Wilhelm Raabe
Der Schüdderump
Wilhelm Raabe

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Dreiunddreißigstes Kapitel

Sie reisten ab von Venedig und kamen gesund und wohlbehalten in Wien an; aber es mußten sich doch sowohl auf dem Dampfer wie auf dem von ihnen benutzten Bahnzug einige ausnehmend Gerechte befinden, um die erfreuliche Tatsache zu ermöglichen. In gelassener Heiterkeit kamen beide, der Graf wie der Edle, in Wien an, und da Leute ihres Schlags auf Erden so ziemlich allein das Recht haben, ihr Leben nach ihrem Willen einzurichten und mit den Nachteilen die überwiegendsten Vorteile hieraus zu ziehen, so wäre es sehr undankbar und ein großes Unrecht gegen ihre Götter gewesen, wenn sie nicht in vergnügter Stimmung sich befunden hätten.

Der Edle fuhr natürlich sofort vom Südbahnhof seinen Laren und Penaten zu und überließ den jüngern Freund bis zum nächsten Morgen seiner eigenen Schicksalsgöttin, und da diese stadtkundig genug war, so führte sie ihn recht behaglich sowohl durch den Rest des Tages als auch durch einen bedeutenden Teil der Nacht.

Doch das Behagen des Grafen Basilides kümmert uns augenblicklich weniger als das des Edlen von Haußenbleib, und diesen auf der Heimfahrt durch die muntere Stadt an diesem sonnigen Spätnachmittag zu sehen, war ein Vergnügen für jeden, der dem Manne nichts Böses gönnte.

Sein Lächeln auf der Reise durch die Lombardische Ebene war gar nichts im Vergleich zu dem fröhlichen Glanz seiner Physiognomie auf seiner jetzigen Fahrt durch die heimatlichen Gassen. Nie erschien er so jung, so wohlkonserviert wie heute.

Er hatte den Hut abgenommen und fuhr immer von neuem mit der Rechten über den silbergrauen Scheitel, wie um seine innerliche Freudigkeit niederzureiben. Er hatte mehrere Westenknöpfe springen lassen müssen und sah alle Augenblicke so zärtlich träumerisch nach der Uhr, daß er, wie er zu seinem Schrecken sogleich bemerkte, verschiedene wertvolle Bekanntschaften übersah und vorüberfuhr, ohne tief und lächelnd gegrüßt zu haben.

Diese Versäumnisse kühlten ihn ein wenig ab, er ließ fortan die Uhr stecken, rieb nur mit beiden Händen die Kniee und hauchte vorkostend, aber die Leute zur Rechten und zur Linken scharf im Auge behaltend:

»Ausgezeichnet!... vortrefflich!... angenehm... höchst angenehm!«

Er übersah nun keine Bekanntschaft mehr, und er hatte viele Menschen zu grüßen; aber er nickte auch aus allgemeinem Wohlgefallen an der Menschheit und vorzüglich an der Wiener Menschheit ununterbrochen vor sich hin.

Endlich hielt der Wagen vor dem Hause in der Mariahilfer Hauptstraße. Es entstand eine große Bewegung sowohl unter den dunkelfarbig gekleideten Fräulein unter dem Zeichen der trauernden Hekuba wie in dem Lokale links von der Haustür, allwo die »naschenden Vernichterinnen aufgekeimten Wohlstands«, die rosigen Jungfrauen und Dienerinnen der schönen Helena, die Chignons an den Spiegelscheiben zeigten und den heimkehrenden fröhlichen Greis holdanlächelnd mit Kichern und Kußhändchen begrüßten. Der Edle von Haußenbleib hatte einen wohlwollend-verständnisreichen Blick nicht nur für die schöne Helena, sondern auch für die trauernde Hekuba; aber er hielt sich diesmal nicht bei ihnen auf, sondern stieg eilig die Treppen empor, warf im Vorübertrippeln eine Visitenkarte in den Briefschalter der Nilassidantia und war nach fünf Minuten bei sich selber derartig zu Hause, als ob das Festungsviereck nur ein Traum im Traum für ihn und die Verproviantierung Veronas ein Besuch im Kontor des benachbarten Wechselagenten gewesen sei.

