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Einundzwanzigstes Kapitel

 

1

Der Unterschied zwischen den Menschen beruht nicht so sehr auf der Verschiedenheit ihrer Gaben als auf der verschiedenen Art, sich dieser Gaben zu bedienen, und hierin war Roddie den meisten voraus. Neben einem natürlichen Draufgängertum war er reich mit der Nettigkeit und der – Rücksichtslosigkeit ausgestattet, die im Verein mit Beziehungen die sichre Grundlage für ein Weiterkommen im Leben bilden.

Und obwohl sein Kopf bei weitem nicht so gut war als der Bau seiner Muskeln und Sehnen, ersetzte er diesen Mangel durch Energie. Im Laufe von verhältnismäßig kurzer Zeit hatte er eine ziemliche Anzahl von Möglichkeiten aufgespürt, näher untersucht und ihnen zum Teil durch die Polizei nachgehen lassen – diese Polizei, die über das Landsknechtmäßige hinaus weder genügend Ausbildung noch Erfahrung besaß, und für deren Schwächen er einen scharfen Blick hatte, weil diese Leute in seinen Augen Feinde und Verräter der Republik waren. Er war fest davon überzeugt, daß er ihnen den Täter eines Tages würde übergeben können, und dann wollte er wieder verschwinden und sich verachtungsvoll ihrem Neid und ihrer Dankbarkeit entziehen. Seine einzige Sorge war, es könnte ihm jemand zuvorkommen, und der Nebenbuhler, den er da am meisten fürchtete, war Kitty.

Durch ein beinah geniales Rechenkunststück hatte er glücklich herausgekriegt, daß Barney einmal einem Versicherungsagenten, den die unsicheren Zeiten um sein Brot gebracht hatten, mit einem Geldbetrag beigesprungen war, und daß es deswegen eine Auseinandersetzung zwischen ihnen gegeben hatte. Dieser Mann wurde daraufhin in Fellwies verhaftet und in die Kreisstadt gebracht, vermochte aber sein Alibi nachzuweisen. Auch der Saxophonspieler, der sich überhaupt nicht erinnern konnte, je etwas mit Barney gehabt zu haben, mußte wieder entlassen werden. Der Mann, der die Schweine mit Blut gefüttert hatte, saß zwar noch im Gefängnis, aber nur aus einem ziemlich belanglosen Grunde – er hatte in entlegeneren Teilen des Amtes eine unerlaubte Sammlung für das Begräbnis der Frau eines andern Mannes veranstaltet. Auch mit seinen Kameraden unter den Irregulären trat Roddie in Verbindung. Sie lagen zu der Zeit in Glengowla, aber nichts deutete darauf hin, daß sie irgend etwas mit der Sache zu tun hätten.

Dies alles entmutigte Roddie keineswegs. Man könnte eher sagen, daß das Gegenteil der Fall war. Wenn das seine private Theorie auch nicht grade stützte, so räumte es doch alles ferner Liegende aus dem Wege. Jene Theorie aber kostete ihn ziemlich viel Geld, das an der Schenke von Murphys Wirtshaus droben in Rotkreuz ausgegeben wurde.

So setzte sich ganz allmählich die Überzeugung in seinem Kopfe fest, es müsse doch ein brauchbarer Zeuge aufzutreiben sein; und da er ein Sonntagskind war, half ihm das Glück.

 

2

Eine Zeitlang war es seine Absicht gewesen, den Betrag von tausend Schillingen aufzubringen und ihn als Belohnung für den auszusetzen, der wichtige Aufschlüsse in der Sache liefern könnte. Wenn er dies wieder aufgab, geschah es, weil er durch einen Zufall entdeckte, daß er das billiger haben konnte.

Darauf kam er durch einen Besuch bei Bombays Wirt, dem ersten Bäckergesellen Hoban, den er aufgesucht hatte, um womöglich den indischen Soldaten zu treffen. Das gelang ihm allerdings nicht, aber er traf dort den Zigeunerjungen Larry und damit den Nagel auf den Kopf.

Es dauerte allerdings ein Weilchen, bis er damit in Gang kam; denn Hoban war grade in diesen Tagen sehr mit seinen eigenen Angelegenheiten beschäftigt und erwartete, daß auch andre Leute das sein mußten – ihm war nämlich seine Frau durchgebrannt!

