaubigern, welcher durchaus gar keinen Appetit bewies und gegenüber den freundlichsten Ermutigungen der Gutsherrin nur die Hand auf den Magen legte und mit stummem Achselzucken um Entschuldigung bat.

Nach dem Essen kam die Stunde, in welcher die Zeit, vorzüglich nach einem solchen heißen Tage, stillzustehen scheint, die Stunde, in der selbst der gefürchtetste und gehaßteste Anekdotenerzähler es wagen darf, sich noch einmal ungestraft seinem Laster hinzugeben, weil jedermann, geschaukelt zwischen dem Bewußtsein, daß es heute sehr heiß war und jetzt so angenehm kühl sei, manches ruhig hinnimmt, wogegen er sich in muntereren Minuten auf das hartnäckigste wehren würde.

Zwischen Schlafen und Wachen, mit der Stirn auf dem Knie des Chevaliers liegend, vernahm Hennig von Lauen die Geschichte der schönen Marie Häußler, verstand jedoch wenig mehr davon, als daß sie für die meisten Leute sehr traurig und unbehaglich war, aber dem Fräulein Adelaide von Saint-Trouin zu vielen ausgesuchten und treffenden Bemerkungen Anlaß gab.

Plötzlich fühlte er eine Hand in seinen Haaren und vernahm blinzelnd auftaumelnd die Worte der Mutter:

»Der Junge schnarcht doch zu greulich! Marsch zu Bett! Munter!«

Am folgenden Morgen wußte er weder von der Geschichte noch von den Bemerkungen das geringste mehr, und das war in mehrfacher Beziehung recht gut.


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