Er hatte von Toinette vernommen, daß Antonie sich ein wenig zum Schlummer niedergelegt habe, hatte lächelnd, mit dem Finger auf den Lippen, tiefes Schweigen geboten und war in seine eigenen Gemächer geschlüpft, wo er behaglich ein halbes Stündchen seiner Toilette widmete, um sodann mit der hübschen Kammerjungfer eine längere und ziemlich ernste Konferenz zu halten. Da er es verstand, unter allen Umständen seine Fragen zu stellen und das Wichtige von dem Unwichtigern zu scheiden, so erhielt er einen ziemlich genauen Bericht über alles, was sich während seiner Abwesenheit zugetragen hatte. Daß er jedoch vollständig dadurch befriedigt worden wäre, können wir leider nicht sagen; denn er entließ die Jungfer mit einem recht mißmutigen Kopfschütteln und schritt noch eine geraume Zeit in seinem Zimmer auf und nieder, ehe er sich so weit gesammelt hatte, um sich mit der gewohnten Zärtlichkeit persönlich nach dem Befinden seiner Enkelin erkundigen zu können.

»Das wäre in der Tat wieder ein Strich durch die Rechnung, und zwar einer ganz nach ihrem Geschmack!« murmelte er verdrießlich. »Sie wäre dazu imstande! Sie wäre imstande, mir aus reinem Eigensinn ein Konto drunten in dem Trauermagazin zu eröffnen. Ach was, die Toinette wird sich ebenfalls zur Närrin haben machen lassen – wahrhaftig, sie war mir viel zu gerührt. Aber das ist Weiberart – da ist nicht einer zu trauen, die hellsten verlieren die Balance, wo irgendeine sentimentale Dummheit ins Spiel kommt. Nun, wir werden ja sehen! Aber eines steht fest, man soll in diesen Dingen nichts zu leicht nehmen: eine solide Notiz an meinen jungen Freund aus Krodebeck zur rechten Zeit würde mir manche Unannehmlichkeiten erspart haben. Jedenfalls werde ich ihm heute noch einige schriftliche Worte zukommen lassen und ihm die Dinge ins rechte Licht rücken.«

Nach einer weitern halben Stunde saß er klar, erfrischt, mit dem gewohnten Gleichmut auf dem Gesichte und im prachtvollsten Schlafrock neben dem Sessel seiner Enkelin, von Teilnahme und Zärtlichkeit überquellend: er hatte die Sache nicht so bedenklich gefunden, wie er sie sich einige Augenblicke lang nach dem Bericht Toinettes vorgestellt hatte.

Antonie war freilich nicht so wohl, als man es hätte wünschen mögen; allein einen Grund zu irgendwelcher tiefer greifenden Besorgnis fand der Edle durchaus nicht vorliegend. Er fand sie ein wenig fieberisch, ein wenig unruhig, allein beides doch nicht mehr als bei seiner Abreise vor vier Monaten, und damals hatten ihn die Ärzte gebeten, sich keine unnötigen Sorgen um die junge Dame zu machen, welchen Bitten er gern nachgegeben hatte.

»Ich hatte recht, mich vorhin nicht durch die Kammerkatzenzimpereien beunruhigen zu lassen«, dachte er. »Und übrigens, glaube ich, würde die Tonerl, um mich zu ärgern – vorzüglich bei einem solchen Nachhausekommen zu ärgern, alles tun; und ich halte es für gar nicht so schwer, die Sterbende zu spielen; eine wahnsinnige Ophelia oder einen blödsinnigen König Lear könnte auch ich agieren, ohne daß man mich auslachte.«

In diese irenischen Anschauungen sich immer mehr und immer beruhigter vertiefend, brauchte der Edle natürlich seinem großväterlichen Herzen keinen Zwang mehr anzutun. Nachdem ihn das liebe, teuere Kind, die gute, beste Antonie mit allen ihren Zuständen hatte bekannt machen müssen, konnte er, ohne als ein Barbar zu erscheinen, harmlos, offen und herzlich sie auch über alle Umstände seines eigenen Befindens und alles das, was er zur Erhaltung desselben für zweckmäßig erachtet hatte und erachtete, vertraulich unterhalten, und Antonie Häußler legte darum nur von Zeit zu Zeit öfters die Hand auf die Stirn, zog sich nur ein wenig tiefer in ihre Kissen zurück und atmete nur um ein klein wenig schneller und angstvoller.