Nun hatte das an und für sich nichts Überraschendes für einen, der die ehelichen Verhältnisse der Hobans jahrelang verfolgt hatte. Seit Menschengedenken hatte dieser Zustand Hoban veranlaßt, nicht mehr als die allernötigste Zeit daheim zu verbringen. So hatte er mit den Jahren das Kunststück gelernt, immer eine gute halbe Stunde hinter einem Schoppen Bier zu sitzen, damit er seine Frau erst kurz vor dem Zubettgehen zu sehen brauchte. Im übrigen war seine Auffassung von der Ehe im Prinzip keineswegs originell. Er schaute sie an wie ein Paar Handschellen, die man ebensogut später wie früher anlegen könnte, und bei denen man sich am besten den höchstmöglichen Grad von Bewegungsfreiheit sicherte. Er hatte nie auf seine Frau geschimpft, ja sich nicht einmal mit ihr gezankt. Sie hatte sich schließlich nicht selber gemacht! Obwohl er aber stets gleichmäßig freundlich zu ihr gewesen war, lebte das unerklärliche Gefühl in ihm, daß er sie eines Tages totschlagen würde. Auf diese Weise schlug er sie jeden Tag ein bißchen tot und – wußte, daß er das tat, ohne daß ihm das weiter naheging. So brannte sie ihm denn schließlich durch und ging mutterseelenallein davon. Er aber war fest überzeugt, daß sie nicht wiederkommen würde, und setzte sich darum sofort mit einer älteren Witwe wegen Versorgung seines Hauswesens ins Benehmen.

Und nun saß er Roddie gegenüber und jammerte über sein Unglück und seine Vereinsamung – grade Roddie mußte er das erzählen, dessen seelisches Gleichgewicht davon abhing, daß er schlechte Witze machen konnte.

Um dem Gejammer ein Ende zu setzen, lud Roddie Hoban zu einem Glas Bier in Onkel Toms Hütte ein, und das wurde angenommen. Als sie am Bestimmungsort eintrafen, fanden sie dort nicht nur den Schenkkellner, der grade Whiskyflaschen etikettierte, sondern als Zugabe auch Bombay, der sich auf seinem Samstagsausflug befand.

 

2

«Das mußt du erst beweisen!» sagte Bombay.

«Dabei bin ich ja grade!» entgegnete Roddie.

«Du wirst es nie beweisen können!» erklärte Bombay aus voller Überzeugung.

«Wie kannst du das so bestimmt sagen? Und wie hast du es überhaupt fertiggebracht, daß du während der Untersuchung kein einziges Mal verhaftet worden bist?»

«Vielleicht war es unmöglich, einen hinreichenden Grund für meine Täterschaft zu entdecken!» Die Sache schien Bombay zu ermüden.

Roddie aber pfiff bedeutungsvoll und warf hin: «Wenn's drauf ankommt, kann man fast immer ein Motiv finden!»

«Kannst du mir auch nur eins nennen? Nur eins!» bestürmte ihn der ehemalige Soldat und hatte plötzlich für einen Augenblick den gellenden Ton eines zeterndes Weibes.

«Ein Hund in der Küche möchte auch keine Gesellschaft!» sagte Roddie bedeutsam.

«Trottel!» entgegnete Bombay kurz und kehrte ihm den Rücken. Unmittelbar darauf wendete er sich wieder um und sagte: «Barney hatte so viele Feinde, daß ich nicht einsehe, warum es ein Freund getan haben soll. Habt ihr untersucht, wo Dan O'Brien an dem Abend war? – Er hat Barney doch laut und deutlich mit Erschießen gedroht.»

«Warum denn, wenn ich fragen darf?»

«Du bist ein findiger Detektiv! – Kurz nachdem Dan den Hof des Hauptmanns Tarleton gekauft hatte, wurden eines Nachts die Zauntüren zerbrochen und ein Plakat angeschlagen, auf dem es ungefähr hieß, daß dieser Abteihof den Besitzlosen auszuliefern sei. Und unterschrieben war das: ‹ Die Söhne des Volkes!› Dan O'Brien hatte nicht den geringsten Zweifel, daß dahinter Barney steckte. Deshalb schwor er, ihn bei der nächsten Gelegenheit über den Haufen zu knallen …»

«Zu der Zeit war ich nicht daheim!» entschuldigte sich Roddie. «Aber das werden wir schon untersuchen und uns den Burschen herausfangen!»

«Und wenn das fehlschlägt, setzen wir ein Douceur für den aus, der uns auf die Spur bringt!» sagte er etwas später im Lauf des Gesprächs.

«Wieviel?» fragte Bombay.

«Tausend Schillinge!» hätte Roddie beinah gesagt, aber er besann sich noch beizeiten und sagte: «Zweihundert.»

