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Viertes Kapitel

 

1

Die Hecken um Löwenmähnes Land sind fast undurchdringlich, denn sie bestehen hauptsächlich aus Ginster, der wunderschön aussehen kann, wenn er um Neujahr blüht, der aber mit Dornen bewehrt ist. Die Büsche – oder besser der Busch, denn sie bilden eine zusammenhängende Masse – stehen auf dem Rücken von mannshohen Wällen und schicken ihre Wurzeln tief in diese hinunter. Doch neben diesen Wurzeln müssen die Wälle auch für die Kaninchen Platz haben, deren es hier viele gibt, zuzeiten aber auch für die Frettchen, die in die Löcher schliefen, um die Langohren herauszujagen.

Nun lag da in einer weit vom Hause liegenden Wallecke, tief im Bau versteckt, ein junger Karnickelbock und kaute gemächlich. Er konnte das bequem, weil sich an dieser Stelle mehrere Gänge kreuzten und er also reichlich Platz hatte. Manchmal hielt er inne, um auf die Laute zu horchen, die sich von allen Seiten her weit durch die Erde fortpflanzten; wenn dann die Geräusche verstummten, wendete er wieder den Kopf, zog sich ein Büschel aus dem ins Freie führenden Gang und begann von neuem zu kauen, wie sich's gehört.

Plötzlich aber fing er zu zittern an, denn er vernahm ein gefährlich klingendes Schnaufen und witterte einen Geruch, der ihm nicht gefiel. Vom Hörensagen wußte er, daß nun gleich ein aalglattes, schmutzig-weißes Tier mit roten Augen und kurzen Beinen hereinfahren würde. Draußen aber standen bestimmt mindestens zwei große Hunde und zwei oder mehr Menschen auf der Lauer und hatten, bevor sie das kleine weißgelbe Tier in den Gang hineinließen, möglichst viele Ausgänge durch Netze versperrt; entginge aber Langohr noch glücklich diesen Netzen, dann würden die Hunde hinter ihm drein sein und ihn beißen.

Dies ist eine flüchtige Umrißzeichnung der sogenannten Frettchenjagd, über die unser junger Karnickelbock gut unterrichtet war. Zwei Minuten später lag er denn auch mit zerschmettertem Schädel in einem Sack auf neun andern toten Kaninchen, während das Frettchen zu einem Kameraden in einen zweiten Sack gesteckt wurde.

«Wollen wir noch mehr?» fragte Barney, der eine sehr helle Azetylen-Blendlaterne in der Hand hielt.

Roddie sah auf die Uhr und gähnte. «Sehn wir lieber zu, daß wir heimkommen und noch eine Tasse Tee kriegen, bevor wir zu Bett gehn! Wir müssen morgen früh raus, wenn wir noch zu anständiger Zeit fortkommen wollen.»

«Also los!» sagte Barney und pfiff den Hunden.

 

2

Als sie am nächsten Morgen den gastlichen Hof Brückenmühle verließen, war das Wetter fast sommerlich. Die blauen Wolken, die sanft geschwungenen Höhen und die mit Schafen besprenkelten Wiesen – das alles hätte ebensogut England sein können; trotzdem hätten die beiden beim Anblick der gleichen Landschaft in England nicht das gleiche Gefühl gehabt. Namentlich Barney nicht. Er war in einem leicht erregten Dauerzustand von patriotischer Begeisterung, und wenn er hinging, um dem alten Pony zum Abschied die Stirne zu krauen, geschah das nur, weil er fühlte: dies war ein irisches Pony. Es stand da und rieb sich das Hinterteil an einer Zauntür, und eines seiner Knie war unförmlich geschwollen; dies alles zusammen drückte ihm einen Stempel des Persönlichen auf, so daß es einem als etwas Einmaliges im Gedächtnis haftete.