Es war eigentlich rührend, den alten Sanguiniker in seinen herzinnigen Auseinandersetzungen und eifrigen Gestikulationen zu hören und zu sehen. Es war ihm Ernst um das, was er noch für seinen Komfort, für sein Glück in seinem Leben zu tun und durchzusetzen beabsichtigte, und der Ernst – wohin er sich auch richten mag – ist immerdar eine interessante, nachdenkliche Erscheinung in einer Welt, wo der Ernst fast immer nur von außen an die Menschen herandringt, wo die Million dahingetrieben wird und der Wind in der Tat das Wahre und das Blatt im Winde wirklich nichts ist.

Daß der Graf Basilides Conexionsky augenblicklich so unzertrennlich mit dem Komfort und dem Glück des Edlen Dietrich Häußler von Haußenbleib verbunden war, war freilich recht traurig für Antonie Häußler, aber ändern ließ sich nichts daran. Der Edle hoffte auch fest, daß das Kind solches einsehe und endlich einmal Vernunft annehme und endlich einmal ihrem alten, wohlmeinenden Großvater in einem Wunsche freudig und offen entgegenkomme und endlich einmal einsehe, daß derjenige, welcher in der Komödie des Lebens mitzuspielen wünsche, auch das passende Kostüm anzulegen und die nötige Schminke anzuwenden habe.

»Wir spielen alle trotz dem hellsten Sonnenschein in einer künstlichen Beleuchtung, und du änderst nichts daran, Tonerl!« seufzte der Edle mit gefalteten Händen. »Und welche Kostüme, welche Kostüme habe ich dir zu bieten?! Denke an deinen Weg und sei dankbar. Du, du, du willst allein in der Loge sitzen, während alle andern, ich sage alle andern, auf der Bühne beschäftigt sind? Erinnere dich an das Fuhrwerk, auf welchem du vor dem Siechenhause zu Krodebeck anlangtest, und sieh dich heute um, blicke um dich und überlege! Und wenn ich es auch zugeben wollte, daß du im Parterre dich über unsere Sprünge auf den Brettern mokiertest, die andern würden es nicht leiden – du bist verloren wie eine Herrnhuterin in einer Karnevalsnacht. O Tonerl, Tonerl, es ist nichts schlimmer, als allein zu sein in der Welt, und du bist allein... aber zum Henker, du bist zugleich nicht allein, denn du bist mein Eigentum, hörst du, mein volles, eigenstes Eigentum, und ich dulde es nicht, daß du noch länger eine Närrin aus dir machst! Also bitte ich dich – auf den Knieen bitte ich dich, sei lieb und sei verständig – und kurz und gut, ich hoffe, daß du morgen dem armen Basil in einer andern Weise entgegentreten wirst, als dir bis dato zu meinem größten Kummer und Ärgernis beliebte. Ach, wenn du wüßtest, was alles zwischen eurem letzten Zusammentreffen und dem heutigen Tage liegt, so würdest du sicherlich nicht zögern – zögern, den günstigen Moment festzuhalten! Und – und wenn du ahntest, welch eine edle, edle Seele du hier – auf deine Weise – dem Verderben entreißen kannst, du würdest dich noch viel weniger bedenken, sondern wie ein gutes, liebes Mädchen, das du doch trotz allem bist, herzhaft zugreifen.« –

»Allein und hülflos«, sagte Antonie leise. »Ja, ich bin allein; es wird mir niemand helfen.«

»Und dein Jugendfreund am wenigsten!« fiel der Edle rasch ein. »Sieh, Kind, das würde ich ja nur allzugern zugeben, daß du den Jüngling dir und uns gewönnest. Dazu gäbe ich heute noch meinen Segen. Ich kenne dein Herz durch und durch, und du wirst mich verstehen, wenn ich dir mein Ehrenwort gebe, daß ich den Grafen Basil auf der Stelle zum Verzicht auf seine schönsten, innigsten Wünsche zu bringen wissen werde, wenn du mir dagegen deinerseits die Überzeugung liefern kannst, daß nach jener Seite hin alles gewonnen ist.«

»Nein, nein, nein, das will ich nicht, das kann ich nicht!« rief Tonie Häußler mit einem solchen Ausdruck des Schreckens, des Jammers und der Verzweiflung, daß der Edle trotz seiner Befriedigung ein wenig ängstlich seinen Stuhl zurückschob. »Er soll dein Haus nicht mehr betreten; er ist mir nichts – er kann mir nie etwas sein. Ich habe selbst ihm deine Tür verschlossen; aber ich habe doch keine Macht gegen ihn. O es soll alles so werden, wie du es verlangst; nur verbiete du ihm dein Haus – auf den Knieen bitte auch ich dich darum!«

»Mein armes Kind!« sprach der Edle, mitleidig das graue Haupt schüttelnd. Er sprach weiter nichts; aber er hielt einen Augenblick das Taschentuch vor die Augen, zog es wieder herab, küßte die Enkelin auf die Stirn und verließ langsam mit einem tiefen, tiefen Seufzer das Zimmer. Vor der Tür schlug er ein Schnippchen, schob das Taschentuch in die Tasche, faßte das Kammermädchen am Kinn und sagte mit einem mehr als patriarchalischen Lächeln:

»Du albernes Gänschen!«

Darauf zog er sich von neuem in seine Gemächer zurück und überlegte.