«Für zweihundert wirst du dir nicht viel Mörder kaufen!» meinte Bombay.

«Na ja, darüber läßt sich immer noch reden!» entgegnete Roddie.

«In Anbetracht dessen, daß du keine fünfzig hast, könntest du grade so gut tausend bieten!» sagte Bombay boshaft.

«Wir haben schon Geld in der Hinterhand!» behauptete Roddie unerschütterlich.

«Hm! Und ich hab gedacht, du hast weiter nichts in der Hinterhand als die Ischias, die du dir angeblich droben in den Bergen geholt hast.»

«Schafskopf!» sagte Roddie und schlug die Tür hinter sich zu.

 

4

Hatte Barney Feinde, so hatte er andrerseits auch Freunde gehabt, und zu denen, die sicher ihr Möglichstes tun würden, um ihn zu rächen, gehörten die Bauernsöhne ohne Land, von denen er immer und immer wieder gesagt hatte, ihr größtes Unglück bestünde nicht darin, daß sie mit Wegbauarbeiten beschäftigt würden, sondern darin, daß sie in Viererreihen in die Armenhäuser hineinmarschieren müßten.

Zu den Feinden Barneys aber hatte der Zigeunerjunge Larry gehört, und es klang durchaus nicht unwahrscheinlich, als er Roddie auf dessen Frage, warum er nicht früher gekommen sei, bloß anfauchte. Dieser Laut drückte es deutlich aus, daß für ihn nicht der geringste Grund bestand, aus einem so gleichgültigen Todesfall viel Wesens zu machen.

Auf eine Bemerkung Bombays hin, daß eine Belohnung ausgesetzt werden sollte, hatte sich Larry aber sehr rasch in Bewegung gesetzt und ging gleich bei seinem ersten Besuch in Roddies Stube aufs Ganze: «Was wollt ihr denn zahlen?»

«Was weißt du denn überhaupt, Kleiner?» fragte Roddie mißtrauisch.

«Was wollt ihr denn zahlen?» wiederholte der Junge.

«Warum bist du nicht früher gekommen?» entgegnete Roddie.

Schweigen.

«Du kommst mir etwas verdächtig vor. – Warum bist du nicht früher gekommen?» bestand Roddie auf seiner Frage.

Schweigen.

«Raus mit der Sprache! – Über das Geschäftliche reden wir später! – Irgendeinen Grund mußt du doch haben!»

Schweigen.

Ein langes Schweigen, das schließlich von dem mürrischen Gemurmel des Jungen unterbrochen wurde: «Sie wollen mich in die Zwangserziehung stecken!»

«Na, du bist ja auch durchs Dach in die Apotheke gefallen – jawohl! Aber ist denn jetzt nicht wieder was andres beschlossen worden?»

Neues Schweigen, wobei Roddie plötzlich ein Licht aufging. Er pfiff leise. «Aha! Du wolltest dir bloß Geld sichern, um vergnügter durchbrennen zu können? Liegt die Sache so?»

Sie lag so.

«Wieviel?» fragte der Junge geschäftsmäßig.

«Fünfzig!» antwortete Roddie, ebenso geschäftsmäßig.

Der Junge wendete sich zum Gehen; er war nicht gekommen, um sich so was Schofles anbieten zu lassen.

«Hundert!» sagte Roddie, der sich eingestehen mußte, daß er zu weit heruntergegangen war.

Der Junge stand schon wieder im Begriff, die Stube zu verlassen, und sein Gesicht hatte einen aus Gekränktheit und Verachtung gemischten Ausdruck.

«Hundertfünfundzwanzig!»

«Fünfhundert!» sagte Larry.

Sie einigten sich auf dreihundert.

«Und was willst du damit machen?»

«Frag ich dich, was du mit deinem Geld machst?»

«Na, es wird doch wohl kein Geheimnis sein?»

«Einen Wohnwagen für Vater!»

«Bist ein guter Junge!» sagte Roddie. «Willst du das gleiche vor der Polizei wiederholen? – Dann soll sie von dem Geld nichts erfahren.»

«Selbstverständlich! Sonst hätte das Ganze ja keinen Zweck!» entgegnete Larry logisch.

Und so kam denn die Geschichte vor die Polizei.

«Du bist damals mit Bombay hinaufgegangen? – So! Na, da haben wir ja jetzt was mit Herrn Bombay zu reden. – Ich hab mir doch so was gedacht!» Es war der Hauptmann, der das sagte, und er schien sehr aufgebracht.