Die beiden Freunde waren unterwegs, um etwas zu tun, was sie vor zwei Jahren – ja, vor zwei Monaten und vielleicht auch vor einer Woche – noch nicht getan hätten; sie wollten ein Schwein stehlen. Und als sie darum Karten spielten, wer die grobe Arbeit dabei übernehmen sollte, hatte Barney verloren. Die Idee dazu entstammte einer alten Nummer der «Tribüne», die sie aufgetrieben hatten, während sie sich nach der Sprengung des Munitionsschiffes herumtrieben und es langweilig fanden, so ohne Zweck und Ziel die Landstraßen abzuklappern. Es handelte sich dabei um den Sattler Cosgrave, der in der «Tribüne» längere Zeit erfolgreich seine Lederkoppeln inseriert hatte, welches Inserat dann eines Nachts so fabelhafte Wirkung tat, daß das ganze Lager auf einen Schlag ausverkauft war, und zwar vollkommen bargeldlos. Es war nicht schwer, zu erraten, wer für diese Ausrüstungsgegenstände Verwendung gehabt hatte. Roddie machte sich anheischig, die meisten der Leute, die ihre Ausrüstung auf diese Art vervollständigt hatten, mit Namen und Adresse aufzählen zu können. Und er nahm es ihnen auch nicht weiter übel, weil es nach seiner Meinung nur recht und billig war, wenn auch die Zivilisten ihren Beitrag zur Rettung des Vaterlandes leisteten, für die er und Barney Leib und Leben aufs Spiel setzten, von ihrem Verzicht auf Wohlleben und jede Bequemlichkeit gar nicht zu reden. Übrigens stimmt es nicht ganz, daß sie jene Zeitungsnotiz «aufgetrieben» hätten. Sie waren nämlich dabei, in einer Scheune ein ziemlich formloses Frühstück zu sich zu nehmen, als Roddie nachdenklich sagte: «Das hier ist ein ungewöhnlich interessantes Stück Speck. Hör mal zu, Barney: beim Sattler Cosgrave haben sie eingebrochen und ihm die ganzen Lederkoppeln geklaut. Das steht hier auf dem Stück Speck!»

Nun stand es ja auf dem Speck nicht so deutlich gedruckt wie in der Tribüne, schon weil es Spiegelschrift war. Und daß es überhaupt dastand, kam von der Gewohnheit mancher Frauen, kalten Speck in Zeitungspapier zu wickeln und ihn durch ihre Kinder den Soldaten zu schicken, die sich wegen der Unruhe auf den Landstraßen versteckt halten mußten. Sie sprachen also über den Fall … und das nicht ohne Bitterkeit gegen das Volk, das, wenn der Krieg einmal gewonnen war, bestimmt beim Festmahl würde mithalten wollen, es fürs erste aber meistens der Armee selber überließ, für das Allernotwendigste zu sorgen. Während Barney entschieden dazu neigte, die Menschen zu nehmen, wie Gott sie geschaffen hatte, so war Verzichten Roddies Sache nicht. Ja, er verachtete Menschen, die sich aufs Verzichten einließen. Und Tiere auch. Ein Schwein, das nicht am Kampf der andern um den Platz an der Schüssel oder dem Trog teilnahm – solch ein kümmerliches Missionsferkel konnte man ebensogut gleich totschlagen. Da wurde doch nichts Gescheites draus. Sein Patriotismus war glühend und jugendlich, aber von anderer Art als der Barneys. Barney legte wie ein kluger Mann das Ohr auf die Erde und lauschte den Stimmen der Seher und Propheten und hatte Zeit; vor allem konnte er warten. Roddie aber war ein wandernder Flohzirkus, voll von Unruhe und Unternehmungslust, vor allem aber konnte er nicht warten. Wer bis auf den Grund von Roddies Seele vorgedrungen wäre, hätte entdeckt, daß seine Liebe zu Irland größtenteils Haß gegen England war, und daß er Barneys Freude über den hoffentlich nahen Frieden mit Mißtrauen betrachtete. Jedenfalls wollte er nicht für Niederlegung der Waffen stimmen, bevor sie etwas Besseres zu tun kriegten. Nein, nur nicht als Schwanz der vierten Kompanie heimkommen!