»Was tue ich nun? – Wenn ich jetzt meinen eigenen Herzensbedürfnissen folgen wollte, so müßte ich dem Junker vom Lauenhofe nunmehr mit einem höflichen Gruß meine Ankunft melden und mich ihm mit allem, was mein ist, zu unbedingter Verfügung stellen. Ich könnte nicht herzlich genug gegen ihn sein; ich könnte ihn nicht dringend genug von neuem auffordern, mein Haus als das seinige zu betrachten. Nein, nein, das wäre doch zu grausam, und auch aus Rücksicht auf den armen Basil wollen wir lieber diesen zartesten Saiten unseres Gemütes einen Drücker auflegen. Ja, ich werde nur höflich gegen den Tropf sein; es ist doch, alles in allem genommen, das einfachste und deshalb das beste.«

Er setzte sich an den Schreibtisch und schrieb ohne viel weiteres Nachsinnen ein Billett an den »jungen nordischen Freund«, in welchem er demselben seine Heimkunft in Begleitung des Verlobten seiner Enkelin, des Grafen Basilides Conexionsky, ganz gehorsamst meldete und sich freute, die beiden Herren in den nächsten Tagen miteinander bekannt machen zu können. Dazu hoffte er, daß sich ein recht inniges Verhältnis zwischen den beiden Kavalieren herstellen werde, um dadurch ältere und neuere werte Bezüge für ihn – den Briefschreiber – in anmutigster Weise zu verknüpfen. Natürlich setzte er voraus, daß der Herr Hennig sich noch einige Zeit wenigstens in Wien aufhalten werde, damit auch er, Dietrich Häußler, imstande sei, wenn auch nur einen kleinen Teil der leider versäumten Gelegenheit nachzuholen und dem verehrten Gast nach seinen schwachen Kräften die Honneurs der Stadt an der blauen Donau zu machen.

Damit schloß er und schickte noch am selbigen Abend einen Diener mit dem Billett in die Taborstraße; und dann – dann gab es kein leichteres, wohligeres Herz in ganz Ahaliba als das Dietrich Häußlers Edlen von Haußenbleib. – –

Es sind schon manche junge Leute ausgezogen wie Saul, der Sohn Kis', um ihres Vaters Eselinnen zu suchen, und haben statt derselben ein Königreich gefunden. Allein bei weitem die meisten dieser Günstlinge der Götter erkannten im gegebenen Fall den Wert dessen, was ihnen in die Hände fiel, durchaus nicht; oder wenn ihnen vielleicht eine dumpfe Ahnung darüber aufging, so wußten sie sicherlich nichts damit anzufangen. In dieser, gerade nicht sehr ehrenvollen Lage befand sich der Sohn der klugen Frau Adelheid, der Zögling des Ritters von Glaubigern und des Fräuleins Adelaide von Saint-Trouin – der Junker Hennig von Lauen. Es gehört immerhin ein fein organisiertes Geflecht der Nerven dazu, um die wirklichen Königreiche dieser Welt von den nachgemachten, den unechten, den scheinbaren zu unterscheiden, und der gute Junker war von der Natur, wie wir wissen, viel zu sehr begünstigt, um jemals durch seine Nerven veranlaßt zu werden, eine wirkliche Krone, die doch immer nur eine Dornenkrone sein kann, vor seinen Füßen vom Boden aufzuheben.

Hennig von Lauen fühlte sich schon seit einiger Zeit recht unbehaglich, recht unglücklich in Wien und kam sich noch dazu vollständig überflüssig daselbst vor. Seit jenem Morgen, welcher auf den Tag folgte, den er so heiter in der Gesellschaft der schönen Freiin Zoe auf ihrer Hietzinger Villa verbrachte, hatte das Leben in der heitern Stadt vieles von seinen Reizen für ihn verloren. Ohne irgendeinen Halt in sich oder in den Dingen außer ihm zu finden, trieb er sich verwirrt und melancholisch umher, und um gerecht zu sein, müssen wir sagen, daß ihm solches eigentlich nicht gerade übelzunehmen war; denn er befand sich wirklich in einer bedenklichen, einer betrübten Lage.