Larry aber hob eine schmutzige Hand zum Protest: «Er wußte doch nicht, daß ich hinter ihm war …»

«Dann muß er ja vor dir gewesen sein und es auch gesehen haben!»

«Nein, ich bin vorgelaufen, als ich den Schuß hörte …»

«Schleichst du dich immer so um die Leute herum?»

Kurzes Schweigen.

«Du behauptest also, daß du Maggie Phelan mit der Büchse in die Stube hast kommen sehen, und daß sie sie an ihren Platz hängte?»

Larry nickte.

«Ich glaub, du lügst … Und was hast du dann getan?»

Der Junge beschwor auf das heftigste, daß er nicht lüge. «Dann bin ich auf einen Baum geklettert, von dem man in die Stube sehen kann …»

Pause.

«Hast du das früher auch schon getan?»

Larry sagte Ja, verriet aber nicht, wie oft und mit wieviel Geduld er das getan hatte.

«Ich meine, wir nehmen dich doch am besten mit auf die Wache und heben dich zwecks späterer Verwendung auf!» sagte der Hauptmann.

Aber diesmal war es Roddie, der abwehrend den Arm hob: «Auf die Art kriegen Sie nichts mehr aus ihm heraus!»

 

5

«Halten Sie es für möglich, daß Ihnen der Junge unbemerkt gefolgt ist?» fragte der Hauptmann Bombay.

Bombay dachte nach und zuckte die Achseln. «Er ist wie ein Hund – er folgt einem auf dem Fuße, wenn er Lust hat, ja, er ist genau wie ein Hund …»

«Können Sie sich denken, daß er einen Grund hatte, sich an der alten Frau da oben in Rotkreuz zu rächen?»

«Sicher nicht!» entgegnete Bombay, obwohl ihm etwas von einer solchen Möglichkeit schwante.

«Was hätte sie denn veranlassen können, ihren Neffen zu erschießen?»

«Ich versteh das nicht!» entgegnete Bombay, wobei ihm einfiel, daß Roddie ganz vor kurzem erst darauf angespielt hatte, er, Bombay, wäre im kritischen Augenblick in der Nähe des Tatortes gewesen, und so fuhr er fort: «Barney wollte ja in diesen Tagen heiraten, und da … Das hat sie manchmal etwas bitter gemacht.»

«Heikle Sache!» bemerkte der Offizier. «Verstellt sie sich nur, oder ist sie wirklich die einfältige Bäuerin, für die ich sie gehalten hab? Na, wir werden dem schon auf den Grund kommen – obwohl der Fall ziemlich ungewöhnlich ist.»

Bombay widersprach ihm nicht. Es war ihm nicht besonders wohl zumute, und er hätte gern für den ganzen nächsten Monat auf jeden Portergenuß verzichtet, wenn er sich auf diese Art davon hätte loskaufen können.

«Sie müssen dafür sorgen, daß Sie jederzeit zu erreichen sind!» sagte der Offizier zu ihm, bevor er ihn entließ.

 

6

Als sich das Gerücht von Maggies Verhaftung verbreitete und die Wallfahrt nach Rotkreuz begann, wurden die Dörfler trotz dem hochgespannten Gefühl, Mittelpunkt einer Sensation zu sein, von Scham ergriffen, und viele fingen an, die alte Frau zu entschuldigen, die nie einem was zuleide getan hatte. Maggie wurde buchstäblich im Hemd verhaftet und starrte verwirrt auf die vielen Uniformen, die wieder einmal die friedlichen Räume füllten. Eine Nachbarin bot ihren Beistand an, als Maggie angekleidet werden sollte. Sie aber winkte abwehrend mit der Hand. Sie konnte das selber, so alt sie auch war.

Der einzige, von dem sie Abschied nahm, war Patty. Er faßte ihre beiden Hände und hielt sie ein paar Augenblicke fest.

«Jetzt mußt du etwas auf den Hof schauen, bis ich wiederkomm!» sagte sie mit ihrer harten Stimme. «Und sieh zu, daß die Schweine Blut kriegen. Das tut ihnen gut, da gibt's keinen Zweifel!» Dann wollte sie Nelly, den alten Esel, noch einmal sehen. «Gib ihm gekochte Kartoffeln!» bat sie. «Er kann nicht mehr richtig beißen.» Zuletzt drehte sie sich rasch zu Patty um und fragte scharf: «Du glaubst also noch an mich?»

«Ich glaub an dich!» sagte Patty.

Der Menge, die sich draußen angesammelt hatte, warf sie einen Blick des Hasses zu.


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