Die Zeitungsnotiz auf dem Speck gab Roddie den Vorschlag ein, sie könnten jetzt eigentlich mal im Namen der republikanischen Armee eine Bank plündern. Nicht zu eigennützigen Zwecken, sondern nur um sich besser ausstatten und so dem Volk und dem Vaterlande wirksamer dienen zu können. Dieser Vorschlag wurde unverzüglich guillotiniert. Barney pflegte Banken nur auf Befehl der obersten Heeresleitung zu plündern. Aus und Schluß! So kam es zu dem kläglichen Kompromiß, daß eine Sau auf dem Hof eines Großbauern gestohlen werden sollte, dem sich als schlimmstes Verbrechen nur nachsagen ließ, daß man nichts Empfehlendes von ihm wußte. Die Sau wurde, nachdem Barney ihr mit einem Riemen die Schnauze zugeschnallt hatte, an einem verschlissenen Strick rücklings aus dem Hof gezogen und auf einem Eselmarkt zwanzig Kilometer weiter im Land zusammen mit einem Esel verkitscht, den man unmittelbar vor dem betreffenden Ort auf der Straße getroffen hatte.

Das war die Einleitung zu weiteren Requisitionen ähnlicher Art. Das Gefährliche bei solcher moralischen Verwilderung kann unter anderm darin bestehen, daß man seinen Beichtvater lieber nicht damit behelligt. Der nächste Schritt ist dann vielleicht schon, daß man höhnisch von dieser ganzen Einrichtung zu sprechen anfängt. Und sind Katholiken erst einmal so weit, dann wird ihr Zustand bedenklich, und ihre Ruhe kriegt langsam ein Leck.

 

3

Wer sich von Rastlosigkeit gejagt in der Welt herumtreibt, dem folgt entweder Segen oder Unheil. «Zurück ins Glied!» kommandierte Barneys Schutzengel, und zu der Zeit, als die irischen Unterhändler in London den Waffenstillstand unterschrieben, war er wirklich zögernd zurückgekehrt. Woran es aber fehlte, war die Möglichkeit, nach Hause zu gehen; und doch wäre auf dem Hof seines Großvaters, des alten Peadar Phelan, genug zu tun gewesen: der Kohl hätte schon im Oktober ausgepflanzt werden sollen, und fast die ganze Herbstarbeit lag noch ungetan da. Aber er durfte sich nicht offen blicken lassen und fand sich so in der gleichen Lage wie ein Mann, dem beim Baden die Kleider gestohlen worden sind. Trotzdem wagte er sich eines Tages zu Bombay, dem indischen Soldaten, hinauf und traf ihn auch glücklich daheim. Er saß da und kaute an einer Proklamation, die er dem kleinen Jimmy Malone vorlesen wollte; denn den betrachtete er als eine Art Löschpapier, auf dem er alle seine noch nassen Brandreden abdrücken konnte.

«Wann, glaubst du, kriegen wir endlich Frieden, daß wir mit was Vernünftigem in Gang kommen?» fragte Barney, nachdem er sich aufs Bett gesetzt hatte.

Bombay blickte ihn über das Papier weg an und antwortete: «Wann du mit was Vernünftigem in Gang kommst, mußt du selber am besten wissen. Aber Frieden! Du wirst doch wohl selber nicht an einen Frieden in Irland glauben! Kennst du nicht die Geschichte deines Vaterlandes, alter Freund? Aufruhr, ewig nichts als Aufruhr! Lord Edward Fitzgerald 1798, Robert Emmet 1803, Meagher 1848, wo die Aufruhrepidemie die ganze Welt gepackt hatte … Wenn es eines schönen Tages nur noch einen einzigen Irländer auf der Welt gäbe, würde er einen Aufruhr gegen sich selbst anzetteln! Die Irländer müssen es der Welt erst noch beweisen, daß sie etwas anderes können als Aufruhr machen und Pferde züchten …»

«Das ist doch Quatsch, Bombay … es ist ja das erstemal in siebenhundert Jahren, daß wir uns einrichten können, wie wir wollen … Das erstemal, daß wir die Unabhängigkeit haben.»

«Weißt du denn, wo die Burschen hinsteuern?»

«Was für Burschen?»

«Unter Burschen versteh ich gewisse Leute, die sich's angewöhnt haben, sich in die grüne Fahne zu wickeln, genau so wie's Leute gibt, die ihre Lumpen hinter dem Kruzifix verstecken. Du weißt gut, wen ich meine. Es gibt Leute, die sich's angewöhnt haben, sich für bedeutende Wesen zu halten, denen die Nation ewig Dank und Ehrerbietung schuldet. Wenn du's nicht weißt, so kann ich dir sagen, daß man schon begonnen hat, Bitterkeit in ihre Herzen zu träufeln, so wie man dem Volk Pfeffer in die Augen streut. Solange sich einer die Last macht, sie zu führen, werden sie immer was finden, um damit unzufrieden zu sein. Darfst es mir glauben!»