Er war dem nobelsten Antrieb seines braven Herzens an jenem Morgen nach dem Fest gefolgt, und die Tonie hatte ihm dafür die Tür vor der Nase schließen wollen. Dieses hatte er sich freilich nicht gefallen lassen, allein die letzte Harmlosigkeit im Verkehr mit der Jugendfreundin war nun gänzlich verlorengegangen, und er war ganz wohl imstande, das zu empfinden und sich recht darüber zu grämen.

Nun war er selten für seine besten Freunde, und er hatte deren von allen Arten, zu Hause. Einsam trieb er sich in der schönen Umgebung der Stadt umher und suchte durch körperliche Anstrengungen die geistige Unruhe, die ihn hier festbannte und ihm doch den Ort über alles in der Welt verleidete, niederzudrücken; und von einem Ausflug nach Baden zurückkehrend, fand er das Briefchen des Edlen von Haußenbleib auf seinem Nachttische.

Der Kellner, welcher ihm voranleuchtete und die Lichter anzündete, machte ihn auf es aufmerksam, und der Junker betrachtete die Adresse, wie man jede unbekannte Handschrift auf einem Briefe betrachtet, ehe man ihn öffnet. Er bekam bereits viele schriftliche Notizen in Wien, und so konnte er, nachdem der Kellner sich verabschiedet hatte, ziemlich gleichgültig das Miniatursiegel erbrechen.

Diesmal umnebelte ihm kein leichterer oder schwererer Rausch, nicht einmal der Nachhall eines Rausches, Stirn und Augen; aber dessenungeachtet bedurfte er mehrerer Minuten, ehe er die Meinung seines jetzigen Korrespondenten faßte und würdigte. Dann würdigte er sie aber auch gleich darauf um so mehr!

Er stieß einen Fluch hervor und trat vor seinem eigenen verstörten Bilde in dem Spiegel vor ihm zurück. Unwillkürlich griff er nach dem Glockenzug, als müsse er das ganze Haus im Sturm zu seiner Hülfe zusammenläuten. Glücklicherweise zog er jedoch die Hand zurück; denn der National-Gasthof würde doch wohl keinen Rat und Trost für ihn gehabt haben.

Nun überlas er das Billett zum zweitenmal, knitterte es wütend zusammen und warf es gegen die Wand. Was sollte er tun? Was konnte er tun? Er rannte umher im Gemach und fiel auf einen Stuhl und suchte wenigstens einen Teil seiner Fassung wiederzugewinnen. Er zog den Stuhl an den Tisch, stützte den Kopf auf beide Hände, und – da saß er denn.

Was sollte, was konnte er tun für sie?

Hatte er ihr nicht seine Hand angeboten? Hatte er sie nicht retten wollen? Hatte er sie nicht fortführen wollen aus diesem wüsten Getriebe – zurück in die Heimat, in das vergessene Fleckchen am Fuße der Harzberge?

Sie hatte ja das schöne Haupt geschüttelt, und zähneknirschend gestand er sich selbst in dieser schweren Stunde als ein ehrlicher Gesell, daß er ihr am folgenden Tage gewissermaßen dankbar dafür gewesen sei und daß schon im ersten Augenblick ein leiser Hauch der Befriedigung über ihre Weigerung durch seine Seele gegangen sei.

Aber nun rüttelte das Schicksal des armen Geschöpfes, mit dem er doch nur alle Holdseligkeit des Lebens daheim verknüpft hatte, um so schrecklicher an ihm. Am liebsten wäre er mit Gewalt in das Haus in der Vorstadt Mariahilf eingebrochen; am liebsten hätte er als ein anderer Karl von Eichenhorst die Tonie auf dem Sattelknopf entführt, trotzdem daß sie nicht wollte; – bei allen Teufeln, es war zu niederträchtig!

Und in dieser Nacht und während der Junker mit halbblinden Augen den Brief schrieb, welchen der Ritter von Glaubigern, das Fräulein von Saint-Trouin und Jane Warwolf in dem chinesischen Pavillon zu Krodebeck zusammen lasen, – lag Tonie Häußler still in ihrem Bettchen, still und regungslos, und fürchtete sich nicht.

Es war zu traurig.


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