«Aber das Volk hat den Krieg satt. Das Land von einem Ende zum andern will Frieden.»

Bombay stieß einen Pfiff aus. «Wenn du so naiv bist, kümmere ich mich lieber nicht mehr darum. Wieviel Prozent, meinst du, haben denn Krieg gegen England geführt? Wenn nur ein Prozent der Bevölkerung zu den Phrasen und dem richtigen erstklassigen patentierten Patriotismus mit Reißverschluß übergeht, braucht man das Land nicht mehr in Atem zu halten.» Bombay holte aus dem Schrank eine Flasche Sherry und zwei Gläser. «Wohlsein! – Auf Irlands Wohlsein! Und daß du mit gerettetem Hals aus der Geschichte rauskommst! – Du hast recht: sie wollen den Frieden. Sie haben es gründlich satt, sich herumzuschlagen und ihre Jungen in Kadaver verwandelt und ihre Höfe niedergebrannt zu sehen und nachts aus den Betten gerissen zu werden. Neunzig Prozent der Bevölkerung sind jetzt für Ruhe. Denn so geht es einfach nicht weiter. Das ganze Geschäftsleben ist ruiniert, wenn dieser Zustand noch ein halbes Jahr dauert. Es mag diesen gewissen Volkshelden und Nationalgötzen fein in den Kram passen, auf der faulen Haut zu liegen und im Land herumzuknallen … Aber nimm mal unsere Inserenten – sieh her!» Und er begann den Redakteur der «Tribüne» zu imitieren: «Sieh mal hier die Firma Mac Grath, die die besten artesischen Brunnen in Irland baut … Glaubst du, Mac Grath hat ein Interesse daran, daß jemand bei ihm arbeiten läßt, wo er nie mit Gewißheit sagen kann, daß nicht ein paar tapfere Krieger von der oder jener Farbe daherkommen und die Leute in ihre eigenen Brunnen werfen, bevor die überhaupt bezahlt sind? – Oder hier: Keogh u. Co., der alle Sorten gebrauchte Säcke kauft, sie aber nicht wieder loswerden kann, weil bei den Zeiten niemand was hat, was er in gebrauchte Säcke tun könnte. – Oder was meinst du zur Salt Co. G. m. b. H., Dublin, die treu, methodisch und gegen bar sich des Blattes bedient hat, um darin den Leuten den Kauf ihrer Erzeugnisse zu empfehlen und so ‹den Wohlstand Irlands zu fördern›. Oder um mit etwas Nebensächlichem zu schließen, das allerdings seinen tieferen Sinn hat: Das Fundbüro der Eisenbahnen, das seidene Schirme (portofrei!) für drei Schillinge über ganz Irland verschickt! Wie in aller Welt sollen denn heutzutage die Leute noch Gelegenheit haben, was zu vergessen!»

«Ja, das ist es doch grade, was ich gesagt hab!» warf Barney ein. «Das Volk will keinen Krieg mehr. Sobald der Vertrag unterschrieben ist, können wir drangehen, das Land aufzubauen und – zu vergessen. Wir sind Zehntausende die ungeduldig drauf warten, der Welt zu zeigen, was ein einiges Irland vermag, sobald wir die Möglichkeit haben, unbehindert zu arbeiten.»

«Volk ist eine Fiktion!» sagte Bombay. «Es glaubt nur, daß es existiert, und manchmal glaubt es, daß es regiert. Vor ein paar Wochen hab ich einen Mann hier draußen vor dem Haustor liegen sehen, er lag in den letzten Zügen, sie hatten ihm die Luftröhre durchgeschnitten. Keine Zeit, einen Geistlichen zu holen. Nun, ich murmle etwas, was ein Gebet vorstellen soll. Und weg ist er. Du weißt ebensogut wie ich, daß das ein gleichgültiger Einzelfall unter Hunderten ist, und daß in Wahrheit weder das englische noch das irische Volk so was wünscht. Trotzdem tun sie's. Das letzte Jahr hat im Land hier Leute großgezogen, die Witze machen, wenn sie andere Menschen in die Ewigkeit befördern, die aber dem Weinen nahe sind, wenn sie auch nur die geringste Munitionsverschwendung bemerken. Wünschen wir einen solchen Zustand, wenn man uns ernstlich fragt? Nein, keineswegs, aber wir wählen ihn immer wieder dadurch, daß wir keine Wahl treffen. Und du kannst mich beim Wort nehmen: in drei Monaten sitzen wir genau so in der Tinte wie jetzt, nur mit dem Unterschied, daß wir jetzt gegen die Engländer kämpfen, dann aber uns gegenseitig über den Haufen schießen.»

«Da mach ich nicht mehr mit!» sagte Barney fest.

«Das komische dabei ist, daß du recht hast. – Und trotzdem wirst du mitmachen. Es bleibt dir einfach keine Wahl. Dann heißt es nämlich: entweder für oder wider! Die Menschen sind größere Dummköpfe als Mister Burke, euer Dorftrottel drüben in Rotkreuz.»

«Wann du wohl mal genug hast?» sagte Barney verwundert. «Bis zum letzten Augenblick verkrachst du dich mit einem deiner Partner …»

«Ja, das ist mein Ende!» sagte Bombay. «Ist ja sowieso fast nichts mehr übrig von mir, vom Mannsbildstandpunkt betrachtet. Trotzdem bin ich auf eine Art stark. Ich bin so stark, daß mir noch in dreißig Jahren von der britischen Finanzhauptkasse wöchentlich ein kleiner Entgelt für die dem Imperium in Indien geleisteten Dienste überwiesen werden dürfte … Und mein Kopf ist stark … und wird anscheinend immer stärker und stärker, und die einzige Gefahr ist nur, daß ich eines Tags vor der ganzen Mitwelt losplatze. Und das tut nie gut. Komisch ist, daß es weit besser ist, ein bißchen nachzuhinken, als ein Stückchen vornedran zu sein. Oder vielleicht ist das gar nicht so komisch. Die Menschen lieben die Gleichheit und den Durchschnitt.»

 

4

Das ging Barney im Kopf herum, und als er auf die Straße hinunterkam, blieb er, ohne darüber nachzudenken, stehen, und hörte einer Drehorgel zu, die von einem jungen Burschen gespielt wurde, während ein Affe die Geldstücke für ihn aufsammelte. Es war nichts Ungewöhnliches an dem Tier, einem kleinen, flinken und scheuen Kerlchen, das sichtbarlich fror. Plötzlich entdeckte Barney, daß er dastand und das Tier bemitleidete, das erwartungsvoll zu ihm aufsah. Während er die Hand in die Tasche steckte, um ein Geldstück zu suchen, kam es ihm zu Bewußtsein, daß er beobachtet wurde, und zu seinem Schrecken bemerkte er, daß ein englischer Sergeant ihn prüfend betrachtete und dabei mit der Hand sein Kinn streichelte. Ohne mit einer Miene zu verraten, daß er etwas gemerkt hatte, drehte sich Barney langsam um und ging mit dem unbehaglichen Gefühl, daß der Sergeant ihm folgte, die Teetopfgasse hinauf. In seinem Taschenspiegel sah er den andern den Revolver ziehen und wußte nun, was die Glocke geschlagen hatte. Ohne sich einen Augenblick zu bedenken, schlüpfte er in eine offenstehende Tür, verschloß sie hinter sich und steckte den Schlüssel ein. Es war ein niedriges Haus mit dem üblichen von Betonmauern umgebenen Gärtchen dahinter, und er ging ruhig und ohne jemand zu begegnen durchs Haus, hinaus in den Garten. Hier stand eine junge Frau und hängte Wäsche zum Trocknen auf. Sie sah ihn überrascht an, als aber im gleichen Augenblick donnernde Schläge gegen das Haustor hörbar wurden, schien ihr ein Licht aufzugehen. Sie blickte ihn vorwurfsvoll an, doch er legte warnend den Finger auf den Mund und sagte: «Es tut mir leid, Ihnen Ungelegenheiten bereiten zu müssen, aber es geht um …» Er machte eine erklärende Kopfbewegung, und sie seufzte ergeben, während er auf die Mauer kletterte, die die Gärten der Teetopfgasse von denen der Parallelstraße trennte, und erst als er auf der Mauer glücklich bis in die Nähe des Marktes gekommen war, ging sie ins Haus, um dem Engländer zu erklären, daß sie keinen Schlüssel hätte.

Über den Markt und auf mancherlei Schleichwegen gelangte Barney zu Jimmy Malone hinauf, der ihn als lieben Gast willkommen hieß und ihm Tee und einen mit Nußkernen bestreuten Kuchen vorsetzte. Aber dies war eines der letzten Male, daß sich Barney wie ein Geächteter durch seine eigene Stadt schleichen mußte, denn bald darauf wurde der Waffenstillstand in London unterzeichnet, und kurze Zeit nach dem Friedensschluß wurde eine allgemeine Amnestie erlassen, die eine Menge verdächtige Leute wieder ans Tageslicht brachte. Doch noch bevor das geschah, überwand Barney seine Scheu und ging offen in der Stadt herum.

 

5

Vielleicht gibt es keine zehn Leute mehr, die einem genau darzulegen imstande sind, was in der Zeit von Anfang Dezember 1921 bis zum St. Patricktag 1922 in Irland vorging und unter der Oberfläche der gröberen Geschehnisse heranreifte.

«Mein Vaterland trauert …», sagte Pater Aloysius mit Nachdruck, als er während einer erregten Debatte in Jimmy Malones Atelier geradeheraus gefragt wurde, was jetzt wohl zu erwarten sei. Und es war nicht möglich, eine andere Antwort von dem liebenswerten Mönch zu bekommen. Es gab Geistliche genug, die in der Politik dieser Tage Partei nahmen – ja, es läßt sich nicht genau feststellen, auf welcher Seite sich die Mehrzahl von ihnen befand, doch glückte es einem Teil, das Feuer, was auch geschehen mochte, im eignen Innern zu bewahren.

«Mein Vaterland trauert …» Pater Aloysius' Augen waren so blank wie reife Brombeeren, seine Stimme hatte einen festen Klang, und seine Sache war es nicht, mit Linderung des Fegefeuers zu locken. Jeder wußte, was er meinte, und nicht einer war imstande, dem Ausdruck zu geben. Es waren nicht die sich ständig wiederholenden Gewalttaten, an die er dachte. Das war allen klar, denn diese waren ein besonderer Kummer des Landes. Daß Löwenmähne hundert Schritte von seinem Hof Brückenmühle elendiglich erschossen aufgefunden worden war – bedeutete das nicht ein Leid für sie alle! Zwei der kleinen Rotköpfe hatten ihn gefunden und unter großen Mühen heimgeschleppt, um niemand rufen zu müssen. Fort war er, dieser prächtige Mensch, und zahlreiche andre mit ihm. Ihres Vaterlandes Trauer? Noch war es wohl nur Angst, aber die Angst vor etwas Unabwendbarem, vor etwas, was noch schrecklicher als all das Schreckliche sein würde, das sie in diesen Jahren des Kampfes gegen den anmaßenden Unterdrücker durchlebt hatten. Die Zeitungen wollten ihnen erzählen, daß ihrer Generation die große Freude widerfahren sei, mit eigenen Augen das verheißene Land zu sehen, nach dem sich ihr Volk jahrhundertelang gesehnt hatte, daß sie unmittelbar davorstünden, die grün-weiß-orange Trikolore als verehrtes Sinnbild unangetastet dem Volke Erins voranflattern zu sehen, und daß man nun richtig darangehen könnte, die Reste der sterbenden gälischen Sprache zu sammeln und ihr neues Leben zu geben. Aber was die Zeitungen nicht aussprachen, das las man in einigen von ihnen zwischen den Zeilen. Sie riefen so laut nach der großen Hoffnung, an die man sich halten müsse, erinnerten so laut an das Gewaltige, das erreicht war, an Brüderschaft und das Gelübde gemeinsamer Arbeit zum Aufbau des Vaterlandes, daß kalte Angst jedem ins Herz kroch, dem Mord und Gewalttat nicht zum Beruf geworden war.

Ein Land stöhnte in qualvollem Warten.

Ein zusammengebrochenes Pferd sollte wieder eingeschirrt werden, das die Ruhe bitterer nötig als irgendein andres hatte, um im Stall seine Wunden zu heilen.


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